Eine Hand wählt auf einem Dsplay eine Sprache aus
Auch russischsprachige Ukrainer entscheiden sich immer häufiger für die ukrainische Sprache – zumindest im Gespräch mit Fremden, zum Teil aber auch im Privatleben. Bildrechte: imago images/YAY Images

Ukraine-Krieg Ukrainer wollen nicht mehr Russisch sprechen

20. Juni 2022, 05:00 Uhr

Mit seiner Invasion in die Ukraine hat Wladimir Putin oft das Gegenteil von dem erreicht, was er sich dem Vernehmen nach erhofft hatte. Statt die Besatzer mit Blumen zu begrüßen, leisten die Ukrainer erbitterten Widerstand, statt wieder Teil der angeblichen "russischen Welt" zu werden, erstarken sie als eigenständige Nation. Das schlägt sich auch in der Sprachfrage nieder: Viele russischsprachige Ukrainer wechseln zum Ukrainischen über.

Mann vor Flagge
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Die Sprachfrage ist in der Ukraine relativ komplex. Nach einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Zentr Rasumkowa von 2017 war Ukrainisch für 68 Prozent der Ukrainer die Muttersprache. 14 Prozent gaben Russisch als ihre Muttersprache an, für 17 Prozent galten Russisch und Ukrainisch als gleichberechtigte Muttersprachen. Während Ukrainisch vor allem im Westen des Landes und Russisch im Südosten gesprochen wurde, war das Russische in der Hauptstadt Kiew vor dem russischen Angriff auf die Ukraine mindestens genauso präsent wie das Ukrainische.

Mit Fremden spricht man Ukrainisch

Ein Demonstrant mit einer Wladimir-Putin-Maske
Wladimir Putin liest das ukrainische TV-Programm. Nur drei Wochen vor Kriegsbeginn – Russland zog seine Truppen bereits entlang der ukrainischen Grenze zusammen - protestierten diese Kiewer gegen den Gebrauch der russischen Sprache im ukrainischen Fernsehen. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

Das ändert sich gerade, glaubt Danylo Skrypa, der Manager eines Restaurants im Kiewer Randbezirk Obolon. "Es gab zwar schon länger die Tendenz, dass Ukrainisch immer mehr benutzt wurde. Nun erlebe ich meine Gäste aber wirklich anders. Selbst wenn die Menschen untereinander Russisch reden, sprechen sie unsere Kellner meist auf Ukrainisch an. Mein Eindruck ist: Wer privat miteinander immer Russisch gesprochen hat, macht das meist immer noch. Mit Unbekannten redet man dagegen größtenteils Ukrainisch, das war früher nicht so."

Freiwilliger Sprachwechsel

Einige russischsprachige Ukrainer wechseln sogar im Privatleben die Sprache – so auch die in Kiew lebende und aus dem südukrainischen Krywyj Rih stammende Ljubow Narischna, die 27 ist und in einer Werbeagentur arbeitet. "Ich habe Russisch mit den ersten in Kiew einschlagenden Raketen und mit den ersten russischen Panzern in meiner Geburtsstadt vergessen. Ganz ehrlich: Ich schäme mich dafür, dass ich das nicht früher gemacht habe", sagt Narischna, die früher fast nur Russisch sprach. Sie würde sich wünschen, dass alle Ukrainer genauso wie sie handeln, verstehe aber, dass es Zeit braucht. "Für mich fühlte es sich aber auf einmal widerlich an, Russisch zu sprechen. Solange russische Sprache, Musik und Ähnliches als Einflussmittel Moskaus benutzt werden, sollte man sie meiden."

Welche Unterschiede gibt es zwischen Ukrainisch und Russisch?

Ukrainisch wird von etwa 32 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen. Damit hat es nach Russisch und Polnisch die dritthöchste Sprecherzahl unter den slawischen Sprachen. Wie Russisch verwendet Ukrainisch das kyrillische Alphabet, allerdings mit einigen eigenen Zeichen, die es im Russischen nicht gibt. Erhebliche Unterschiede gibt es beim Wortschatz: Er stimmt nur zu gut 60 Prozent mit dem russischen überein, wesentlich mehr Vokabeln teilt Ukrainisch mit Belarussisch und Polnisch. Auch in der Grammatik, insbesondere beim Satzbau und den Zeitformen, gibt es deutliche Unterschiede.

Im Zarenreich, zu dem der östliche Teil der heutigen Ukraine gehörte, wurde Ukrainisch aus Angst vor separatistischen Tendenzen unterdrückt. Der bedeutendste ukrainische Dichter Taras Schewtschenko (1814-1861) wurde für seine ukrainischen Gedichte in die Verbannung geschickt. Im südwestlichen Teil der heutigen Ukraine, der damals als Kronland Galizien und Lodomerien zur habsburger-Monarchie gehörte, konnte sich die Sprache dagegen relativ frei entfalten. Daraus, und aus der Unterdrückung zu Sowjetzeiten, erklärt sich die heutige sprachliche Zweiteilung des Landes.

