Hochhaussykline von Mumbai mit vielen hohen Wohngebäuden, verstreut über die Stadt; sonniges Wetter, Ansicht von Anhöhe oder hohem Gebäude aus
Mumbai in Indien. Was die Spitze des Bevölkerungstreppchens betrifft, müssen wir umdenken. Was Bevölkerungsprognosen betrifft, möglicherweise auch. Bildrechte: imago/agefotostock

Indien ist bevölkerungsreichstes Land Ciao, China: Wie wir das weltweite Bevölkerungswachstum neu denken müssen

16. April 2023, 05:00 Uhr

China war quasi schon immer das bevölkerungsreichste Land der Welt – jetzt ist es Indien, sagt die UN. Stimmt das? Bleibt das so? Und: Was heißt das für unsere Zukunft?

  • Indien hat China rein rechnerisch als bevölkerungsreichstes Land der Erde überholt
  • Die Weltbevölkerung basiert auf Schätzungen, für künftige Prognosen könnten andere Faktoren notwendig sein als bisher
  • Hohe CO2-Emissionen stehen in keinem direkten Zusammenhang zur Bevölkerungszahl – Indien ist hier trotzdem ein Schlüsselstaat


Wie es ist, wenn man sich plötzlich auf dem Seitenstreifen anstatt der Überholspur befindet, durfte Deutschland erst in den vergangenen Jahren erleben. 2019 noch auf Platz 16 – mit stattlichen 83 Millionen das bevölkerungsreichste Land des vereinigten Europas. Seit 2021 sind aber die Türkei, der Kongo (DR) und der Iran an uns vorbeigezogen. Immerhin noch in den Top 20. Ach und überhaupt, hohe Bevölkerungszahlen sind nicht alles, wie uns die Gegenwart lehrt.

Trotzdem, keine Frage: Menschenmassen demonstrieren Macht, oder zumindest Relevanz. Beim mitteldeutschen Bevölkerungswettlauf gab es noch vor etwas mehr als zehn Jahren ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Dresden und Leipzig, das Leipzig inzwischen deutlich für sich entschieden hat. Ob das die Hauptstädterinnen bereits verwunden haben und es den Messestädtern zu Kopf gestiegen ist – wer weiß das schon so genau. Inzwischen darf die 620.000-Menschen-Stadt zumindest mit Düsseldorf und Stuttgart wetteifern – und sich mit den Problemchen einer schnell wachsenden Stadt herumschlagen.

Ab jetzt ist alles anders: Indien zieht vorbei

Und so hat man in China in diesen Tagen wahrscheinlich ein lachendes und ein weinendes Auge: Seit Freitag, 14. April, ist (rein rechnerisch) Indien dem Reich der Mitte eine kleine Nasenlänge voraus und darf sich als größtes Land der Erde hinsichtlich Bevölkerungsstand bezeichnen. Jeweils 1,4 Milliarden Menschen leben in den beiden Staaten, zusammen machen sie nicht ganz ein Drittel der Weltbevölkerung aus. Danach kommt lange nix und irgendwann die Vereinigten Staaten mit 330.000.000 Menschen. Wäre die Europäische Union ein Land, läge sie im Übrigen vor den USA auf Platz 3 mit fast 450.000.000. Auf den nachfolgenden Rängen: Indonesien, Pakistan und Nigeria. Nigeria merken wir uns.

Schon den Römern war das Chinesische Kaiserreich bevölkerungstechnisch überlegen. Aus Sicht Chinas dürfte sich an dieser Weltordnung auch noch nichts geändert haben – zumindest, wenn man die Sonderverwaltungszonen wie Hongkong und umstrittene Territorien wie die Republik China (Taiwan) hinzuzählt. Das hilft aber nicht mal kurzfristig, die oberste Position auf dem Bevölkerungstreppchen zu verteidigen. Dass das Land in seinem hohen Bevölkerungsstand schon in der Vergangenheit nicht nur Vorteile sah, wird anhand der Ein-Kind-Politik der Achtziger- und Neunzigerjahre deutlich. Aus Sorge vor einer überalternden Gesellschaft ist daraus inzwischen eine Drei-Kind-Politik geworden. Die reellen Zahlen lagen ohnehin bei deutlich mehr als einem Kind pro Frau.

