Fleischtheke
Fleischtheke in Ungarn. Wegen der extremen Lebensmittel-Inflation können sich die ärmeren Bürger oft nur noch minderwertige Fleischsorten wie Hühnerrücken leisten. Bildrechte: IMAGO/ingimage

Ungarn Fleischabfälle in der Suppe – die Folgen der Lebensmittel-Inflation

05. April 2023, 09:51 Uhr

Mit 45,9 Prozent hat Ungarn bei weitem die höchste Lebensmittel-Inflation in der EU. Der Staat trägt eine Mitschuld daran und Orbáns vielbeachtete Preisbremse für Grundnahrungsmittel hat sich unterm Strich ins Gegenteil verkehrt: Die Ärmsten, die sie beschützen sollte, können sich nur noch Schmalzbrote leisten und vom Fleisch nur minderwertige Hühnerrücken, mit denen andere ihre Hunde füttern. Obendrein verdient der Staat an der ganzen Misere noch mit.

Porträt Kornelia Kiss
Bildrechte: Kornelia Kiss/MDR

Ungarn hatte im Februar 2023 die höchste Inflationsrate aller EU-Länder – 25,8 Prozent. Doch nicht nur das – die Inflation bei Lebensmitteln lag in Ungarn fast doppelt so hoch – bei beachtlichen 45,9 Prozent! Auch das war der EU-weite Rekordwert. Wie groß das Problem ist, verdeutlicht ein Blick nach Litauen, das mit "nur" 29,3 Prozent Lebensmittelinflation weit abgeschlagen auf Platz zwei in der EU kam.

Sind Russland-Sanktionen an der Inflation schuld?

Die ungarische Regierung hat seit langem einen Schuldigen ausgemacht – die EU mit ihren Sanktionen gegen Russland – ungeachtet der Tatsache, dass die Inflation in anderen EU-Ländern deutlich niedriger ausfällt. Die Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán spricht sogar unverblümt von einer "Sanktionsinflation".

Wie hoch ist die Inflation in Deutschland und anderen EU-Ländern?

In Deutschland lag die Inflation im Februar 2023 laut Eurostat bei 9,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat und damit minimal über dem Durchschnitt von 8,5 Prozent in der Euro-Zone, aber unter dem Gesamt-EU-Durchschnittvon 9,9 Prozent (d.h. unter Einbeziehung derjenigen EU-Staaten, die noch eine eigene Währung besitzen).

Die höchsten Inflationswerte unter den EU-Ländern hatten im Februar 2023 Ungarn (25,8 Prozent), Lettland (20,1 Prozent) und Tschechien (18,4 Prozent). Überdurchschnittlich hoch war die Teuerung außerdem in den beiden anderen baltischen Staaten Litauen und Estland sowie Polen, der Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Kroatien.

Die niedrigste Inflationsrate verzeichneten dagegen Luxemburg (4,8 Prozent), Belgien (5,4 Prozent) und Spanien (6,0 Prozent).

Quelle: Eurostat

Tatsächlich ist die seit 2010 mit einer Zweidrittelmehrheit regierende Fidesz-Partei mit Viktor Orbán an der Spitze zumindest teilweise selbst daran schuld, meint der Agrarökonom und Unternehmer György Raskó.

Paradox: Preisbremse heizt Inflation an

Als einen der Inflationstreiber macht Raskó Sozialtransfers der Orbán-Regierung aus. Kurz vor den Parlamentswahlen 2022 überwies sie aus dem Staatshaushalt den Betrag von 1.200 Milliarden Forint (umgerechnet rund drei Milliarden Euro) an die Bevölkerung – in Form von Steuererstattungen und einer 13. Monatsrente. "Das hat die Nachfrage enorm gesteigert, und wenn es eine hohe Nachfrage gibt, treibt das natürlich die Preise in die Höhe", so der Ökonom.

Darüber hinaus hat die Regierung die Einzelhandelspreise von acht Grundnahrungsmitteln gedeckelt und den großen Lebensmittelketten eine Extra-Steuer auferlegt. Dies bewog die Händler wiederum dazu, die Preise für andere Produkte zu erhöhen, die sie sonst vermutlich nicht erhöht hätten. Die Preisbremse, die ungarische Familien vor der hohen Inflation schützen sollte, hatte auf den gesamten Markt bezogen also eine gegenteilige Wirkung.

