Ehe im Krieg Ukraine: Nach Heiratsboom steigt Scheidungsrate wieder an
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19. September 2023, 17:34 Uhr
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwingt Millionen ukrainische Ehepaare dazu, getrennt zu leben. Frauen und Kinder sind ins Ausland oder in sicherere Regionen der Ukraine geflüchtet, die Männer dagegen sind zu Hause geblieben oder kämpfen in der Armee. Nachdem der Beginn der russischen Großinvasion einen wahren Eheboom ausgelöst hatte, werden nun wieder mehr Scheidungen eingereicht.
Alina ist Mitte 30 und bald von ihrem Mann geschieden. In den ersten Kriegstagen ist sie mit ihrer kleinen Tochter aus der ostukrainischen Großstadt Dnipro nach Warschau geflohen, während ihr Mann in der Stadt geblieben ist. Dann, rund ein Jahr nach Beginn der russischen Großinvasion, wurde klar, dass sich das Ehepaar trennen würde. "Es ist eine schwierige Geschichte für mich, wir waren in unserer Beziehung vor dem Krieg eigentlich an einem guten Punkt. Zumindest habe ich das gedacht", erklärt Alina. "Mit jedem Monat wurde es aber klarer, dass er sich von mir entfernt. Er lebt dort ein anderes Leben – ein stressiges, aber sehr aktives, engagiert sich viel für die Armee, ist quasi immer in Bewegung. Ich muss mich dagegen erst einmal darum kümmern, hier Anschluss zu finden und um die Kita. Irgendwann hatten wir fast keine Gesprächsthemen mehr – und er hat die Scheidung eingereicht."
So wie Alina und ihrem Mann scheint es vielen ukrainischen Paaren zu gehen. Zwar sank die Scheidungsrate im ersten Halbjahr 2022 laut Justizministerium in Kiew um 40 Prozent und es gab stattdessen einen wahren Heiratsboom. "Das war ein Moment, in dem niemand wusste, ob man morgen überhaupt noch lebt", schreibt etwa die ukrainische Psychologin Lilija Kutscher. Mittlerweile werden aber wieder deutlich weniger Ehen geschlossen und im ersten Halbjahr 2023 stieg die Scheidungsrate wieder um ein Drittel an. Allerdings blieb sie noch hinter den meisten Werten aus den Jahren vor dem Krieg gegen die Ukraine zurück.
Krieg und Flucht entfernen Eheleute voneinander
Dennoch wiesen Familienrechtsanwälte schon im letzten Jahr nahezu einstimmig darauf hin, dass die Anfragen zu Scheidungen deutlich anstiegen – sie hätten mit rund doppelt so vielen Fällen zu tun wie zuvor. Was also Alina aus Dnipro und ihrem Mann passiert ist, hatten viele im Falle eines längeren Krieges von Anfang an befürchtet: Wenn Ehepaare weit voneinander entfernt leben, vielleicht sogar in unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlicher Sicherheitslage, und auch noch persönliche Konflikte oder andere Probleme hinzukommen, führt das verstärkt zu Scheidungen.
Der Krieg ist meist nur der Katalysator für Probleme, die sich in der Familie bereits vorher angehäuft haben.
Doch wer initiiert bisher tendenziell die Scheidungen – die Frauen im Ausland, die ein neues Leben angefangen haben, oder die Männer die tagtäglich den Stress des Krieges in der Ukraine aushalten müssen? Eine Statistik gibt es dazu zwar nicht – und der Kiewer Anwalt Mychajlo Illjaschew warnt ausdrücklich vor Verallgemeinerungen. "Scheidungen sind sehr unterschiedlich. Jede zerfallende Familie hat ihre eigene einzigartige Geschichte", sagt er. "Was ich aus unserer Praxis aber definitiv sagen kann: Der Krieg ist meist nur der Katalysator für Probleme, die sich in der Familie bereits vorher angehäuft haben."
Davon berichtet auch Olena: "Die Beziehung zu meinem Mann war schon vor dem Krieg schwierig. Daran ist nicht primär der eine oder der andere schuld, es hat irgendwann halt nicht mehr funktioniert", sagt die Frau aus Kiew, die nun in Amsterdam lebt. "Ich habe hier nach der Flucht schnell jemanden aus der Diaspora kennengelernt – und plötzlich hat es Klick gemacht. Da wusste ich, dass etwas passieren muss."
Scheidungsprozess im Krieg erschwert
Wenn sich Eheleute einvernehmlich trennen wollen, keine gemeinsamen Kinder haben und kein Vermögen aufteilen müssen, kann eine Scheidung in der Ukraine eigentlich recht schnell gehen. Sie muss in diesen Fällen nicht vor Gericht verhandelt werden, sondern kann auch beim Standesamt vollzogen werden. Und sogar, wenn für eine Scheidung ein Gericht einbezogen werden musste, dauerten solche Verfahren vor der russischen Großinvasion nur zwei bis drei Monate. Nun allerdings sind die Gerichte überlastet und Paare warten mindestens ein halbes Jahr auf ihre Scheidungsverfahren.
Hinzu kommt, dass Scheidungen, die vor Gericht landen, oft kompliziert seien, sagt Anwalt Myhajlo Illjaschew dem MDR: "Wenn sich eine der Parteien dann noch im Ausland aufhält, erschwert das das Ganze noch zusätzlich. Vor allem dann, wenn diese Person eigentlich kein Interesse an der Scheidung hat." Der Krieg verzögert also die Scheidungsverfahren gewaltig, so dass die aktuellen Scheidungsraten nicht unbedingt den tatsächlichen Stand der Dinge widerspiegeln, sondern eher hinter der Realität hinterherhinken.
Viele Ehepaare schaffen es trotz Krieg
Klar ist: Je länger der Krieg dauert, desto mehr Scheidungen wird es geben. Obwohl die Statistik verzögert reagiert, ist die Psychologin Lilija Kutscher aber fürs Erste erleichtert, dass sich die Zahlen halbwegs in Grenzen halten: "Bei der Statistik atme ich ein wenig auf, weil es entsprechend den Umständen dieser außergewöhnlichen Krisensituation doch noch ein gutes Ergebnis ist", schreibt sie. "Ich arbeite sowohl mit Klientinnen im Ausland als auch mit solchen, die in der Ukraine geblieben sind, deren Männer aber bei der Armee kämpfen. Und ich muss sagen, dass viele Partner mit all ihrer Kraft und ihrem Können durchhalten und die Herausforderungen so gut meistern, wie sie können. Es ist schwer, aber viele schaffen es trotzdem."
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Thüringen Journal | 24. August 2023 | 19:56 Uhr