Militäraufmarsch an der Grenze Wird Russland einen Krieg in der Ostukraine anfangen?

20. April 2021, 19:13 Uhr

Seit Ende März verschärft sich die Lage in der Ostukraine. Die Ukraine spricht von 80.000 russischen Soldaten an ihrer Grenze sowie auf der annektierten Krim. Während eine vollständige russische Invasion unwahrscheinlich bleibt, ist die Situation laut ukrainischen Experten doch gefährlich. Russland habe allerdings nur geringe Chancen, seine Ziele in der Ukraine durchzusetzen.

Mann vor Flagge
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Haben die Russen die Ostukraine im Visier? Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Seit mehreren Wochen steht die Ostukraine, wo seit Frühjahr 2014 prorussische Separatisten und die ukrainische Armee gegeneinander kämpfen, erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit. Russland zieht Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen, Kiew beklagt fast täglich neue Todesopfer. In westlichen Medien ist oft vom möglichen Wiederaufflammen des großen Krieges im Donbass die Rede. Nun hat auch der neue US-Präsident Joe Biden seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin ein Gespräch angeboten. Könnte die Lage in der Ostukraine tatsächlich außer Kontrolle geraten?

Direkter Einsatz der russischen Armee unwahrscheinlich

Die führenden Politikwissenschaftler der Ukraine gehen zwar nicht von einem offenen Krieg Russlands gegen die Ukraine aus, betrachten die Lage aber dennoch als durchaus ernst. "Rational gesehen ist es zwar so: Hätten die Russen einen großen Krieg gewollt, hätten sie diesen ganz plötzlich anfangen müssen", glaubt Wolodymyr Fessenko, ein renommierter Politikwissenschaftler, der das Zentrum für Angewandte Politische Forschung Penta anführt. "Die Geschichte kennt jedoch genug Beispiele, dass alleine die Eskalation der psychologischen Spannung zu einem Krieg führte. Zudem haben wir im Donbass inzwischen eine besondere Lage. Russland hat auf dem besetzten Gebiet mehrere Hunderttausend Pässe ausgegeben und kann jederzeit auf den Schutz der eigenen Bürger hinweisen."

"Das Szenario eines richtigen Krieges würde zu einer weiteren Verschlechterung der russischen Beziehungen mit dem Westen führen und wäre für Moskau ungünstig", sagte Olexij Haran, Professor an der Kiew-Mohyla-Akademie, dem MDR. "Von prorussischen Experten höre ich immer die These, Moskau sei nicht an einem Krieg interessiert, weil es den Bau von Nord Stream 2 zu Ende bringen muss. Es gibt aber auch ein anderes Szenario, nämlich dass die Separatisten mit Hilfe Russlands irgendeinen strategischen Ort besetzen, um eine günstigere Situation für die weiteren Verhandlungen zu schaffen. Dieses Szenario würde aber ebenfalls zu kritischen Spannungen mit dem Westen führen.“

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Gefechtsbereit: Ukrainsche Soldaten Bildrechte: imago images/Ukrinform

"Ich glaube nicht an einen direkten Einsatz der russischen Armee", sagt auch der Politologe Petro Oleschtschuk von der Kiewer Schewtschenko-Universität. "Die Eskalation an der Frontlinie ist aber gut möglich. Sie wird jedoch wohl im Rahmen des üblichen Beschusses stattfinden. Man will schon die Verteidigungsfähigkeit Kiews austesten. Ich kann mir dennoch nicht vorstellen, wie sie dadurch ihr Ziel erreichen können, den Frieden zu den Bedingungen Moskaus durchzusetzen. Keine ukrainische Regierung würde sich jemals darauf einlassen." Die ukrainische Armee sei ohnehin in einem völlig anderen Zustand als 2014, fügt Wolodymyr Fessenko hinzu: "Es wäre, Stand jetzt, ein unmögliches Unterfangen, zum Beispiel den gesamten Donbass zu besetzten." Die Separatisten kontrollieren aktuell nur etwa ein Drittel der Industrieregion.

Das Minsker Abkommen ist für die Ukraine ungünstig

Der Hintergrund der aktuellen Spannungen ist kompliziert. Seit Frühjahr 2014 wird im Donbass gekämpft, mehr als 13.000 Menschen sind dabei nach UN-Angaben ums Leben gekommen. Nach einer langen heißen Phase beschränkte sich der Konflikt nach der Verabschiedung des Minsker Friedensabkommens im Februar 2014 vor allem auf die Frontlinie. Im Idealfall sollte das Minsker Abkommen als eine Art Road Map der Reintegration der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in die Ukraine dienen. Nach dem Sieg von Wolodymyr Selenskyj bei der Präsidentschaftswahl 2019 gab es wieder leise Hoffnungen, dass das Abkommen umgesetzt werden könnte: Es wurden Truppen an bestimmten Orten abgezogen und zum ersten Mal seit längerem Gefangene ausgetauscht.

