Höhepunkt weltweit im Jahr 2064 erreicht Bevölkerungsprognose 2100: Deutschland schrumpft auf 66 Millionen
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15. Juli 2020, 00:30 Uhr
Die Weltbevölkerung soll in der Mitte dieses Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichen und dann sinken. Das geht aus einer aktuellen Projektion von US-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hervor. In Ländern wie Spanien oder Italien könnten im Jahr 2100 nur noch etwa halb so viele Menschen leben wie heute. Andere Weltregionen dürften dagegen deutlich zulegen. Das wird auch die globalen Machtverhältnisse verschieben, schlussfolgern die Forschenden.
Die Prognose der Forschenden aus den USA klingt erst einmal ungewöhnlich: Die Weltbevölkerung wird sinken. Aber sprechen wir nicht seit Jahren global gesehen von steigenden Zahlen? Ja, aber das ist zu kurz gedacht, heißt es. Denn Mitte unseres Jahrhunderts wird die Weltbevölkerung der Studie zufolge ihren Höchststand erreichen. Danach werde sie sinken und das wiederum sorge für erhebliche Verschiebungen in den globalen Machtverhältnissen und der Wirtschaftskraft. Die Analyse der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der School of Medicine der University of Washington ist im Fachmagazin The Lancet erschienen. Sie prognostiziert die Entwicklung von Bevölkerung, Sterblichkeit, Fruchtbarkeit und Migration für 195 Länder weltweit.
Höhepunkt im Jahr 2064 erreicht
Global betrachtet wird die Bevölkerungszahl der Analyse zufolge bis zur Mitte unseres Jahrhunderts steigen. Im Jahr 2064 werde sie voraussichtlich mit rund 9,7 Milliarden Menschen auf der Welt ihren Höhepunkt erreichen. Auf nationaler Ebene sei das in einigen Ländern schon früher der Fall. Für Deutschland prognostiziert das Team das Bevölkerungsmaximum auf rund 85 Millionen Menschen im Jahr 2035. Weltweit werde die Zahl ab der Mitte des Jahrhunderts wieder sinken und bis zum Jahr 2100 auf rund 8,8 Milliarden Menschen zurückgehen. Das seien etwa zwei Milliarden Menschen weniger als einige frühere Schätzungen nahe gelegt hatten. In 23 Ländern, darunter Japan, Thailand, Italien und Spanien, schrumpfe die Bevölkerung sogar um mehr als die Hälfte.
Als Grund für diesen Rückgang gibt das Forschungsteam zum einen den sich verbessernden Zugang zu moderner Empfängnisverhütung in bisher unterversorgten Teilen der Welt an und zum anderen Fortschritte bei der Bildung von Mädchen und Frauen. Das führe zu einem anhaltenden Rückgang der Geburtenraten. Im Jahr 2100 werden der neurartigen Analyse zufolge 183 von 195 Ländern eine Fertilitätsrate von weniger als 2,1 Geburten pro Frau haben - also der Rate, die es bräuchte, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Ohne Einwanderung, schrumpft also die Bevölkerung dieser Länder.
Fertilitätsrate
Die Fertilitätsrate oder auch Zusammengefasste Geburtenziffer (Total Fertility Rate - TFR) ist ein in der Demografie verwendetes Maß, das angibt, wie viele Kinder eine Frau durchschnittlich im Laufe des Lebens hätte, wenn die zu einem einheitlichen Zeitpunkt ermittelten altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern für den gesamten Zeitraum ihrer fruchtbaren Lebensphase gelten würden.
Global gesehen wird die Fertilitätsrate voraussichtlich von 2,37 im Jahr 2017 auf 1,66 im Jahr 2100 sinken und damit weiter unter dem Mindestsatz von 2,1 liegen. Besonders niedrig würden die Raten mit 1,2 in Spanien und Italien sowie nur 1,17 in Polen sein. Das klinge nicht nach viel, wirke sich aber erheblich aus. Eine Erhöhung der Rate um nur 0,1 Geburten pro Frau entspreche etwa 500 Millionen mehr Menschen auf dem Planeten im Jahr 2100.
Doch den Großteil der erwarteten Rückgänge in der Fertilitätsrate erwartet das Team für Länder mit hoher Fruchtbarkeit - insbesondere südlich der Sahara. In Nigeria etwa war die Geburtenrate 2017 die höchste der Welt mit 7 Geburten pro Frau. Bis 2100 werde sie voraussichtlich auf 1,8 Geburten pro Frau sinken. Trotzdem erwarten die Forschenden, dass sich die Bevölkerung Afrikas südlich der Sahara im Laufe des Jahrhunderts verdreifacht: Von geschätzten 1,03 Milliarden auf 3,07 Milliarden im Jahr 2100. Grund dafür seien sinkende Sterblichkeitsraten und mehr Frauen, die das gebährfähige Alter erreichten.
