Persönlicher Bericht Ukraine: Zurückkehren oder nicht?
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22. Juni 2023, 11:08 Uhr
Nach über einem Jahr im Exil kehrt MDR-Ostbloggerin Anna Kolomiitseva in ihre Heimatstadt Charkiw zurück. Trotz der Zerstörungen und der schwierigen Umstände ist sie überwältigt und berührt von der Stärke und dem Optimismus der Einwohner, die ihr Leben wieder aufbauen und das Beste aus der Situation machen.
Die Zugfahrt von Berlin nach Charkiw dauert 30 Stunden. Zehn Stunden Fahrt quer durch Polen habe ich schon hinter mir. Ich habe mir sicherheitshalber eine Karte in der ersten Klasse besorgt und reise gemütlich mit der einzigen Mitfahrerin, einer netten jungen Frau, die ebenfalls nach Charkiw will.
Seitdem ich Charkiw Ende März 2022 verlassen habe, ist mehr als ein Jahr vergangen. Als ich im März 2022 noch zu Hause war, musste ich mit ansehen, wie russische Raketen Tag für Tag meine Heimatstadt, die ich sehr liebe, zerstören. Die Einwohner flüchteten, die Straßen leerten sich, Metro und Straßenbahnen verkehrten nicht mehr, die Geschäfte waren zu – und die Fassaden, die ich seit meiner Kindheit kannte, wurden zu Trümmern.
Als ich kurze Zeit später mit einem kleinen Koffer in Berlin ankam, konnte ich es mir nicht vorstellen, dass ich mir in der deutschen Hauptstadt ein neues Zuhause werde organisieren müssen – und das noch für so lange! Doch jetzt, über ein Jahr nach Kriegsbeginn, will ich herausfinden: Gehöre ich noch in die ostukrainische Metropole oder vielleicht schon endgültig nach Berlin? Und so steige ich in den Zug und unternehme die 30-stündige Fahrt.
Keiner aus meiner Familie ist jetzt in Charkiw, und mir war bewusst, dass ich im Kriegsgebiet auf mich allein gestellt sein werde. Aber nach der Befreiung der Charkiwer Region durch die ukrainischen Streitkräfte im September 2022 ist die Lage besser geworden – das sagten mir alle Freunde, die noch in der Stadt sind. "Blackouts und Beschuss sind vorbei, du kannst ruhig kommen!"
Nach einem Jahr wieder in Charkiw
Ich komme pünktlich um 14:00 Uhr am Charkiwer Hauptbahnhof an und nehme ein Taxi. Der Fahrer fragt, wie lang ich weg war und wie ich jetzt die Stadt finde. "Sie ist wunderschön", sage ich gerührt. Meine Wohnung finde ich hell und unbeschädigt vor – bis auf ein kleines Loch in einer Fensterscheibe, verursacht durch ein Stück Streumunition, das bis zum fünften Stock hinauf geflogen war.
Ich stürze mich in das Leben der Stadt und besuche gleich am Anreisetag einen Yoga-Unterricht. Die Trainerin ist vor ein paar Monaten aus dem Exil zurückgekehrt. Der Saal ist voll, es geht ihr geschäftlich gut. Genauso wie Olga, einer Masseurin und Physiotherapeutin, die ich ebenfalls am Arbeitsplatz besuche. Sie kam mit Mann und Tochter aus Lwiw wieder nach Charkiw, im Winter, als es noch Stromausfälle gab. "Mein Mann und ich hatten eines Abends ein Gespräch und waren uns einig: Wir wollen zurück!". Viele Kundinnen und Kunden von Olga hatten die Stadt verlassen, deshalb machte sie sich Sorgen, ob sie wieder gut verdienen kann. Doch neue Kundschaft ist schnell erschienen, und Olga ist glücklich.
Glücksmomente in der Heimat
Glück liegt auch in der Luft, in dem Duft des Flieders und in dem Raf-Kaffee, den ich in meinem Stammcafé trinke. Dieses Getränk – Espresso mit Sahne und Sirup – kann ich in Deutschland nicht genießen, deshalb bestelle ich eine große Tasse. Der junge Mann an der Theke kennt mich aus der Vorkriegszeit und begrüßt mich. Sein Café hat er im Winter dieses Jahres wieder aufgemacht. Und obwohl ich durchs Fenster ein beschädigtes Wohnhaus sehe, scheinen viele Dinge in Charkiw so wie früher zu sein: meine Lieblingslokale, die Sprachschule, wo ich früher gearbeitet habe, sogar der Verkäufer im Kiosk in der U-Bahn, den ich seit meiner Schulzeit kenne.
