Kindererziehung Tschechien: Eine Ohrfeige fürs Kind
Hauptinhalt
17. Februar 2022, 15:35 Uhr
Die Aussage des tschechischen Sozialministers Marian Jurečka, er sei seinen Eltern dankbar, im richtigen Moment eine Ohrfeige bekommen zu haben, hat im Land eine Debatte über das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ausgelöst. In Deutschland ist dieses Recht seit über 20 Jahren gesetzlich verankert.
Alles begann mit einer Umfrage einer tschechischen Lektorin und Lehrerin auf Instagram: Zdeňka Šíp Staňková rief zur Weihnachtszeit Eltern auf, ihre eigenen Kindheitserfahrungen mitzuteilen. "Ich wollte die Festtage mit der Aktion etwas auflockern", erinnert sie sich. Doch statt herzerweichender Geschichten kamen Hunderte Briefe voller Erinnerungen daran, wie man von den Eltern gezüchtigt worden war. Die Leute berichteten davon, wie sie an den Ohren und Haaren gezogen und geschlagen wurden.
Wie andere EU-Länder das Thema regeln
Längst sind solche Methoden in vielen europäischen Ländern verboten. Schweden war 1979 das erste europäische Land, das diesen Schritt wagte. In Deutschland verabschiedete der Bundestag im Jahr 2000 mit großer Mehrheit das Recht auf Gewaltfreiheit. In Paragraph 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches heißt es seither, dass körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen unzulässig seien. Anders gesagt: Ohrfeigen oder Schläge und der Klaps auf den Hintern sind in Deutschland und vielen anderen EU-Ländern als Mittel der Kindererziehung untersagt.
Sozialminister für Ohrfeige "dankbar"
Tschechien gehört dagegen neben der Slowakei, Belgien und Italien zu den vier EU-Ländern, in denen es noch keine entsprechende Regelung gibt. Trotz Empfehlungen von Menschenrechtsorganisationen werde sich daran zumindest in Tschechien auch nichts ändern, stellte unlängst der für das Thema zuständige Arbeits- und Sozialminister Marian Jurečka klar. Zur Begründung erklärte der fünffache Vater, er glaube nicht, dass es richtig sei, den Eltern vorzuschreiben, ob sie ihre Kinder in Ausnahmesituationen schlagen dürfen oder nicht. Er selbst habe früher "im richtigen Moment eine Ohrfeige von seinen Eltern bekommen" und sei heute noch "dankbar" dafür, fügte Jurečka hinzu.
Mehrheit verteilt Klaps auf Po und Hände
Vielen tschechischen Eltern hat der Minister dabei offenbar aus dem Herzen gesprochen. Dennoch schlägt die Äußerung des Ministers derzeit Wellen und ruft in Tschechien in einer emotional geführten Debatte Kritiker und Befürworter gleichzeitig auf den Plan. Unterstützung bekommt der Sozialminister von der im Land bekannten Polizeipsychologin Ludmila Čírtková. Dem Nachrichtenportal Aktuálně.cz sagte sie, dass ein Klaps auf den Po als klare und unmittelbare Reaktion viel nützlicher sein könne "als langes Schimpfen oder Kommunikation".
Diese Meinung teilen viele Tschechen, glaubt man einer Umfrage des Prager Meinungsforschungsinstitutes "Nielsen Admosphere" aus dem Jahr 2018. Damals stufte die Mehrheit der befragten Eltern Ohrfeigen nicht einmal als körperliche Gewalt ein. Etwa zwei Drittel gaben an, ihren Kindern hin und wieder einen Klaps auf den Po oder auf die Hände zu geben. Nur sieben Prozent befürworteten in der Umfrage ein Verbot solcher Methoden.
Von Generation zu Generation weitergegeben
Für die Pädagogin und Vorsitzende des bei der tschechischen Regierung angesiedelten Komitees für Kinderrechte, Klára Laurenčíková, kommen die Umfrageergebnisse nicht überraschend. "In Tschechien sind Kinder lange Zeit als Objekte wahrgenommen worden, die durch Belohnungen und Bestrafungen erzogen werden sollen, damit sie die Erwartungen der Erwachsenen erfüllen" sagt Laurenčíková auf Anfrage des MDR. Seit Generationen werde weitergegeben, dass Schläge ein adäquates Erziehungsmittel seien.
Eine Debatte wie sie beispielsweise in Deutschland über die Würde des Kindes geführt werde, habe es in Tschechien bislang nicht gegeben. Hier könne ein gesetzliches Verbot der elterlichen Prügel durchaus die Gesellschaft verändern, glaubt Laurenčíková.
Offener Brief an Minister
Ähnlich argumentiert auch Lehrerin Zdeňka Šíp Staňková, die mit ihrem Post auf Instagram die derzeitige Debatte erst ins Rollen brachte. Zusammen mit der Prager Kinderpsychologin Jana Nováčková und einer dritten Aktivistin fordern sie nun in einem offenen Brief den Sozialminister auf, das Recht von Kindern auf Gewaltfreiheit im Gesetz zu verankern und klarzustellen, dass jegliche körperliche Gewalt gegen Kinder inakzeptabel sei.
Fast 3.000 Menschen haben den offenen Brief inzwischen mit unterzeichnet. "Gewalt in der Gesellschaft, in welcher Form auch immer, ist ein Phänomen, das nicht nur für die Betroffenen sondern für die gesamte Gesellschaft verheerende Folgen hat", sagt Nováčková auf MDR-Anfrage. So zeigten viele Langzeitstudien, dass auch die kleinste körperliche Bestrafung für Kinder demütigend sei und ihnen langfristig schade. Nováčková hofft, dass die Debatte jetzt an Fahrt aufnimmt und am Ende zu einer Gesetzesänderung führt. So müsse es in der Diskussion jetzt auch viel um die Eltern selbst gehen. Sie bräuchten Wege, wie sie Konfliktsituationen gewaltfrei lösen könnten. Eine Änderung der Erziehungsmethoden beginne nunmal bei den Erwachsenen.
Langsames Umdenken angeschoben
Deutschland hat vor über 20 Jahren das Recht auf Gewaltfreiheit gesetzlich festgeschrieben. Seither findet ein Umdenken statt, langsam zwar, aber stetig. In einer Forsa-Umfrage gaben 2012 noch fast die Hälfte der befragten Eltern in Deutschland an, ihren Kindern gelegentlich eine Ohrfeige zu verpassen. In einer Studie der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie erklärte 2020 dagegen nur noch jeder sechste Deutsche, dass für ihn eine Ohrfeige in der Kindererziehung angebracht sei. Die tschechische Kinderpsychologin Jana Nováčková wünscht sich eine ähnliche Entwicklung für ihr Land. Dafür müsse ein entsprechendes Gesetz auf den Weg gebracht werden, meint sie: "Körperliche Züchtigung ist reine Gewalt, die im Namen der Erziehung ausgeübt wird. Ein Gesetz kann diese Gewalt verhindern helfen".
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 28. Januar 2021 | 22:40 Uhr