Lediglich in zwei weiteren Regionen der Welt prognostiziert die Studie für 2100 eine größere Bevölkerung als 2017: Nordafrika und der Nahe Osten. Viele der am schnellsten schrumpfenden Bevölkerungsgruppen werden in Asien sowie in Mittel- und Osteuropa leben. Sogar China wird demnach seine Bevölkerungszahl bis 2100 fast halbieren - genauso wie Südkorea, Japan und Thailand.
Südeuropa schrumpft - Deutschland weniger stark betroffen
Stimmt die Prognose des US-Forschungsteams, dann wird Europa erhebliche Verluste zu verzeichnen haben. Insbesondere im Süden: Die Bevölkerung Italiens und Spaniens werde sich im Laufe des Jahrhunderts voraussichtlich halbieren - von 61 Millionen Menschen im Jahr 2017 auf 30,5 Millionen im Jahr 2100 in Italien und von 46 Millionen im Jahr 2017 auf 23 Millionen im Jahr 2100 in Spanien. Dadurch würden die beiden Länder auch in der Rangliste der größten Weltwirtschaften abrutschen - Italien von Platz neun auf Platz 25 und Spanien von Rang 13 auf Platz 28 im Jahr 2100. Und auch in Portugal sieht es kaum besser aus.
In Großbritannien, Deutschland und Frankreich sieht die Lage dagegen etwas stabiler aus. Sie werden bis zur Jahrhundertwende voraussichtlich auch unter den Top 10 des weltweit größten Bruttoinlandsprodukts bleiben. Doch auch in Deutschland wird die Bevölkerungszahl ab 2035 voraussichtlich sinken - von 83 Millionen Menschen im Jahr 2017 auf nur noch 66 Millionen im Jahr 2100. Die Fertilitätsrate sinke in demselben Zeitraum von 1,39 Kinder pro Frau auf 1,35 Kinder.
Immer mehr alte Menschen
Die Forschenden betonen, dass ihre Prognose insbesondere die Herausforderungen für die Wirtschaft und Gesundheits- und Sozialsysteme aufzeige.
Denn die Menschen würden nicht nur weniger, sondern vor allem auch immer älter - während vielerorts eben wenig junge Menschen in arbeitsfähigem Alter nachkämen. Einen wirtschaftlichen Vorteil habe dann also, wer mehr junge Menschen im Land habe.
Im Jahr 2100 wird es geschätzte 2,37 Milliarden Menschen über 65 Jahre geben, prognostiziert die Studie. Dem gegenüber stünden nur 1,7 Milliarden Menschen unter 20 Jahren. Deshalb müssten Länder mit deutlich rückläufiger Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter notwendigerweise auf eine liberale Einwanderungspolitik setzen, so die Forschenden.
Das kontinuierliche Wachstum der Weltbevölkerung über das Jahrhundert hinweg ist nicht mehr der wahrscheinlichste Weg für die Weltbevölkerung.
Die Studie biete Regierungen aller Länder die Möglichkeit, ihre Politik in Bezug auf Migration, Arbeitskräfte und wirtschaftliche Entwicklung zu überdenken, um die Herausforderungen des demografischen Wandels anzugehen, so Murray weiter. Und auch Erstautor Prof. Stein Emil Vollset betont, dass es erhebliche gesellschaftliche, wirtschaftliche und geopolitische Auswirkungen geben werde.
Insbesondere deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass allein der Rückgang der Zahl der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter die BIP-Wachstumsraten verringern wird, was zu erheblichen Verschiebungen der globalen Wirtschaftskraft bis zum Ende des Jahrhunderts führen könnte.
Die Rechnung ist eigentlich ziemlich einfach: Sinkt die Geburtenrate und steigt gleichzeitig die Lebenserwartung, gibt es sehr viel mehr alte Menschen. Der Prognose zufolge wird die Zahl der Kinder unter fünf Jahren voraussichtlich von 681 Millionen im Jahr 2017 um 41 Prozent auf 401 Millionen im Jahr 2100 sinken, während sich die Zahl der über 80-Jährigen voraussichtlich versechsfachen wird - von 141 Millionen auf 866 Millionen.
Während der Bevölkerungsrückgang potenziell eine gute Nachricht für die Reduzierung der CO2-Emissionen und die Belastung der Lebensmittelsysteme ist, mit mehr alten und weniger jungen Menschen, werden sich wirtschaftliche Herausforderungen ergeben, wenn Gesellschaften mit weniger Arbeitnehmern und Steuerzahlern um ihr Wachstum kämpfen.