Die U-Bahn ist kostenlos, dafür muss man bis zu 20 Minuten auf den Zug warten. Die Waggons sind voll, aber ich merke, dass die Studierenden, die früher oft in der U-Bahn zu sehen waren, jetzt weg sind. Besonders merkt man das an der Station "Historisches Museum", die nahe der Universität liegt. Dafür sehe ich hier riesengroße Gemälde, die Kinder im Frühjahr letzten Jahres gemalt haben, als die U-Bahn noch als Luftschutzraum diente. Deren Entstehungsprozess hat Oleksandr Osipow, ein Charkiwer Fotograf, dokumentiert, dessen Ausstellung ich nun besuche.
Für immer in die Ukraine zurückgehen?
Dort treffe ich viele Bekannte, die sich freuen, mich zu sehen, und gleichzeitig fragen: "Bist du jetzt für immer zurück?" Traurig verneine ich und füge hinzu: "Aber später bestimmt". Um nach Hause zu kommen, rufe ich ein Taxi: Die U-Bahn schließt um 21:30 Uhr und bis zur Sperrstunde um 23:00 Uhr sind die Preise jetzt am höchsten. Während der Fahrt geht der Luftalarm an, aber wir brausen zielstrebig weiter. Auf Sirenen scheint niemand hier zu achten. Am Tag davor habe ich in meinem Hof sogar eine Familie bei Luftalarm grillen sehen.
Ich aber prüfe fleißig, warum die Sirene heult. Man kann sich in Telegram-Chats informieren, was genau im Anflug ist – ob Flugroboter, Flugzeuge oder Raketen – und wohin die Objekte fliegen. Besonders gefährlich sind die S-300 Raketen aus dem russischen Belgorod, die nur 40 Sekunden bis nach Charkiw brauchen und nicht abgeschossen werden können.
Raketenbeschuss lässt Nachbarn kalt
Eines Abends erlebe ich einen solchen Raketenbeschuss – beim Kochen, mit einem Weinglas in der Hand am Herd stehend. Als die Nachricht kommt, stürze ich aus der Wohnung in den Flur – das ist der einzige Raum in meinem Haus, wo sich zwischen mir und dem Fenster mindestens zwei Wände befinden, so wie es der Zivilschutz für Luftangriffe empfiehlt. Als ich mit dem Handy und einem Glas Wein im Treppenhaus stehe, sehe ich meine Nachbarn, die ihr Hündchen spazieren führen wollen. Sie zeigen sich vom Fliegeralarm recht wenig beeindruckt: "Das nächste Mal, wenn Sie mit Wein in den Flur gehen, klingeln Sie bei uns", scherzt meine Nachbarin.
Die Plakate in der Innenstadt verkünden aber: "Charkiw ist eine Heldenstadt". Das stimmt auch, doch bei den Einwohnern merke ich keine Spur von einer "Heldentum-Arroganz". Sie freuen sich, dass sie arbeiten und das Leben genießen können. "Charkiw lebt und arbeitet!", zitiert meine Freundin und Kollegin Viktoria unseren Bürgermeister, als wir zusammen durch den Schewtschenko-Park gehen. Obwohl Viktoria fließend zwei Fremdsprachen spricht, wollte sie nicht ins Ausland fliehen und blieb zu Hause. Das bereut sie nicht, obwohl sie viel Schreckliches erlebt hat. Genauso wie viele männliche Freunde, die ich treffe: Jeder erzählt mindestens eine Geschichte, wie er unter Beschuss kam.
Charkiw ist Charkiw geblieben
Eine solche Geschichte höre ich mir an, während wir in einem Einkaufszentrum, das im Sommer 2022 von einer russischen Rakete zerstört wurde, Kaffee trinken. Jetzt aber ist es wiederaufgebaut und sieht so aus, als wäre nichts passiert. Ich wusste schon, dass Charkiw tapfer ist. Aber im Krieg sich selbst nicht aufzugeben, sein Wesen nicht zu verlieren, ist eine Fähigkeit, die mich überrascht hat und die Liebe zu meiner Heimatstadt aufs Neue entfacht hat.
Denn Charkiw ist trotz all der Kriegszerstörungen das Charkiw geblieben, das ich kenne und liebe. Das fasziniert mich – ich hätte nicht gedacht, dass es möglich ist. Als ich nach zehn Tagen in den Zug Richtung Westen steige, steht auf meinem T-Shirt das Wort "Charkiw", und ich weiß, wohin ich gehöre – auch wennn es zunächst einmal wieder nach Berlin geht.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 17. Juni 2023 | 07:17 Uhr