Das Minsker Abkommen, mitten in einem militärischen Debakel Kiews verabschiedet, ist jedoch prinzipiell ungünstig für die Ukraine. Die besetzten Gebiete sollen demnach nach der Austragung von Kommunalwahlen erweiterte Autonomierechte bekommen. Die Wahlen würden aber unter der Regie der Separatisten stattinden, Kiew hätte damit keine Kontrolle, ob sie wirklich fair und frei waren. Das hält auch der ukrainische Präsident Selenskyj, den die Opposition einst als russlandfreundlich abstempelte, für inakzeptabel. Die Ukraine fürchtet, auf diese Art würden die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk lediglich legitimiert. Selenskyj hat seine Position gegenüber Moskau seit seinem Amtsantritt verschärft und geht inzwischen gegen den Kreml vor. Unter anderem belegte er den mächtigen persönlichen Freund Putins, Wiktor Medwedtschuk, mit Sanktionen und schaltete drei prorussische Nachrichtensender aus dessen Wirtschaftsimperium ab.

Dem Politologen Petro Oleschtschuk zufolge könnten ausgerechnet die Sanktionen gegen Medwedtschuk die Schlüsselrolle bei den aktuellen Spannungen gespielt haben: "Vor allem die Schließung von drei prorussischen Sendern ist im Prinzip das Ende der letzten Hoffnung Moskaus, die Kontrolle über die Ukraine mit politischen Mitteln zurückzugewinnen. Die beliebte prorussische Partei Oppositionsplattform leidet bereits darunter. Deswegen sehen wir den verzweifelten Versuch, die Ausgangslage durch Säbelrasseln wieder herbeizuführen." Auch nach Ansicht von Olexij Haran spielt die Abkehr Selenskyjs von der liberaleren Russland-Politik eine Rolle. "Selenskyj erkannte das Scheitern seiner Friedenspolitik schnell. Die Ukraine ist auch unter ihm nicht bereit, gewisse rote Linien zu überqueren. So kehrt Putin nach einer Wartepause zur bloßen Einschüchterung Kiews zurück."

"Putin übergibt die Ukraine dem Westen"

Der Politikwissenschaftler Wolodymyr Fessenko sieht zwei Ziele, die Russland unbedingt erreichen möchte: "Kiew soll zu direkten Verhandlungen mit den Separatisten gezwungen werden. Das soll zeigen, dass die Volksrepubliken selbstständig sind und es sich um einen Bürgerkrieg handelt. Und der Kreml will eben, dass die reintegrierten Separatistengebiete nach der Austragung der Kommunalwahlen ein trojanisches Pferd mit großem russischen Einfluss innerhalb der Ukraine sind". Doch es sei sogar im Falle einer herben militärischen Niederlage sehr unwahrscheinlich, dass sich Kiew darauf einlässt: "Die Russen haben gedacht, dass Selenskyj schwach und unerfahren ist und den russischen Bedingungen zustimmt. Sie haben sich total verkalkuriert, denn sie verstehen die moderne Ukraine überhaupt nicht."

Am Ende tue Putin lediglich alles dafür, um die Ukraine noch stärker an den Westen zu binden, fasst Olexij Haran von der Kiew-Mohyla-Akademie seine Sicht der Dinge zusammen. "Früher ist Präsident Selenskyj zum Beispiel beim Thema NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ausgewichen. Er äußerte sich nicht dagegen, sprach aber ungerne darüber. Nun setzt er sich laut für den Beitritt ein, weil er schlicht dazu gezwungen wird." Und ausgerechnet das illustriere den Misserfolg der russischen Ukraine-Politik der letzten Jahre am besten. Haran schließt aber auch nicht aus, dass die Russen die aktuelle Eskalation einfach nur dazu nutzen, mit dem Westen zu verhandeln: "Denn eines hat Putin bereits erreicht: US-Präsident Biden bietet ihm ein Treffen an. Genau das braucht er, um sich weiterhin als wichtiger Mitspieler der internationalen Politik zu präsentieren."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 17. April 2021 | 07:15 Uhr

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