Unabhängigkeitstag In der Ukraine ist der Wille zum Sieg ungebrochen
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26. August 2023, 04:04 Uhr
Anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffes auf die gesamte Ukraine bleibt der Zusammenhalt in der ukrainischen Gesellschaft groß. Auch die Vertrauenswerte für Präsident Wolodymyr Selenskyj überzeugen. Die vorerst nicht ganz erfüllten Erwartungen von der ukrainischen Gegenoffensive sowie Themen wie Angst vor der Mobilmachung oder mögliche Stromausfälle im Winter könnten die Stimmung trotzdem etwas beeinflussen.
Wegen des Krieges mögen zwar in Kiew wie im letzten Jahr keine Massenveranstaltungen geplant sein, doch in der ukrainischen Hauptstadt spürt man vor dem symbolisch wichtigen Unabhängigkeitstag am 24. August, dass es sich um eine besondere Woche handelt. So ist die Prachtstraße Chreschtschatyk bis Montag für den Verkehr gesperrt. Der Grund: Genauso wie 2022 wird hier zerstörte russische Militärtechnik ausgestellt. Die Fotos vor einem ausgebrannten russischen Kampfpanzer T-90 etwa sind sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Ukrainern sehr begehrt und landen direkt auf Social Media.
Optisch könnten die Bilder aus dem letzten Jahr stammen. Und auch wenn man auf Stimmungsstudien der wichtigsten Soziologie-Institute schaut, hat sich seitdem wenig bis nichts verändert. Mehr als 90 Prozent der Ukrainer lehnen jeglichen territorialen Kompromiss mit Russland ab. Das Vertrauen in die ukrainischen Streitkräfte liegt in manch einer Umfrage bei über 95 Prozent. Präsident Wolodymyr Selenskyj vertrauen stabil mehr als 80 Prozent der Bevölkerung.
Glauben an den Sieg
Doch die Wirklichkeit ist farbenreicher und komplizierter als bloße Prozentpunkte. Denn der 24. August 2023 markiert neben dem Unabhängigkeitstag nicht mehr "nur" ein halbes Jahr, sondern 18 Monate des russischen Angriffskrieges gegen das gesamte Land. Und während es der ukrainischen Armee an der Südfront Richtung der Landbrücke zur Krim teilweise gelingt, die ersten Hauptverteidigungslinien der Russen durchzubrechen, werden die etwas überhitzten Erwartungen von der Gegenoffensive nicht ganz erfüllt. Außerdem sind mit Beginn der Offensivaktion die Verluste wieder gestiegen.
"Natürlich existiert eine gewisse Müdigkeit. Aber es wäre auch verwunderlich, wenn es diese nicht gegeben hätte", sagt der führende ukrainische Politologe Wolodymyr Fessenko, Chef des Zentrums für angewandte politische Forschung Penta dem MDR. Fessenko beschreibt die aktuelle Stimmung als eine Art "emotionale Achterbahnfahrt". Das Konsolidierungsniveau bleibe zwar enorm hoch, meint der 64-Jährige, denn: "Wir haben alle schlicht keine andere Wahl. Doch während die Militärführung vor allzu großen Erwartungen in Bezug auf die Gegenoffensive warnte, gab es öffentliche Figuren, die zu optimistische Bilder malten."
Eine Einschätzung, die auch vom Politikexperten Heorhij Tschischow geteilt wird, der das Zentrum für Reformenförderung in Kiew leitet. Er sagte dem MDR:
Die absolute Mehrheit der Ukrainer glaubt nach wie vor an den Sieg gegen Russland. Sie kann allerdings kaum beschreiben, wie dieser Sieg konkret aussehen wird.
Für ihn war eine gewisse Enttäuschung am Rande der Gegenoffensive aber vorprogrammiert. "Was die Sprechköpfe da im Fernsehen oder auf YouTube erzählen, ist das eine. Das andere ist: Jeder hat tief im Herzen gehofft, dass es genauso blitzschnell wie 2022 im Bezirk Charkiw läuft, obwohl das alleine wegen des Ausmaßes der Verminung unrealistisch war. Hoffen tut man aber immer."
