Der Redakteur | 20.04.2023 Welche Gefahren lauern gerade in der Dämmerung?
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20. April 2023, 19:00 Uhr
Bernd Richter aus Erfurt: Könnt ihr nicht noch einmal aufklären. Ich habe das Gefühl, viele Leute sind sich der Gefahren gar nicht bewusst, die derzeit gerade in der Dämmerung lauern. Sie brettern mit Hundert und mehr über die Landstraße, wenn da ein Hirsch auf die Straße tritt, haben beide keine Überlebenschance!
Wie können Wildunfälle vermieden werden? Und was tun, wenn es doch passiert ist?
Alle zweieinhalb Minuten passiert in Deutschland ein Wildunfall mit großen Säugetieren. Das heißt: Reh, Hirsch und Wildschwein. Das ist die offizielle Zahl. Die Dunkelziffer ist jedoch fünfmal so hoch, so die Erkenntnisse des Deutschen Jagdverbandes, der gemeinsam mit Wissenschaftlern versucht, Unfallschwerpunkte zu ermitteln. Dafür wurde das Tierfund-Kataster eingerichtet, das mit Hilfe einer App bzw. Website Meldungen über tote Tiere am Straßenrand sammelt, um daraus Schutzmaßnahmen abzuleiten für Mensch und Tier. Hier kann und sollte jeder mitmachen, der Beobachtungen gemacht hat.
Am Ende geht es um die Situation an ganz konkreten Stellen, wie sich dort Unfälle vermeiden lassen, um menschliches und tierisches Leid zu mindern. Grünbrücken, Wildzäune, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Beschilderung - das können am Ende Maßnahmen sein.
Auch ist es möglich, die Bepflanzung anzupassen. Viele Büsche und Gräser an den Straßen schmecken auch Rehen. Es gibt aber auch Sorten mit Bitterstoffen, die die Tiere nicht mögen. Auch für die Früherkennung von Seuchen ist es wichtig, zu wissen, wo tote Tiere liegen. Mit dem Kataster werden Abläufe beschleunigt, vereinfacht und auswertbar gebündelt.
Wie erkenne ich die Gefahr frühzeitig?
Wir sparen uns die bekannte Belehrung mit der Geschwindigkeit. Die Wildwechselschilder sind kein schmückendes Beiwerk, sondern eine zusätzliche Mahnung, vielleicht doch die 100 nicht komplett auszureizen. Das gibt Mensch und Tier mehr Zeit, um zu reagieren.
Bekannt ist auch, dass Tiere gern im Schutz der Dämmerung unterwegs sind bzw. in den drei Stunden drum herum. Schwerpunkt: abwechslungsreiche Landschaft. Hier der Wald, dort das Feld. Die Straße durchschneidet ungefragt den Lebensraum der Tiere. "Wildtiere nutzen den Wald als Schlafzimmer und die Wiese bzw. das Feld als Esszimmer und der Mensch baut dazwischen einfach eine Straße." erklärt Torsten Reinwald.
Jetzt sind wir im Bild, das wir noch schärfen können. Wildtiere tafeln auch gern gemeinsam, das heißt wenn ein Tier die Straße überquert hat oder am Straßenrand steht, sind meistens weitere in der Nähe. Auch Jungtiere, die der Mutter folgen. Oft verharren die Tiere kurz am Waldrand, sichern und "scannen" das Umfeld nach Gefahren - mit allen Sinnen. Das Auto gehört nicht zu den erkennbaren Gefahren, es verhält sich auch untypisch, ist viel zu schnell unterwegs. Hinzu kommt die oft unterschätze Gefahr, die vom Fernlicht ausgeht.
Das Aufprallgewicht ist vergleichbar mit einem 5-Tonnen-Elefanten, der sich auf die Motorhaube setzt.
Abblenden, Bremsen, draufhalten, Hupen!
Das Draufhalten klingt zunächst brutal, ist aber in der Regel alternativlos. Doch der Reihe nach. Ganz wichtig ist das Abblenden. Torsten Reinwald beschreibt die Wirkung des Fernlichts auf die Tiere so, als würde uns jemand vorn ins Nachsichtgerät reinleuchten. Die Tiere sind geblendet und orientierungslos. Deshalb bleiben sie auch oft stehen und das mitten auf der Straße.
Wenn das ein Hirsch ist, wird es lebensgefährlich. Hirsche wiegen zwischen 120 und 180 kg. Mit diesem Gewicht werden sie schon bei Fahrtempo 60 zum Elefanten. "Das Aufprallgewicht ist vergleichbar mit einem 5-Tonnen-Elefanten, der sich auf die Motorhaube setzt." so Torsten Reinwald.
Das Problem ist aber: Der Hirsch landet wegen seines hohen Schwerpunkts nicht auf der Motorhaube, sondern unter Umständen direkt im Fahrgastraum. Die Folgen kann sich jeder ausmalen, es ist nämlich nicht nur das Gewicht, es gibt da auch noch ein Geweih. Deshalb ist es wichtig, dem Tier für alle Beteiligten lebensrettende Zeit zu geben.
Das Abblenden führt dazu, dass die Tiere wieder Orientierung haben, das Bremsen bringt wertvolle Sekundenbruchteile und vermindert die Aufprallenergie. Im Ernstfall das Bremspedal wirklich komplett auf einen Schlag durchtreten, moderne Autos haben ABS. Und das gleichzeitige Hupen ist ganz wichtig. Es ist ein Signal, das die Tiere sehr gut orten können und sofort als Gefahr deuten. Das sorgt dafür, dass sie sofort zur Seite wegspringen, was ohnehin die beste Idee ist.
