Ukraine "Festung Bachmut": Der Krieg in der ukrainischen Popkultur
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09. Juni 2023, 04:46 Uhr
Es braucht Ablenkung - gerade in Kriegszeiten. Die ukrainische Musikszene scheint den Spagat zu schaffen: Sie stellt den Bezug zum Krieg her, ermöglicht jedoch auch Ablenkung und Unterhaltung. Einige Branchen übertreiben es jedoch mit ihrem Marketing und nutzen die russische Invasion auch als Vermarktungsinstrument.
Kaum ein Lied ist in der Ukraine aktuell beliebter als Fortezja Bachmut, zu Deutsch "Festung Bachmut". Der Song der Rockband "Antytila" wurde bereits mehr als 14 Millionen mal auf Youtube angeschaut. "Die Festung Bachmut, alle unsere Gebete sind dort und unser Herz hat einen Geist aus Stahl", singt der Frontmann über die Stadt im Donbass, um die die ukrainische Armee seit dem letzten Sommer kämpft. Es ist eine mächtige Rock-Hymne, ein Ohrwurm, der nicht nur patriotisch klingt, sondern auch nachdenklich macht. Der 35-jährige Sänger Taras Topolja war nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 mit anderen Bandkollegen den Kräften der ukrainischen Territorialverteidigung beigetreten und hatte mehrere Monate nahe der Front gedient. Das hört man dem Lied an.
Kriegslieder und Hits mit politischem Hintergrund sind für die Pop-Kultur der Ukraine kein Novum. Denn der Krieg im Donbass dauert ja bereits seit 2014, und so war es kein Zufall, dass die krimtatarische Sängerin Jamala ihren Beitrag zum Eurovision Song Contest 2016 der Deportation ihres Volkes zur Stalin-Zeit widmete. Sie gewann den Wettbewerb, doch erst der russische Angriffskrieg sechs Jahre später markierte eine Zeitenwende in der Welt der ukrainischen Musik: Künstler, die vor der Invasion hauptsächlich auf den russischen Markt setzten, wechselten endgültig ins Ukrainische.
Der Frühling wird kommen / Wir werden bis zum Ende stehen / Und der Krieg wird uns nicht brechen / Unser Glaube vereint Herzen / Die Ukraine wird für immer leben
Doch beschränkt sich die ukrainische Kriegsmusik auf patriotische Rock-Hymnen auf minimalistische Balladen darüber, dass der glückliche Frühling nach dem Krieg bestimmt irgendwann kommen wird, wie der Sänger Maks Barskich singt? Kaum. Es geht auch manchmal darum, einfach gute Tanzmusik zu produzieren oder auf andere popkulturelle Phänomene zu verweisen wie etwa in dem Lied "Wetschornyzi", das den Begrüßungssatz vom britischen Ex-Premier Boris Johnson, einer Kultfigur in der Ukraine, sampled.
Sonder-Briefmarken ausverkauft
Doch nicht nur in der Musik finden sich der Krieg und seine Facetten wider. Auch in der Gebrauchskultur ist er stark präsent. So gab die Ukrainische Post im Frühjahr 2022 eine limitierte Sondermarke heraus, auf der ein Soldat abgebildet ist, der einem russischen Kriegsschiff einen Stinkefinger zeigt. Der Auftakt zu einer Reihe von Sondermarken. Die gesamte Auflage von 500.000 herausgegebenen Marken war binnen sechs Tage ausverkauft. Ironischerweise sank der Kreuzer Moskwa, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, nach dem Einschlag der ukrainischen Raketen ausgerechnet innerhalb der kurzen Verkaufszeit der Marken.
Auch dazu folgte eine Briefmarke, ebenfalls zur Sprengung der Krim-Brücke im Oktober. Neben dem Verkauf in Postämtern oder im Internet wird die neueste Sondermarke stets im Rahmen einer größeren Installation vor der Kiewer Stadtverwaltung im Zentrum der Hauptstadt vorgestellt, wo sich die Bewohner Kiews gerne fotografieren lassen.
Eine Briefmarke wurde auch dem Jack Russel Terrier "Patron" gewidmet. Der Minenspürhund ist so etwas wie Knut der Eisbar einst für die Berliner war. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte den Hund mit einem Preis für seinen "selbstlosen Einsatz" geehrt. Die Briefmarken der Ukrainischen Post kommen bei den Ukrainern mehrheitlich gut an. Doch nicht jeder Verweis auf Krieg sorgt für Begeisterung. So erntete eine Getränkefirma viel Kritik, weil sie ihr Bier nach dem Dorf "Tschornobajiwka" benannte. Bekannt wurde der Ort, weil die ukrainische Armee russische Militärtechnik auf dem nahegelegenen, damals russisch besetzten Flughafen, mehrfach mit gezielten Luft- und Artillerieangriffen zerstörte.
No-Gos wie "Kombucha Butscha"
Für einen noch viel größeren Shitstorm sorgten außerdem Produktnamen wie "Kombucha Butscha" oder "Asowstahler Rettich", die dazu führten, dass im ukrainischen Parlament sogar ein Gesetzentwurf registriert wurde, der die Nutzung der Kriegsthematik für Marketingzwecke verbieten könnte. Durchkommen wird der Entwurf wohl nicht, da es auch genug gute, angebrachte Beispiele gibt.
Einige der beliebten Memes, die die ukrainische Pop-Kultur während der letzten 15 Kriegsmonate prägten, hatten auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Deutschland zu tun. Als Anfang des Jahres die Debatte über die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern ihren Höhepunkt erreichte, wurde das ukrainische Internet von Memes dominiert, die Scholz als eine Art russische Panzerabwehrwaffe zeigte. Es gab aber auch deutlich nettere Montagen mit dem Gesicht des Bundeskanzlers: Eines der meistgeteilten Bilder zeigte Scholz bei der Umarmung eines Leoparden. "Liebe ist, wenn sich jemand so an dir festhält wie Scholz an diesen Leoparden", hieß es in der Unterschrift.
Leopardenprints sind in Mode
Als die Entscheidung zur Lieferung dann nach langer Debatte kam, gingen die Verkaufszahlen der eigentlich längst aus der Mode gefallenen Kleidung mit Leopardenprints plötzlich stark nach oben, worauf viele Geschäfte nicht vorbereitet waren. Die Verkäufe bleiben bis heute stabil. Ähnlich sieht es mit dem Verkauf von Plüschleoparden und -geparden aus, die in der Ukraine ebenfalls sehr beliebt sind.
Die ukrainische Pop-Kultur befindet sich jedenfalls unverändert auf der Suche nach einer Balance zwischen dem Elend des Kriegs und der Notwendigkeit, zwischendurch auch einfach zu lachen und abzuschalten. Das zeigt nicht nur der Boom der ukrainischen Stand-up-Comedy, die eben die Probleme der Gegenwart sehr relevant und mit Humor anspricht, sondern auch Unterhaltungssendungen im Fernsehen, die seit dem Herbst wieder ausgestrahlt werden. Etwa das Anfang des Jahres von der Kiewer U-Bahn aus übertragene Finale der ukrainischen Version von The Voice stellte eine eindrückliche Mischung aus Krieg und Pop dar. Die nächste Staffel wird zwar aus Produktionsgründen in Polen gefilmt, setzt aber genau das gleiche Ziel vor sich: Die Ukrainer trotz des Krieges zu unterhalten, ohne das Geschehen an der Front aus dem Blick zu verlieren.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 15. April 2023 | 07:10 Uhr