Ukraine-Krieg Stell dir vor, es ist Krieg und keiner schaut (mehr) hin
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08. Dezember 2023, 09:42 Uhr
Fünf Kilometer vor der ukrainischen Front humanitäre Hilfe leisten – das macht Anna und Enrico keine Angst. Was schmerzt, ist die Gleichgültigkeit in Deutschland. Im Schatten neuer Krisen und eigener Alltagssorgen schwindet die Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine, die Spenden sinken. Schwer zu akzeptieren, wenn man das Leid der Ukrainer immer wieder persönlich erlebt und kein Ende abzusehen ist. Wie also weitermachen?
- Die Spendenbereitschaft für die Ukraine ist in Deutschland 2023 im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen.
- Ehrenamtliche Helfer berichten, dass Menschen vor allem durch Bilder und Live-Videos aus der Ukraine zum Spenden animiert werden.
- Spenden in die Ukraine zu bringen ist durch neue bürokratische Hürden komplizierter geworden.
Ein Schiffscontainer im Leipziger Norden, halbvoll mit Desinfektionsmittel, Verbandszeug, und medizinischen Geräten: Ein junges Paar sitzt inmitten der Vorräte auf einem Klappstuhl und einer Umzugskiste und erzählt von einem Leben zwischen der ukrainischen Front und deutscher Alltäglichkeit.
Anna und Enrico sammeln Spenden für die Ukraine und fahren selbst regelmäßig an die Front, seit fast zwei Jahren. "Wir sind da so reingeschlittert", sagen sie. Warum? "Helfersyndrom", sagt Enrico, "und ich hatte vorher schon Erfahrungen bei der Feuerwehr und dem Deutschen Roten Kreuz gesammelt."
2022, in der zweiten Kriegswoche, hat Enrico seine Sachen gepackt, ist zu einem Freund ins Auto gestiegen und in Richtung Ukraine aufgebrochen. "Blauäugig", sagt der 40-Jährige. Aber es hat funktioniert. Er und sein Freund schrieben nach Deutschland, erklärten ihrem Umfeld, was gebraucht wird. Als Enrico zurückkam, war das Gästezimmer voll mit Spenden, auch im Flur standen Kisten.
Vier Monate später gründeten Anna und Enrico ihre eigene Hilfsorganisation, die "International Aid Group", spezialisiert vor allem auf humanitäre Hilfe im medizinischen Bereich. "Wir haben Ärzte, Rettungssanitäter, Psychologen, die sich bei uns engagieren", sagt Anna. Finanziert wird die Organisation von Spenden und Mitgliedsbeiträgen, am Laufen gehalten wird sie von Enricos und Annas Freizeit.
Spenden für Ukraine sind eingebrochen
Ein Vollzeit-Job als Projektleiter bei einem Automobilhersteller, ein Teilzeit-Job als Reitlehrerin, nebenbei Spendenaktionen organisieren und alle drei Monate in die Ukraine fahren. Und es ist kein Ende in Sicht. Anfangs seien sie alle zwei Wochen in der Ukraine gewesen, doch das war nicht aufrecht zu erhalten, erklärt Anna.
"Es dauert und das zerrt an deinem Privatleben, an deiner Familie", sagt Enrico. Und es sei schlimm, bei jeder Fahrt in die Ukraine wieder neue Zerstörung zu erleben und über die Zeit immer mehr Bekannte und Freunde vor Ort an den Krieg zu verlieren. Dennoch: "Von unserer Hilfstruppe sind trotzdem alle noch dabei, alle noch genauso motiviert."
Du triffst in der Ukraine Menschen, die alles verloren haben und kommst dann zurück nach Deutschland, wo sich die Leute darüber aufregen, dass der Sprit gerade fünf Cent teurer ist.
Doch auch auch wenn bei Anna und Enrico die Motivation ungebrochen ist: Ihre Arbeit wird schwieriger. Auch weil die Unterstützung aus der Bevölkerung schwindet: "Mit dem Jahreswechsel von 2022 zu 2023 sind die Geldspenden um 80 Prozent eingebrochen. Jetzt bekommen wir vielleicht noch zehn Prozent von dem, was anfangs gespendet wurde", erklären sie.
Auch der Deutsche Spendenrat beobachtet einen Rückgang der Spendenbereitschaft in Deutschland. Sprecher Lars Kolan sagte MDR AKTUELL, im März 2022, kurz nach Ausbruch des Krieges, habe man über 900 Millionen Euro eingenommen. 2023 sei die Spendenbereitschaft jedoch eingebrochen. "Von Januar bis August 2023 wurden 18 Prozent weniger eingenommen als im Vorjahreszeitraum."
Man gewöhnt sich in den meisten Fällen auch an die ganz schlimmen Katastrophen im Leben.
Menschen haben sich an den Krieg in der Ukraine gewöhnt
Nun wirft auch noch der Gaza-Krieg seinen Schatten auf die Ukraine. Das bekommen auch andere Hilfsorganisationen zu spüren. "Der Angriff auf die Ukraine wird nun medial durch den Gaza-Krieg ersetzt, das ist schade", sagte der Vorsitzende des Vereins Ukraine-Hilfe Berlin, Oleg Motus, in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Auch hier hatte man bereits zuvor eine rückläufige Spendenbereitschaft festgestellt.