Keine Kritik an der Armeeführung, etwas Kritik am Präsidenten
Die Kritik an der Militärführung bleibt jedoch ein absolutes Tabu, sagt Wolodymyr Fessenko. Um den beliebten Armee-Befehlshaber Walerij Saluschnyj existiere sogar "ein landesweiter positiver Mythos". Mit dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sieht es trotz stabil hoher Vertrauenswerte etwas anders aus. "Im letzten Jahr und bis zu einem gewissen Zeitpunkt in diesem Jahr gab es keine direkte Selenskyj-Kritik von seinen klassischen politischen Opponenten aus der Zeit von vor dem Kriegsausbruch. Nun sind sie aktiv geworden – und kritisieren nicht mehr nur seinen Verwaltungsleiter Andrij Jermak, der früher quasi als Blitzableiter diente, sondern auch Selenskyj selbst", erklärt Fessenko. "Doch darüber hinaus bleibt die Unterstützung enorm hoch."
"Es gibt einen kleinen Teil der Menschen, die Selenskyj vor dem 24. Februar 2022 tief missachtet haben, vor allem die Wähler seines Vorgängers Petro Poroschenko. Sie haben ihre Meinung nie geändert, auch wenn sie geschwiegen haben", sagt Heorhij Tschischow von der NGO Zentrum für Reformenförderung. Auch er betont, dass sich die Unterstützung ansonsten kaum verändert hat. Er sieht aber potenzielle Minenfelder für Selenskyj in der Nachkriegszeit. Dazu gehört sowohl die Aufarbeitung des schnellen Einmarsches der Russen über die Südukraine als auch die Situation, bei der etwa die öffentlich angepeilte Wiederherstellung der Grenzen von 1991 nicht ganz gelingt.
"Da wird ein völlig neues politisches Leben aufflammen und ungemütliche Tabu-Themen aus der Zeit des aktiven Krieges werden offen angesprochen", betont Tschichow. Er ist überzeugt: Das Beste, was Selenskyj tun könnte, wäre der Verzicht auf eine zweite Amtszeit. "Das wäre das optimale Szenario für alle. Er wäre gleich der ultimative Held für alle." Tschischow bezweifelt aber, dass Selenskyj sich nach dem Krieg aus der Politik zurückzieht.
Unverhandelbare Grenzen, Angst vor der Einberufung
Mit Blick auf die nächsten Monate und wohl sogar Jahre des Krieges hält es Wolodymyr Fessenko für das Wichtigste, in der staatlichen Kommunikation eine "goldene Mitte" zwischen der realistischen Einschätzung des Kriegsgeschehens und den Zielen der Ukraine zu finden. "Die volle Wiederherstellung der ukrainischen Grenzen ist als Ziel unverhandelbar", betont er. "Darüber wird auch gar keine Diskussion geführt. Aber es gibt schon Debatten zwischen den Befürwortern des Sieges um jeden Preis und den Leuten, die eine vorsichtigere Taktik bevorzugen. Grundsätzlich gilt: Das Ziel bleibt gleich, doch es könnte auch schrittweise erreicht werden." Wer auf einen Mittelstreckenlauf hoffte, müsse sich auf einen Marathon einstellen.
Und während es unwahrscheinlich ist, dass sich die Stimmung in der Ukraine selbst langfristig radikal verändert, gibt es noch zwei Faktoren, die diese beeinflussen könnten. Zum einen ist das die fortlaufende Mobilmachung. Zu Kriegsbeginn hat sie sich vor allem an die sogenannte operative Reserve gerichtet: Menschen mit Kampferfahrung aus dem Donbass-Krieg. Die meisten Leute, die sich ohne besondere Militärerfahrung freiwillig meldeten, wurden entweder gleich oder nach kurzer Zeit vorerst zurückgeschickt. Doch je länger der Krieg dauert und je höher die Verluste sind, desto mehr betrifft die Mobilmachung auch Zivilisten. Die oft nicht offen angesprochene Angst vor der Einberufung liegt in der Luft.
Der andere Faktor ist der Winter. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass die Russen diesmal auf den Beschuss der Energieinfrastruktur verzichten, ist bei Defiziten in der ukrainischen Energieproduktion wieder mit Stromausfällen zu rechnen – gerade falls es kälter als im vorigen, milderen Winter werden sollte. "Im vergangenen Jahr gab es viel Enthusiasmus nach den militärischen Siegen in Charkiw und Cherson, das hat stark geholfen", sagt Heorhij Tschischow. "Sollten solche Erfolge ausbleiben und die Russen ihre Angriffe fortsetzen, werden wir sehen, wie die Menschen dies überstehen werden."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 26. August 2023 | 07:15 Uhr