Die schlechteste Idee des Autofahrers ist das Ausweichen. Dafür sind unsere Straßen einfach nicht gebaut. Es gibt Bäume, Leitplanken und Gegenverkehr, ein hastiges Zucken reicht und Sie verlieren komplett die Kontrolle über ihr Fahrzeug.
Besser ist deshalb die Vollbremsung, dabei das Lenkrad festhalten, ggf. kurz die Mitfahrer warnen z.B. durch den Ruf "Festhalten!". So sind alle Muskeln angespannt und die Passagiere halbwegs vorbereitet auf einen "kontrollierten" Zusammenstoß.
So banal die Frage klingt: Wo genau müssen Sie drücken, damit Sie die Hupe auch wirklich ganz schnell und sicher treffen? Sie sollten es einfach mal üben.
Was tun, wenn es doch passiert ist?
In 99 Prozent der Fälle überlebt das Tier einen Unfall nicht, sagt Torsten Reinwald. Auch wenn es mitunter danach aussieht. Das bedeutet: Ein Tier, das nach einem Zusammenstoß flieht oder zur Seite geschleudert wird, ist nicht "gerettet" nur weil es von der Straße weg ist. Es schleppt sich mit seinen schweren inneren Verletzungen oder Knochenbrüchen nur ein paar Meter weiter. Als erstes deshalb Warnblinkanlage einschalten, wobei die meisten modernen Fahrzeuge dies automatisch tun, wenn Sie wirklich eine Vollbremsung hingelegt haben.
Wer schon einmal beim Fahrsicherheitstraining war, der weiß, wie viele Versuche man braucht, bis der Kollege am anderen Ende des Funkgeräts zufrieden ist. Also Unfallstelle absichern und dann Abstand halten. Wildtiere sind auf den Menschen nicht vorbereitet und reagieren auch im verletzten Zustand heftig.
Abgesehen davon, dass das Tier Schmerzen hat, sich besorgt darüber beugende Fahrzeuginsassen sorgen noch für zusätzlichen Stress. "Auch ein Reh hat sehr scharfe Schalen (Hufe), die vorn sehr spitz sind. Wenn das Tier um sich schlägt, kann das schwere Verletzungen verursachen." erklärt der Biologe.
Über verletzte Wildschweine oder gar die Kombination "verletzte Jungtiere und unverletzte Mutter" brauchen wir gar nicht zu reden. Also: Abstand halten und über die 110 die Polizei verständigen. Die Suche nach dem zuständigen Revierförster oder Jagdpächter können Sie sich sparen, die Polizei hat eine Kontaktliste und entscheidet letztlich auch, was zu tun ist.
Einpacken, einkochen, einfrieren?
Aus verschiedenen Gründen verbietet sich alleine schon der Gedanke daran, sich ein günstiges Abendbrot zu sichern. Rechtlich ist es Wilderei, das kann ziemlich teuer werden und ein vom Auto erlegtes Wild wurde definitiv nicht waidgerecht erlegt. Zudem ist der Jäger als per Gesetz "kundige Person" nicht eingebunden gewesen, der nämlich - so sollte es jedenfalls sein - sich vor dem Erlegen einen Eindruck von dem Tier verschafft. Läuft es rund, ist es gesund? Das geht bei einem toten Tier schlecht.
Hinzu kommt, dass das Tier Hämatome hat und gebrochene Knochen, daraus können keine hochwertigen Produkte hergestellt werden. Tiere, die bei einem Wildunfall zu Tode gekommen sind, dürfen per Gesetz nicht mehr verwertet bzw. gegessen werden. Torsten Reinman erweitert: "Dieses Fleisch ist auch nicht appetitlich." Es darf auch niemand überrascht sein, wenn der Jäger das tote Tier nicht mitnimmt, sondern in den Wald legt und etwas eingräbt, das ist ein natürlicher Kreislauf und gut fürs Ökosystem, die Mikroorganismen und andere Tiere wissen, was zu tun ist.
Was ist mit der Versicherung?
Grundsätzlich ist bei jedem Zusammenstoß mit einem Tier die Polizei zu verständigen. Ängste, man müsse den Wildschaden ersetzen, sind unbegründet, das Wild gehört niemandem, erklärt Torsten Reinwald. Wichtig ist, dass man vom Jagdpächter oder der Polizei eine Wildunfallbescheinigung für die Versicherung ausgestellt bekommt. Welche Tiere dann über die Teilkasko (und natürlich auch über die Vollkasko) abgedeckt sind, das ist von Versicherung zu Versicherung verschieden.
Haarwild ist es immer, bei vielen auch Federwild, es gibt auch Versicherung für "Tiere aller Art". In der Regel liegt aber die Betonung auf Wild. Ein Hund zum Beispiel hat Haare, ist aber kein Haarwild. Im Grundsatz richten sich die meisten Versicherungen nach dem §2 des Bundesjagdgesetzes (BJagdG), dort ist das Haarwild definiert und umfasst Schwarzwild und Rotwild, Marderarten, Hasen, Murmeltiere, Füchse und Luchse, Wisente und Elche, Rehwild und Damwild.
Bei Unfällen mit Haus- und Nutztieren ist in der Regel die Haftpflichtversicherung des Tierhalters zuständig. In allen Fällen ist die Beweissicherung wichtig, machen Sie Fotos, auch vom Tier - mit gebotener Vorsicht natürlich. Und: Der ADAC hat auch schon Wildunfälle simuliert, also Crashtests mit Wildschwein-Attrappen durchgeführt. Da ist schon Tempo bei Tempo 80 die Front des Autos klipperklar und Schwein sein möchte man sowieso nicht.
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 20. April 2023 | 16:40 Uhr