Wie verrät der Akzent einen Russen in der Ukraine?

Trotz einiger Gemeinsamkeiten zwischen der ukrainischen und der russischen Sprache können Russen bestimmte ukrainische Wörter nicht korrekt aussprechen. Während des Ukraine-Krieges verriet der Akzent deshalb viele russische Spione und Saboteure, so jedenfalls eine weitverbreitete Legende. Ein Wort, das besonders geeignet ist, Russen zu entlarven, ist "Paljanyzja" (паляниця) - die Bezeichnung für eine traditionelle Brotsorte. Russen, die im Alltag keinen Kontakt mit der ukrainischen Sprache haben, können darin gleich zwei Aussprachefehler machen.

Im untenstehenden Twitter-Video bittet das ukrainische Kind den ortsfremden Autofahrer, "Paljanyzja" zu sagen. Da die Aussprache korrekt ist, entgegnet der Junge "Freie Fahrt".

Die Kiewerin Alina Losinska, ebenfalls 27 und Buchhalterin von Beruf, hat schon lange vor dem russischen Angriff Schritt für Schritt die Sprache gewechselt. Die systematische Unterdrückung des Ukrainischen sowohl im Russischen Reich als auch zur Sowjetzeit war für sie der Hauptgrund. Sie begrüßt die aktuelle Entwicklung. "Wir müssen unsere Kultur und Geschichte bewahren", betont Losinska. "Für mich waren eigentlich die Ereignisse in Belarus ein Wendepunkt. Ich habe begriffen, dass das Belarussische dort fast tot ist, und das wollen wir hier in der Ukraine keinesfalls. Ich habe dann erst angefangen, mit allen Unbekannten Ukrainisch zu sprechen, dann habe ich mein Handy auf Ukrainisch umgestellt und vor allem Bücher auf Ukrainisch gelesen. So ging es Schritt für Schritt."

Russisch steht für die Besatzer

Menschen sitzen im Gras und schreiben.
Ein Bild aus Friedenszeiten: Im Juni 2021 haben Hunderte Menschen in der Stadt Dnipro freiwillig ein Ukrainisch-Diktat geschrieben, um den Tag der Verfassung zu feiern. Bildrechte: IMAGO / Ukrinform

Weronika Kowtun ist Fotografin. Sie stammt aus Sewastopol auf der Krim, dem Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, lebt eigentlich in Kiew und ist derzeit als Flüchtling in Bayreuth. Sie hat sich erst zu Kriegsbeginn eindeutig als Ukrainerin identifiziert. "Auf einmal wurde mir klar, wie wichtig die Sprache doch ist. Vor kurzem konnte ich Englisch besser als Ukrainisch, und an der Universität in Kiew hatte niemand ein Problem, wenn ich auf Russisch antwortete, ich wurde deswegen nie diskriminiert. Nun hat sich aber etwas in mir selbst geändert: Ich fühle mich nicht mehr als ich, wenn ich Russisch spreche." Dass Russland seinen Krieg explizit auch gegen die ukrainische Sprache und ukrainische Kultur führt, und großen Wert darauf legt, die Ortsschilder in den besetzten Städten wie Mariupol so schnell wie möglich gegen russische auszutauschen, habe für Weronika den Ausschlag gegeben.

Konflikte in der Westukraine

Doch nicht alle russischsprachigen Ukrainer können oder wollen die Sprache wechseln. Vor diesem Hintergrund kommt es in der Westukraine, wohin viele Menschen aus dem Südosten flüchteten, vereinzelt zu Konflikten – etwa dann, wenn die Flüchtlinge mit der Kassierern im Supermarkt Russisch sprechen. "Es ist ein marginales Problem, doch es existiert", erklärt der Politologe Taras Rad aus dem westukrainischen Lwiw.

Rads Beobachtungen: "Insgesamt ist Lwiw sowieso eine touristische Stadt, und an Russisch hat man sich schon 2014 mit dem Ankommen der ersten Binnenflüchtlinge aus dem Donbas gewöhnt. Aber es gibt einen Teil konservativer Lwiwer, die es nicht verstehen, wenn man nach dem 24. Februar in der Sprache der Besatzer kommuniziert. Das ist teils verständlich, allerdings macht es keinen Sinn, Menschen, die unter Stress stehen, deswegen zu beschimpfen. Richtig Ärger kann man aber ohnehin nur dann kriegen, wenn man etwa im Auto laut russischen Pop oder Rap hört."

Für Rad ist es klar: Die Sprachfrage sollte nach dem Krieg grundsätzlich diskutiert werden: "Die Tendenz ist deutlich, dass die Ukrainer immer mehr Ukrainisch sprechen."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 18. Juni 2022 | 06:30 Uhr

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