Israel-Palästina-Konflikt Experte: Internationale Gemeinschaft im Nahen Osten gefragt

23. Februar 2023, 19:18 Uhr

Die Sicherheitslage in Israel und den Palästinensergebieten ist seit einiger Zeit extrem angespannt. Es droht eine weitere Eskalation der Gewaltspirale. Am Donnerstagmorgen beschoss die israelische Luftwaffe Ziele im Gazastreifen. Zuvor hatte es einen palästinensischen Raktenangriff aus dem Gebiet gegeben. Ohne neue internationale Friedensbemühungen droht die Lage weiter zu eskalieren, sagt Israel-Experte Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

In der Nacht zu Donnerstag flogen Raketen der Hamas in Richtung israelischer Küstenstädte wie Aschkelon. Eine Racheaktion für die mindestens elf Palästinenser, die bei Kämpfen zwischen israelischen Truppen und palästinensischen Milizionären im Westjordanland am Mittwoch getötet worden waren. Die Antwort Israels wiederum auf die nächtlichen Raketen aus Gaza ließ nicht lange auf sich warten. Umgehend flog Israels Luftwaffe Angriffe auf Stellungen der Hamas.

Das Jahr ist noch nicht alt, aber der Konflikt zwischen beiden Parteien hat schon etliche Todesopfer gefordert. Elf Menschen starben auf israelischer Seite, 60 auf palästinensischer. Ein Ende der Gewaltspirale ist nicht in Sicht. Der nahende Fastenmonat Ramadan birgt zusätzliches Konfliktpotenzial. Während dieser Zeit kommt es erfahrungsgemäß zu mehr Auseinandersetzungen als gewöhnlich.

Ex-Premier Olmert warnt vor neuer Intifada

Vor einigen Tagen warnte gar Israels ehemaliger Regierungsschef Ehud Olmert angesichts der israelischen Regierungspolitik vor einem neuen Aufstand der Palästinenser. Sollten die Konfrontationen im Land so weitergehen wie bisher, bestehe die ernsthafte Gefahr, "dass eine andere Art von Intifada ausbrechen wird, die viel Schmerz und Blut verursachen wird", sagte Olmert am Sonntag auf der inzwischen beendeten Münchner Sicherheitskonferenz. Olmert forderte US-Präsident Joe Biden auf, in dem Konflikt "energisch voranzugehen" und sich für den Frieden zwischen Israel und den Palästinensern und damit auch "für die Zukunft Israels" einzusetzen. Diese Frage sei entscheidend für die Stabilität im Nahen Osten und im strategischen Interesse der USA und Europas.


Intifada Unter Intifada werden wird der Aufstand lokaler Gruppen sowie der gewalttätige politisch organisierte Protest von Palästinensern gegen das israelische Militär verstanden. Die erste Intifada ging von 1987 bis 1993, die zweite Intifada von 2000 bis 2004. Olmert war von April 2006 bis März 2009 Ministerpräsident Israels.

Den Begriff Intifada möchte der Politikwissenschaftler Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik nicht in den Mund nehmen. Zu oft werde vor einer Intifada gewarnt, sagt er im Gespräch mit MDR AKTUELL. Aber, so Lintl, wenn es jetzt keine internationalen Bemühungen um Deeskalation gebe, steuere man auf eine ganz massive Gewalt zu im Nahen Osten.

Es braucht jetzt zwei Dinge: Mehr Druck auf Israel, zum Beispiel über den UN-Sicherheitsrat. Und es muss überhaupt erst einmal eine Verhandlungsperspektive für Frieden auf den Tisch gelegt werden.

Dr. Peter Lintl Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin

Bis jetzt blieb es jedoch bei Appellen zur Mäßigung. "Sehr besorgt" und "äußerst besorgt" sei man angesichts der Opferzahlen hieß es zuletzt aus dem Auswärtigen Amt in Berlin und aus Washington. Für UN-Generalsekretär Antonio Guterres ist die Lage in den besetzten Palästinensergebieten am "gefährlichsten Punkt seit Jahren".

Quo vadis Zwei-Staaten-Lösung?

Dass die letzten Friedensverhandlungen schon Jahre her sind und es derzeit überhaupt keine Perspektive für Frieden gebe, ist für Lintl der Hauptgrund für die jetzige Gewalteskalation. 2008 hatte es das letzte Mal ernsthafte Verhandlungen zwischen beiden Seiten gegeben. 2014 gab es immerhin noch einmal indirekte Gespräche. Inzwischen ist eine Übereinkunft in weite Ferne gerückt. Die Zwei-Staaten-Lösung scheint wie eine Utopie aus vergangener Zeit. Und obwohl die Zwei-Staaten-Lösung sehr unwahrscheinlich geworden ist, ist sie gleichzeitig die "wahrscheinlichste Lösung", so Lintl.

Zu der geringen Aussicht auf Frieden kämen ökonomische Spannungen, so Lintl. Die Arbeitslosenquote ist mit knapp 25 Prozent in den palästinensischen Gebieten sehr hoch. Das Durchschnittseinkommen pro Kopf und Jahr ist in Israel mit umgerechnet gut 41.600 Euro fast zwölf mal so hoch wie in den besetzten Gebieten.

Israelische Siedlungspolitik in der Kritik

Verschäfend wirkt auch die international kritisierte israelische Siedlungspolitik. Die neue rechts-nationale Koalition um Benjamin Netanjahu hat sich etwa den historischen Anspruch auf das Westjordanland in den Koalitionsvertrag geschrieben. Erst vor wenigen Tagen wurden 10.000 neue Siedlungseiheiten im völkerrechtswidrig besetzten Westjordanland angekündigt. Außerdem wurden erstmals neun sogenannte israelische Außenposten im völkerrechtswidrig legalisiert.

Auch wenn dieser Schritt mit den jüngsten palästinensischen Terroranschlägen begründet wurde, haben nicht nur die USA, sondern auch die Außenminister aus Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien gegen diesen Schritt protestiert. Mit der Legalisierung der Außenposten wird eine Politik umgesetzt, der sich vor allem der national-religiöse Kern der neuen israelischen Regierung verpflichtet fühlt. Ziel ist letztendlich die Annexion des Westjordanlandes.

Peter Lintl formuliert es so: "Hier gibt es einen gezielten Siedlungsbau, damit es keinen palästinensischen Staat geben kann." Rechtsradikale Elemente in der neuen Regierung provozierten und würden so aufflammende Gewalt in Kauf nehmen, so Lintl. Und auf palästinensischer Seite habe die Autonomiebehörde unter Präsident Mahmud Abbas inzwischen so wenig Einfluss, dass sie die Sicherheitslage nicht mehr im Griff habe. Überall in den besetzten Gebieten bilden sich laut Lintl autonome bewaffnete Gruppen abseits der Terrorgruppen Hamas und Fatah. Die Chancen für Deeskalation stehen derzeit also schlecht. Umso entschiedener müssen sie ergriffen werden.

cvt mit dpa, ARD

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL TV | 23. Februar 2023 | 10:55 Uhr

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