Zu alt: Nicht so gut, zu viele: nicht so gut

Das Problem mit der überalternden Gesellschaft und schrumpfenden Bevölkerungsständen ist im globalen Norden längst auf der Tagesordnung, Deutschland hat durch die hohen Migrationszahlen des vergangenen Jahrzehnts immerhin noch mal sowas wie eine Schonfrist bekommen. Global betrachtet läuft das anders: Erst vergangenen November wurden wir acht Milliarden, das gab's noch nie. Keine Zahl zum Feiern, die Überbevölkerung zeigt sich auch im drohenden Kollaps des Planeten. Und so ist es ebenfalls als Schonfrist zu verstehen, dass die Menschen in den bevölkerungsreichsten Regionen der Welt keinen Lebensstil auffahren wie jene im globalen Norden – zumindest noch nicht. Deutschland ist auf Platz sieben der Staaten mit dem höchsten CO2-Ausstoß. Nach UN-Schätzungen ist die Weltbevölkerung im vergangenen Jahr jedes Jahr um die Größe Deutschlands gewachsen. Es braucht keine zehn Finger, um abzuzählen, was das bedeuten würde, wenn die sich alle so benehmen würden – benehmen könnten – wie wir .

Im Falle Indiens heißt das: "Auch wenn die Pro-Kopf-CO2-Emissionen immer noch weit hinter denen der EU zurückliegen, wird ohne Maßnahmen in und durch Indien ein globaler, gefährlicher Klimawandel nicht abzuwenden sein", sagt Miriam Prys-Hansen vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg. "In anderen Worten: Ohne Indien können die Ziele des Pariser Klimaabkommens global nicht eingehalten werden."

Wie zählen wir die Menschen denn jetzt?

Schon allein vor diesem Hintergrund wäre es durchaus praktisch, den genauen Bevölkerungsstand gegen Ende dieses Jahrhunderts schon jetzt parat zu haben. Aber so einfach ist das nicht. Wir wissen nicht mal, wie viele Menschen genau jetzt genau wo leben (was die Nasenlänge Indiens gegenüber China auch wieder relativieren dürfte). Für Deutschland passt es einigermaßen: Es besteht eine Meldepflicht, Melderegister werden zeitweise bereinigt und der Zensus – wir warten ja schon ganz hibbelig auf die Daten der Volkszählung 2022 – ist sowas wie das Korrektiv, um die Zahlen alle paar Jahre auf eine adäquate Linie zu bringen.

Mumbai: Slum-ähnliche Siedlung im Vordergrund, Skyline im Hintergrund, an Wasser gelegen, bewölkter Himmel
In Indien hat das Pro-Kopf-BIP stark zugelegt, die Armut bleibt aber. Bildrechte: imago/Panthermedia

Das sind schon ziemlich gute Möglichkeiten, die uns helfen, mit großer Sicherheit zu sagen, dass in Deutschland gut 83 Millionen leben, mehr als dreieinhalb davon in der Hauptstadt. Und kaum ein Zweifel besteht auch an den 600 Menschen, die einen Pass des Vatikan ihr Eigen nennen dürfen – des bevölkerungsärmsten Landes der Welt, im Übrigen. In anderen Regionen der Erde beläuft sich die Bevölkerungszahl auf Schätzungen. Und die Prognosen sind im Grunde auch nichts anderes, Modellrechnungen, möglichst nah an der Realität aber nicht zwangsläufig ebendie. Wenn schon der aktuelle Bevölkerungsstand mit Unsicherheiten verbunden ist, dann kann es auch die Prognose nur sein.

