Folgen des Krieges in der Ukraine Rumänien ächzt unter ukrainischem Güterverkehr
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18. Juni 2022, 09:59 Uhr
Die Ukraine exportiert ihr Wintergetreide derzeit massenweise über die Nachbarländer, weil ihre Schwarzmeer-Häfen wegen des Krieges abgeriegelt sind. Der kürzeste Transportweg ist hin und zurück über Rumänien. Ganz egal, auf welcher Seite der Grenze man gerade steht – es herrscht wegen massenhaft Stau. Und das Verkehrsaufkommen wird weiter wachsen, wenn Rumänien demnächst seine eigene Ernte exportieren will.
Inhalt des Artikels:
- Lange Wartezeit an rumänisch-ukrainischer Grenze
- Ukrainische Lkw-Fahrer werden nach Kilometern bezahlt
- Arbeitsaufwand beim Zoll enorm gestiegen
- Ukrainischer Weizen wird zum Spottpreis gehandelt
- Kürzester Umweg für ukrainisches Getreide über Rumänien
- Wird Schwarzmeer-Hafen Constanta das neue Drehkreuz?
- Rumänien hat wenig Autobahn und marodes Schienennetz
- Schiffe stauen sich auf Schwarzem Meer
- Transportkosten für ukrainisches Getreide stark gestiegen
Yuriy schaut sorgenvoll auf die Zeiger seiner Uhr. Längst hätte der Lkw-Fahrer mit seinen Kollegen wieder zurück im Heimatland sein sollen – diesmal mit 120 Tonnen Zwiebeln an Bord ihrer sechs Laster. "Wir werden von den Abnehmern sehnsüchtig erwartet, an vielen Orten in der Ukraine mangelt es an Lebensmitteln", sagt der 57-Jährige. Vor Tagen fuhr er noch Getreide aus der Ukraine nach Asien, jetzt hat er auf dem Rückweg kommt er nicht leer zurück, sondern hat Zwiebeln aus dem aserbaidschanischen Baku geladen.
Lange Wartezeit an rumänisch-ukrainischer Grenze
Früher hätten die Zwiebeln per Seeweg nach Odessa verschifft werden können, doch seit dem russischen Angriffskrieg haben sich die Transportrouten von und in die Ukraine völlig verschoben: Der Seeweg in die ukrainischen Schwarzmeer-Häfen ist komplett versperrt. Die Mehrheit der Güter – ob Mais, Weizen, Lebensmittel oder Kraftstoffe – wird nun per Bahn und Lkw transportiert. Da sie auch nicht mehr den Landweg über die Ostukraine und Russland nehmen können, kommen sie alle über die EU – das heißt riesige Umwege und ausdauerndes Warten. Am ukrainisch- rumänischen Grenzpunkt in Porubne-Siret geht es gerade nur im Schneckentempo voran: Wegen des Lkw-Ansturms muss man zwischen 15 Stunden bis zu mehreren Tagen Wartezeit rechnen.
Ukrainische Lkw-Fahrer werden nach Kilometern bezahlt
Yuriy und seine Kollegen vertreiben sich die Wartezeit mit Kartenspielen, sie rauchen Kette, sie nicken in der Hitze des Tages immer wieder auf ihrem Lenkrad ein. Bezahlt werden die Männer nach gefahrenen Kilometern: Jeder Stillstand geht auf ihre Kosten und je länger sie warten müssen, um so weniger haben sie auf der Tour verdient. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit – nicht nur für die Lkw-Fahrer, sondern für die gesamte Landwirtschaftsbranche in der Ukraine.
Normalerweise exportiert das Land in Monaten wie diesen zwischen fünf bis sieben Millionen Tonnen Getreide, vor allem über den Seeweg. Beim Wegfall dieser Mengen gerät die weltweite Nahrungsmittelversorgung ins Wanken, wird es Hungersnöte in Afrika, Asien und im Nahen Osten geben. Auch in der Lkw-Schlange am ukrainisch-rumänischen Übergang in Siret diskutieren die Fahrer das Weltgeschehen, sie schimpfen auf die Zollbehörden, "die die Transporte einfach durchwinken sollten, statt alles wie in Friedenszeiten streng zu prüfen".