Dazu kommt ein genereller Gewöhnungseffekt. Der ist Angstforscher Jürgen Margraf zufolge normal: "Man gewöhnt sich in den meisten Fällen auch an die ganz schlimmen Katastrophen im Leben. Nach einer gewissen Zeit ist man wieder auf dem Ausgangsniveau, egal was sich vorher ereignet hat", sagte der Psychologe der Deutschen Presse-Agentur. Dieser Mechanismus wirke auch in Bezug auf den Krieg.
Hinzu komme, dass der Schockeffekt des Unbekannten nach einiger Zeit nachlasse. Dass es mitten in Europa wieder Krieg gebe, sei anfangs als hochgradig verstörend empfunden worden. Dieses Stadium sei jedoch bereits wieder vorbei. Es sei schwer, aber sicher nicht unmöglich, gegen diese psychologischen Prozesse anzugehen, sagte Margraf. Politiker könnten gegensteuern, indem sie die Relevanz des Krieges auch für Deutschland herausstellten.
Spendenaktionen: Bilder von der Front bringen Geld
Kamen die Menschen zu Beginn des Kriegs noch von selbst mit Spenden, die weit mehr als einen halben Schiffscontainer gefüllt haben, so müssen sich Anna und Enrico nun also aktiv und mit Nachdruck um Spenden bemühen. Dabei seien es vor allem selbst aufgenommene Bilder und Videos aus der Ukraine, die die Menschen zum Spenden bewegten, sagen sie.
"Bilder machen am meisten mit den Menschen", sagt Anna. "Sie sehen das Leid vor Ort und auch, dass wir wirklich dort sind und helfen." Sie und Enrico erklären über Social Media, was sie vor Ort besorgen möchten und bitten die Menschen, dafür etwa bis zum nächsten Morgen zu spenden. "Nahrung und Ähnliches kann man ja auch in der Ukraine kaufen", erklärt Anna. Die Unmittelbarkeit und Transparenz dieses Vorgehens komme gut an.
Im Dezember seien es vor allem Feuerwehr-Ausrüstung und Kälteschutz-Kleidung, die sie in die Ukraine mitnähmen, erklärt Enrico. Sonst würden vor allem medizinisches Equipment, etwa Desinfektionsmittel für Krankenhäuser, benötigt.
Ukraine: Korruption im Spendengeschäft
Transparenz sei beim Spendensammeln für die Ukraine besonders wichtig, erklärt Enrico – denn es gebe viel Korruption im Land. Zollämter, Polizisten, städtische Haushaltsgelder - Veruntreuung gibt es Medienberichten zufolge an vielen Stellen. Daher hat die EU die Milliardenhilfen, die in die Ukraine fließen, schon Ende 2022 an die Umsetzung von Reformen zur Beendung der Korruption gekoppelt.
Dem internationalen Antikorruptionsgremium Greco zufolge zeigen sich bei der Umsetzung dieser Reformen bereits Fortschritte. Auch Enrico und Anna glauben, die Effekte der Reformen zu spüren. Die sind für sie jedoch nicht nur positiv: "Früher sind wir an der Grenze einfach mit Blaulicht durchgefahren, jetzt warten wir sieben, acht Stunden, und dann zerlegen sie uns das ganze Auto", sagt Anna. Ständig gebe es neue Regeln und Formulare, die zu beachten seien. "Das macht es so kleinen Hilfsorganisationen wie uns wirklich schwer", erklärt Enrico. Aber für die Leute vor Ort mache man eben trotzdem weiter.
Leipziger Helfer: Heimkommen fällt schwer
Anders als die meisten Menschen in Deutschland können Anna und Enrico die Kriegsbilder nicht einfach abschalten und vergessen. Bei ihren Touren in der Ukraine sind sie in Kranken- und Waisenhäusern unterwegs, erleben Raketenbeschuss und fahren meist bis auf fünf Kilometer an die Front heran. Angst? "Dafür bleibt uns dort gar keine Zeit", sagt Anna. Es sei immer alles genau durchgeplant.
Vor Ort erleben sie dann das Leid, die Bedürftigkeit, aber auch die Dankbarkeit der Menschen immer wieder aufs Neue. Je ärmer die Menschen seien, je mehr vom Schicksal gebeutelt, umso mehr wollten sie etwas zurückgeben, sagt Anna. "Da stehst du in Cherson nach einem Bombenangriff, in einem Haus das halb unter Wasser steht und bekommst dort noch das letzte saubere Halstuch geschenkt."
All das Leid – was macht das mit einem? "Bei uns sorgt es eigentlich nur dafür, dass wir immer noch mehr machen wollen", sagen Anna und Enrico. Schlimm sei das Heimkommen gewesen, vor allem am Anfang: "Du triffst in der Ukraine Menschen, die alles verloren haben, die keine Ahnung haben, wie es weitergeht und kommst dann zurück nach Deutschland, in dein normales, warmes Leben, wo sich die Leute darüber aufregen, dass der Sprit gerade fünf Cent teurer ist", sagt Enrico.
"Es sind zwei Seiten einer Medaille", sagt Anna, "auf der anderen Seite macht es dich nämlich auch extrem dankbar für das, was du hast und extrem demütig dafür, dass du hier leben darfst."
(ewi/dpa)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 03. Dezember 2023 | 06:35 Uhr