Prognosen neu denken

In die Prognosen der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen fließen verschiedene Annahmen ein, dazu gehören die künftige Entwicklung der Lebenserwartung und die der Geburtenrate. Klar, dass sich unter diesen Voraussetzungen niemand auf eine feste Vorhersage einlassen möchte, auch die UN nicht. Aus diesem Grund arbeitete sie mit drei verschiedenen Szenarien, die eine unterschiedliche Entwicklung der Geburtenrate berücksichtigen. Der 14. April 2023, der Tag, an dem Indien China überholte, ist also nichts anderes als ein Mittelwert, einmal durchgerechnet mit den Prognosen des Jahres 2023. Vielleicht leben jetzt gerade eben noch weniger Menschen in Indien als in China, vielleicht ist es andersrum. Nachzählen ist nicht, aber so viel steht fest: Irgendwann in dieser Zeit war oder ist es soweit.

Die UN sind mit ihren Prognosen nicht allein (und auch nicht alleingültig). Das Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital berücksichtigt beim Bevölkerungsausblick zum Beispiel auch die sozioökonomische Entwicklung, zum Beispiel mit Annahmen zur Entwicklung der Bildung eines Landes. In einem Szenario, in dem die sozioökonomische Entwicklung schnell vonstattengeht, ist mit einer steigenden Lebenserwartung zu rechnen. Gleichzeitig aber auch mit stark sinkenden Geburtenraten, und zwar in Ländern mit eigentlich hohen Raten.

China wird Platz 1 kaum zurückerobern …

Die Prognosen können dabei erheblich auseinanderdriften. Der zurückhaltende der drei UN-Läufe sagt für 2100 eine indische Bevölkerung von einer Milliarde voraus. Der Lauf mit dem höchsten Wachstum und die Wittgenstein-Prognose mit der niedrigsten soziökonomischen Entwicklung pendeln sich bei zwei Milliarden ein. China scheint indes am Höhepunkt des Bevölkerungswachstums angekommen zu sein, für das Land wird ein stetiger Rückgang prognostiziert.

Grafik zeigt verschiedene Szenarien der Modelle von UN und Wittgenstein zur Bevölkerung in China und Indien. In der Gegenwart überholt Indien China, danach nimmt die Bevölkerung Chinas ab. Indiens Bevölkerung wächst weiter unterschiedlich stark oder nimmt ab 2060er wieder ab.
Bildrechte: MDR WISSEN

In China sank das Bevölkerungswachstum in der Vergangenheit schneller als erwartet – was bei einem derart großen Land auch Auswirkungen auf die Prognose der Weltbevölkerung hat – deren Wachstum wurde überschätzt. Mittlerweile gehen die UN davon aus, dass mit 9,7 Milliarden Menschen der höchste Wert im Jahr 2064 erreicht sein wird. Es lohnt sich aber, bei den Vorhersagen (und auch den möglichen Konsequenzen einer weiteren Bevölkerungszunahme) verschiedene Modelle ins Boot zu holen. Ein neues kommt von der Initiative Earth4All, die sich für ein Umdenken bei der Weltwirtschaft einsetzt. Bei ihrer Bevölkerungsprognose würde die Bedeutung von Wirtschaftswachstum und damit einhergehender sinkender Geburtenrade stärker berücksichtigt als in anderen Prognosen. Vor Kurzem überraschte die Initiative dann mit Daten, die einen Höhepunkt des Bevölkerungsstandes bereits im Jahr 2040 sehen – bei 8,5 Milliarden sei dann Schluss. Bis 2100 würde die Weltbevölkerung wieder auf sechs Milliarden zurückgehen. Voraussetzung für diese Annehmlichkeit wären hohe Investitionen in Bildung und Gesundheit in Ländern des globalen Südens. Aber auch bei der aktuellen Entwicklung sei ein Höhepunkt mit 8,6 Milliarden im Jahr 2050 erreicht und ein Rückgang auf sieben Milliarden bis 2100.