Arbeitsaufwand beim Zoll enorm gestiegen
Der rumänische Zollbeamte Virgil Grigoras schaut mürrisch, wenn man ihn fragt, ob er gerade zu langsam arbeitet, wie die Lkw-Fahrer in der Schlange vor seinem Grenzübergang gerne behaupten. Seit einem Monat erlebt Grigoras einen "nie da gewesenen Ansturm", sein Arbeitspensum ist plötzlich auf das Doppelte gestiegen: Bis zu 300 Lkw werden in Siret derzeit täglich vom Zoll abgefertigt. "Mehr ist einfach nicht zu schaffen", sagt der 62-jährige Beamte. Im Mai versprach die EU-Kommission, sie werde prüfen, ob die Zollabfertigung für die ukrainischen Güter vereinfacht werden könnte. Entschieden wurde jedoch bislang nichts.
Akribisch kontrollieren die Zöllner die Ausfuhrdokumente, bei Unstimmigkeiten dauert die Kontrolle entsprechend länger. Grigoras sagt schulterzuckend: "Wir können an der EU-Außengrenze nicht weniger wachsam sein als früher, nur weil es plötzlich mehr Arbeit gibt". Beim Grenzübergang in Siret hat man eine zusätzliche Fahrspur eingerichtet, mehr Personal soll eingestellt werden, neue Grenzübergänge zur Ukraine sind im Gespräch. Alles Veränderungen, die sich laut rumänischen Zoll nicht über Nacht vollziehen lassen, sondern Wochen dauern werden, vielleicht sogar Monate. Bis dahin müssen Grigoras, seine Zöllner und die Lkw-Fahrer mit dem Stau irgendwie allein zurechtkommen.
Ukrainischer Weizen wird zum Spottpreis gehandelt
Mitte Mai sprach die aus Rumänien stammende EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean angesichts der ukrainischen Getreideexporte von einer "riesigen Herausforderung" für die europäischen Logistikketten. Dass die Herausforderung nicht zu bewältigen sein würde, sagte sie lieber nicht: Allein bis Ende Juli sollen bis zu 25 Millionen Tonnen Agrarprodukte aus der Ukraine exportiert werden. Das sind rund eine Million Lkw-Ladungen oder bis zu 400.000 Güterwaggons bei der Bahn.
Ein Gütervolumen, bei dem der Bukarester Landwirtschaftsexperte Cezar Gheorghe nur den Kopf schütteln kann: "Woher sollen plötzlich die Nachbarländer diese Fülle an zusätzlichen Kapazitäten nehmen, die eine Unmenge von Personal bindet? Das wird nie und nimmer zu schaffen sein." Dennoch bleibt den ukrainischen Landwirten nichts anderes als der Verkauf ihres Getreides übrig. Sie müssen ihre Silos für die nächste Ernte räumen, die gerade auf den Feldern wächst. Notgedrungen haben viele zuletzt ihren Weizen für ein Drittel des derzeitigen Weltmarktpreises verkaufen müssen. "Profitabilität ist für die ukrainischen Landwirte gerade ein Fremdwort", sagt Gheorghe. "Die Getreidehändler sagen ihnen direkt ins Gesicht: 'Entweder Du gibst mir die Ware zu dem Preis oder ich kaufe sie nicht'."
Kürzester Umweg für ukrainisches Getreide über Rumänien
Gerade Gheorghes Heimatland Rumänien, das die längste Grenze zur Ukraine hat, muss jetzt klotzen statt kleckern. Es hat den Schwarzmeer-Hafen in Constanta, der Weg dorthin ist der kürzeste und der kostengünstigste für den Güterverkehr aus der Ukraine, ganz gleich ob Getreide, Eisenerz oder Rohre befördert werden sollen. Schon jetzt ist der Hafen in Constanta ein wichtiger Umschlagplatz für Rumäniens Nachbarn: Die Binnenstaaten Serbien und Ungarn lassen von dort ihr Getreide in die weite Welt bringen. Da jetzt noch Teile der ukrainischen Ernte dazukommen, kündigte die rumänische Regierung in den vergangenen Wochen Investitionen von rund 77 Millionen Euro an, um die Zufahrten für Lkw und Güterwaggons in den Hafen ausbauen zu lassen.
Wird Schwarzmeer-Hafen Constanta das neue Drehkreuz?
Wirtschaftswissenschaftler Cornel Ban von der Copenhagen Business School hält die Bukarester Ausbaupläne für "sehr ehrgeizig“ und gleichzeitig für einen Tropfen auf den heißen Stein. Ban, der aus Rumänien stammt, fordert vielmehr eine "europäische Mobilisierung", um den rumänischen Schwarzmeer-Hafen mithilfe von Milliarden-Investitionen zu einem strategischen Knotenpunkt zu entwickeln. "Der Hafen in Constanta ist essentiell für die EU-Politik. Ich wundere mich, warum Brüssel ihn noch nicht entdeckt hat", sagt Ban.