Und dadurch, ergänzt Vollset, haben die Länder weniger finanzielle Mittel zur Verfügung für die soziale Versorgung und die Gesundheitsversorgung der älteren Menschen.
Neue Machtverhältnisse in der Wirtschaft
In ihrer Analyse untersuchten die Forschenden auch, welche Folgen die Bevölkerungsentwicklung für die Wirtschaft haben würde. Denn unter anderem in Ländern wie Indien und China wird ein dramatischer Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter prognostiziert, der das Wirtschaftswachstum behindern und zu Verschiebungen der Weltmächte führen werde. Das werde dazu führen, dass China zwar zwischenzeitlich zur größten Wirtschaftsmacht aufsteigen könne, den Spitzenplatz aber bis 2098 an die USA zurückgeben müsse - zumindest in dem Fall, dass die USA Zuwanderung zulassen. Indien dagegen wird trotz Rückgang der Zahl der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter bis 2100 Platz drei hinter China belegen.
Eine zunehmend größere Rolle auf der geopolitischen Bühne dürften dagegen die afrikanischen Länder südlich der Sahara spielen, sodass Afrika zu einem mächtigeren Kontinent werden dürfte, so die Forschenden. Allein Nigeria werde voraussichtlich das einzige Land unter den zehn bevölkerungsreichsten der Welt sein, in dem die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter im Laufe des Jahrhunderts wächst - von 86 Millionen im Jahr 2017 auf 458 Millionen im Jahr 2100. Das sorge wiederum für ein schnelles Wirtschftswachstum. Die Forschenden rechnen damit, dass Nigeria bis zum Ende des Jahrhunderts auf Platz neun der wirtschaftsstärksten Nationen vorrücken kann.
Migration als Schlüssel zur Lösung
Wie sollen die westlichen Industriestaaten also auf diese Entwicklung reagieren? Den Forschenden zufolge lautet die Antwort: Migration. Eine liberale Einwanderungspolitik könne dazu beitragen, die Bevölkerungsgröße und das Wirtschaftswachstum auch bei sinkender Geburtenrate aufrechtzuerhalten.
Der Prognose der US-Forschenden zufolge könnten einige Länder - darunter die USA, Australien und Kanada, ihre Bevökerung im erwerbsfähigen Alter durch Nettozuwanderung stabil halten. Jedoch gebe es da erhebliche Unsicherheiten, heißt es weiter.
Für Länder mit hohem Einkommen mit Fertilitätsraten unter dem Erhaltungssatz sind offene Einwanderungs- und Sozialpolitiken die besten Lösungen für die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Bevölkerungsniveaus, des Wirtschaftswachstums und der geopolitischen Sicherheit.
Diese Länder müssten Familien dabei unterstützen, dass sie ihre gewünschte Anzahl an Kindern auch auf jeden Fall bekommen könnten, ergänzt Murray. Aber auf keinen Fall dürfe die Situation negative Auswirkungen auf Frauenrechte haben. Es bestehe die Gefahr, so Murray, "dass einige Länder angesichts des Bevölkerungsrückgangs Maßnahmen in Betracht ziehen, die den Zugang zu reproduktiven Gesundheitsdiensten einschränken und möglicherweise verheerende Folgen haben." Die Reaktion auf den Bevölkerungsrückgang dürfe also nicht sein, die Fortschritte bei den reproduktiven Rechten und der Freiheit von Frauen weltweit anzugreifen.
Es ist unbedingt erforderlich, dass die Freiheit und die Rechte von Frauen ganz oben auf der Entwicklungsagenda jeder Regierung stehen.
Die Bevölkerungsentwicklung stellt die Welt in diesem Jahrhundert vor eine große Herausforderung. Migration werde für viele Länder keine Option mehr sein, sondern eine schlichte Notwendigkeit. Wer dagegen Menschen im erwerbsfähigen Alter im Land hat, wird mächtiger werden. Wie diese Menschen global verteilt würden, sei die große Frage.
Das 21. Jahrhundert wird eine Revolution in der Geschichte unserer menschlichen Zivilisation erleben. Afrika und die arabische Welt werden unsere Zukunft gestalten, während Europa und Asien in ihrem Einfluss zurücktreten werden. Bis zum Ende des Jahrhunderts wird die Welt multipolar sein, wobei Indien, Nigeria, China und die USA die dominierenden Mächte sind. Dies wird wirklich eine neue Welt sein, auf die wir uns heute vorbereiten sollten.
(kie)
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