Staat verdient an der Inflation mit

Die hohe Inflation ist Raskó zufolge im Interesse des Staates, da sie die Mehrwertsteuereinnahmen erhöht. Und diese würden dringend im ungarischen Haushalt benötigt, weil die wegen der Kontroversen um Rechtsstaatlichkeit und Korruption eingefrorenen EU-Mittel immer noch ausbleiben.

Es lag es auf der Hand, dass die Regierung, um eine übermäßige Verschlechterung der Haushaltsbilanz zu verhindern, gewissermaßen absichtlich die Inflation anheizen würde.

György Raskó, Ökonom

Inflation trifft die ärmsten Ungarn

Besonders hart trifft die Inflation in Ungarn Menschen mit niedrigeren Einkommen, die sich schon vor dem Inflationsschock oft keine ausreichende Menge und Qualität an Lebensmitteln leisten konnten. Viele von ihnen leben in benachteiligten Kleinsiedlungen und abgelegenen Dörfern – sie sind nicht mobil genug, um regelmäßig größere Supermärkte aufzusuchen und müssen mit den kleinen Läden vor Ort Vorlieb nehmen. Doch dort seien die Lebensmittel aufgrund der fehlenden Konkurrenz teurer und die Auswahl geringer, berichtet Norbert Tóth, Begründer und Leiter der Stiftung "Age of Hope". Die Organisation hilft ungarnweit Menschen, die in Armut leben, vor allem Kindern, aber auch alleinstehenden und älteren Menschen in Not – durch gemeinsames Kochen und mit Spenden. "Sie verhungern", antwortet Tóth kurz und bündig auf die Frage, wie die ärmsten Ungarn bei dem derzeitigen Preisanstieg über die Runden kommen.

Das bestätigt auch Nóra L. Ritók. Als Begründerin und Leiterin der Stiftung "Echte Perle" ("Igazgyöngy Alapítvány") hilft die Kunstpädagogin in Armut lebenden Kindern und ihren Familien mit einem selbst entwickelten, komplexen Sozialprogramm. Die Stiftung ist in 17 Gemeinden der ostungarischen Region Hajdú-Bihar tätig. Sie unterstützt die Bedürftigen nicht nur mit Lebensmittelspenden, sondern hilft ihnen beispielsweise, einen eigenen Garten zu bewirtschaften.

Fleisch-Abfälle landen im Suppentopf

"Viel Spielraum hatten diese Menschen schon vorher nicht, Gemüse und Obst haben sie auch bisher nicht gekauft. Ihren Fleischkonsum haben sie nun auf Hühnerrücken beschränkt. Auch kaufen sie weniger Molkereiprodukte. Sie essen mehr einfache Lebensmittel, etwa Schmalzbrote. Mehr gib das Budget nicht her", berichtet Ritók. Die Zahl derjenigen, die von der Stiftung ein Krisenpaket mit Grundnahrungsmitteln beantragt hätten, sei im Vergleich zum Vorjahr um etwa 30 Prozent gestiegen.

Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es indes: Die generelle Inflationsrate in Ungarn ist inzwischen leicht rückläufig und entspricht damit den Vorhersagen von Experten. Allerdings ist noch nicht sicher, ob sie bis zum Jahresende, wie von der Regierung Ungarns geplant, wieder auf einen einstelligen Wert zurückgeht. Wobei dann immer noch zu beachten ist, dass die Lebensmittelpreise im vergangenen Jahr schneller gestiegen sind als die Preise anderer Produkte. Die Ungarn haben also noch eine harte Zeit vor sich.

* Anm. d. Red: In der ursprünglichen Version des Textes stand, dass die Lebensmitteleinzelhändler mit einer Extra-Steuer belegt wurden. Das haben wir am 05. April 2023 geändert, denn die Extra-Steuer zahlen allein die großen Lebensmittelketten.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 06. März 2023 | 08:05 Uhr

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