Seit Jahren bescheinigen Unternehmensstudien dem rumänischen Hafen, dass er sein Umschlagvolumen verdoppeln oder verdreifachen könnte, doch gab es bislang keine entsprechende Nachfrage. Der Krieg im Nachbarland könnte das ändern. In Constanta sind nach Angaben der Hafenbehörde seit Kriegsbeginn rund 600.000 Tonnen Getreide aus der Ukraine eingetroffen – ein Bruchteil von dem, was Kiew bis Ende Juli ausliefern lassen möchte. Und dennoch steht für den Wirtschaftsexperten Ban fest, dass der Hafen Constanta der einzige sei, der den ukrainischen in Odessa ersetzen könnte, sollte es Kremlchef Wladimir Putin auf einen langen Krieg mit der Ukraine anlegen: "Die Güter über Polen und das Baltikum zu verschiffen, ist sehr viel komplizierter und teurer". Hinzu kommt, der Güterverkehr ist keine Einbahnstraße. Er transportiert vielmehr lebensnotwendige Güter wieder zurück ins kriegsgebeutelte Land - allen voran Kraftstoffe, an denen es in der Ukraine gerade enorm mangelt.
Rumänien hat wenig Autobahn und marodes Schienennetz
Dass bislang nur ein Bruchteil der ukrainischen Ware in Constanta eingetroffen ist, liegt am Hinterland des Hafens, das mit diesem Güteransturm völlig überfordert ist. Rumänien hat vergleichsweise wenige Autobahnen, nur gut fünf Prozent machen sie am gesamten Streckennetz aus. Eine Alternative wäre das ausgedehnte Schienennetz der Rumänischen Bahn, doch das gilt als marode – gut drei Jahrzehnte lang sind kaum staatliche Investitionen geflossen, inzwischen müssten fast alle Brücken, Viadukte, Tunnel dringend saniert werden.
Die Folge: Es gelten hunderte Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Strecken, Güterzüge kommen damit auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von rund 19 Kilometer pro Stunde. Mindestens eine Woche und länger braucht nach Angaben der rumänischen Bahn CFR ein Güterzug von der rumänisch-ukrainischen Grenze bis zum Schwarzmeer-Hafen Constanta, zurück sind es wieder sieben Tage. Hinzu kommt das zeitintensive Verladen der Güter an der Grenze, da die Bahnen in Rumänien und die Ukraine eine unterschiedliche Spurweite aufweisen.
Schiffe stauen sich auf Schwarzem Meer
Als zusätzlichen Transportweg gibt es das Donaudelta, das zwischen der Ukraine und Rumänien liegt und das ins Schwarze Meer mündet. Schiffe können hier immerhin bis zu 3.000 Tonnen Fracht transportieren, doch muss jedes von ihnen von einem zugelassenen Lotsen begleitet werden, um Zusammenstöße zu verhindern. Auf dem Wasser herrscht genauso Stau wie auf den Straßen und in den Güterbahnhöfen Rumäniens. 70 bis 80 Schiffe warten derzeit auf dem Schwarzen Meer, nur ein Bruchteil darf täglich ins Delta einfahren, weil es an Lotsen mangelt. Von der zuständigen rumänischen Behörde heißt es, man werde weitere ausbilden. Ein gutes Jahr dauere es, bis man sie einsetzen könne.
Transportkosten für ukrainisches Getreide stark gestiegen
Der Bukarester Landwirtschaftsexperte Cezar Gheorghe beobachtet täglich die Entwicklung der Getreidepreise. Nicht nur die sind längst in die Höhe geschossen, sondern auch die Transportkosten für die Agrarprodukte. Pro Tonne sind sie im Schnitt auf das Dreifache gestiegen, wenn sie durch Rumänien kommen. "Damit sie schneller als andere Wartende abgefertigt zahlen, zahlen manche noch deutlich höhere Summen. Darüber redet nur niemand öffentlich", sagt Gheorghe. Er blickt mit Sorgen auf Ende Juli, wenn die rumänischen Landwirte ihre eigene Ernte exportieren wollen: Denn der Kampf um Lkw, Eisenbahnwaggons sowie Schiffe wird dann noch schärfer und vor allem noch teurer geführt werden.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 31. Mai 2022 | 20:15 Uhr
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