… und vielleicht auf Platz 3 landen

Eine überbevölkerte Welt ist also nur teilweise in Stein gemeißelt und die Bevölkerungsentwicklung stark an Wohlstand gekoppelt. In dieser Hinsicht wird sich unser Blick in den kommen Jahrzehnten immer weiter vom Süden und Osten Asiens hin nach Afrika verschieben, besonders in dessen Mitte. Über 200 Millionen Menschen leben in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land des Kontinents. Sind natürlich Schätzungen. UN-Prognosen erwarten einen Anstieg auf über 350 Millionen bis zur Mitte des Jahrhunderts. Zur nächsten Jahrhundertwende könnten in Nigeria dann 800 Millionen Menschen leben, was es zum Land mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl nach Indien machen würde. Bis dahin würden hingegen unsere europäischen Nachbarn in Italien, Spanien und Polen die Hälfte ihrer Einwohnenden verlieren.

Großstadt Tianjin in Dämmerung mit Abendsonne und glänzenden Hochhausfassaden an Fluss
China steht mittlerweile für so viele glänzende Hochhausfassaden, dass man sie gar nicht mehr auf dem Schirm haben kann. Schon mal was von Tianjin gehört? Eine direkt der Regierung unterstellte Millionen- und Hafenstadt. China ist so groß, dass es hier für westliche Augen zahlreiche "unentdeckte" Metropolen gibt. Bildrechte: imago/Wirestock

Fragt sich nur, was das für die größte globale Herausforderung überhaupt bedeutet – die Bewältigung des Klimawandels. Wir haben oben bereits geklärt, dass Deutschland trotz der kuscheligen 83 Milliönchen und Platz 19 in der Bevölkerungstabelle für gut zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes im Jahr 2021 verantwortlich war – Platz sieben. China führt allerdings deutlich mit 31 Prozent. Auf Indien entfallen hingegen nur 7,3 Prozent.

Mehr Menschen muss nicht mehr Emissionen heißen

In welchem Zusammenhang Bevölkerungswachstum und Treibhausgasemissionen stehen, lässt sich mit der sogenannten Kaya-Identität veranschaulichen, einem Konzept aus der Energieökonomie. Im Grunde ist es eine Gleichung, in der sich Faktoren wie Bruttoinlandsprodukt (BIP), CO2-Ausstoß, Energieintensität der Wirtschaft und Kohlenstoffintensität der Energie einbauen lassen. Sie zeigt zum Beispiel, dass der CO2-Ausstoß in China analog zum Pro-Kopf-BIP zunächst stark gewachsen ist, seit 2010 aber relativ gleichbleibt, während das BIP weiter wächst – unabhängig von der Bevölkerung. In Indien wachsen nach wie vor CO2-Emissionen analog zum Pro-Kopf-BIP. Anders als in China ist die Bevölkerungszunahme hier stärker und die Energie kohlenstoffintensiver. Und in Deutschland wachsen BIP und Bevölkerung weiterhin, während die Emissionen sinken – alles in kleinerem Maßstab natürlich.

Welchen Weg Indien einschlagen wird, ist also noch unklar – allein die hohe Bevölkerungszahl für hohe Emissionswerte verantwortlich zu machen, aber schon jetzt unzureichend. Miriam Prys-Hansen vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien bescheinigt Indien einen guten Weg, im vergangenen Jahr stammte der Zuwachs der Stromproduktion zu über neunzig Prozent aus Wind- und Sonnenkraft. Dennoch: Seine Ausbauziele für Erneuerbare Energien bis 2022 hat das Land verfehlt. Die Kohlekraftwerke sind noch jung, ihre vorzeitige Abschaltung auch eine finanzielle Herausforderung. Trotzdem ist die neue Nummer eins auf dem Bevölkerungstreppchen ein Hoffnungsträger: "Indien versteht sich selbst als Vorbild und Führungsnation, vor allem im Zusammenhang der Zusammenarbeit innerhalb des globalen Südens", erklärt Prys-Hansen. "Das Land kann allein durch die schiere Größe seines Binnenmarkts neue technologische Standards, aber auch Preise für bestehende klimafreundliche Techniken positiv beeinflussen. Das wiederum kann anderen Entwicklungsländern bei der Umsetzung ihrer Klimaziele helfen." Auch das könnte so eine Überholspur mit sich bringen.

mit SMC