Kindesmisshandlung "Das häufigste Anzeichen sind blaue Flecken"
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14. November 2021, 12:29 Uhr
Sie wird hinzugerufen, wenn der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung aufkommt: Rechtsmedizinerin Carolin Richter. Zwei bis fünf Kinder untersucht sie jede Woche – und stellt in vielen Fällen schwerwiegende Misshandlungen fest. Im Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT spricht sie über die häufigsten Fälle und was man gegen die hohe Dunkelziffer tun kann.
MDR SACHSEN-ANHALT: Frau Richter, wenn bei einem Kind der Verdacht auf eine Misshandlung im Raum steht, startet ein komplexer Prozess. An welcher Stelle kommen Sie dazu?
Carolin Richter: Ich werde in der Regel von den Kinderärzten dazu gerufen, wenn sie Verletzungen oder auffällige Befunde bei Kindern haben. Primär geht es da auch erstmal um reine Dokumentationszwecke, weil das eben ein Spezialgebiet der Rechtsmedizin ist: Befunde ganz ausführlich und im Zweifelsfall gerichtsfest zu dokumentieren. Im Nachhinein bespreche ich dann mit all den behandelnden Kollegen, ob die von den Eltern gelieferte Erklärung für die Verletzung plausibel ist oder eben nicht.
Was sind denn die häufigsten Anzeichen, bei denen die Kinderärzte Verdacht anmelden?
Das häufigste Anzeichen sind Hämatome, also blaue Flecke. Wenn Kinder viele blaue Flecken haben oder wenn die derart geformt sind, dass auch die ambulanten Kinderärzte sagen: 'Also Kinder können blaue Flecken haben vom Spielen, aber hier ist die Lokalisation komisch oder man sieht tatsächlich einen Handabdruck.' Vor allem kleinere Kinder haben manchmal auch Knochenbrüche. Da stellt man dann fest, dass sie irgendein Körperteil nicht bewegen können aufgrund einer neuen oder zurückliegenden Fraktur. Und dann gibt es natürlich noch einen großen Teil an sexuellen Übergriffen.
Wie oft werden Sie zu Verdachtsfällen gerufen?
Das schwankt immer so ein bisschen. Aber ich möchte sagen: So zwei bis fünf Kinder pro Woche sehen wir durchaus. Allerdings sind das nicht alles Fälle vom Uniklinikum in Halle, sondern meine Kollegen und ich sind auch in anderen Häusern unterwegs. Natürlich können wir es aber nicht bewerkstelligen, bei jedem niedergelassenen Kinderarzt vorbeizukommen, wenn es dort auffällige Befunde gibt.
Wenn Sie bei der Untersuchung eines Kindes Indizien für eine Misshandlung finden: Wie geht es weiter?
Unmittelbar nach der Untersuchung kann man das ganz oft noch nicht so sicher sagen. Man hat sicherlich oft eine Richtung, in die man tendiert, aber in der Regel kommen dann auch erstmal zusätzliche Untersuchungen dazu. Wenn es um eine Verletzung am Auge geht, schaut sich ein Augenarzt das Kind an; ist es ein Befund am Ohr, ein HNO-Arzt. Und wenn wir nach all den Untersuchungen alle in Frage kommenden natürlichen Krankheiten ausschließen können, müssen wir sagen: Jetzt bleibt wirklich nur die traumatische Genese. Und dann müssen wir schauen, wie es mit dem Kind und der Familie weitergeht. Das Jugendamt ist in der Regel schon ganz zeitig mit involviert – und bei schweren oder sogar lebensbedrohlichen Verletzungen ist auch die Polizei dabei. Ob das Kind in der Familie bleiben darf oder nicht, liegt nicht in unserer Hand.
Auch, wenn Sie die Schuld- und Verantwortungsfrage nicht zu klären haben: Wer sind aus Ihrer Erfahrung die hauptsächlichen Verursacher von Kindesmissbrauch?
Das sind meist enge Bezugspersonen der Kinder; die Mutter, der Vater, der Lebensgefährte der Mutter – häufig in Kombination mit zusätzlichen Stressoren und Risikofaktoren: zum Beispiel, wenn Alkohol oder Drogen dazukommen oder eine psychiatrische Erkrankung. Aber auch wenn die Kinder Vorerkrankungen mit sich bringen, die dann eine erhöhte Aufmerksamkeit bedürfen. Dann kommt es eben zu Stresssituationen und einer Gefährdung aus Überforderung heraus, zum Beispiel beim sogenannten Schütteltrauma.
Der tatsächlich strafrechtliche Nachweis ist in diesen Fällen oft ganz, ganz schwierig zu führen. Weil es eben meist mehrere Personen gibt, die sich um das Kind kümmern. Die zur gleichen Zeit am selben Ort sind und wo man nicht differenzieren kann, wer es denn nun war.
Blickt man auf die Zahlen der vergangenen Jahre, sieht man einen starken Anstieg. Allein in Sachsen-Anhalt wurden vergangenes Jahr knapp 1.300 Fälle von Kindeswohlgefährdung erfasst. Inwiefern nehmen Sie das bei Ihrer Arbeit wahr?
Ich bin der Überzeugung, dass Kindesmisshandlung schon immer ein großes Problem war. Das unterliegt in seiner Wertung ja auch so ein bisschen dem gesellschaftlichen Wandel. Für unsere Großeltern war das noch völlig normal, dass sie eine Backpfeife oder Schelle bekommen haben. Heute ist das gesetzlich klar geregelt: Kinder dürfen in keiner Art und Weise Gewalt ausgesetzt werden. Und ich glaube, dadurch, dass das Thema jetzt auch in der Gesellschaft und den Medien präsenter wird, ist auch die Aufmerksamkeit der Angehörigen, der Lehrer oder Kindergärtner gestiegen. Ich glaube tatsächlich, die statistischen Zahlen sagen eigentlich gar nicht aus, ob die Zahl der Misshandlungen zugenommen hat. Sie zeigen vielmehr, dass wir heute mehr Fälle als solche erkennen. Vorher hat's die anderen wahrscheinlich gegeben und niemand hat's gewusst.
Welchen Einfluss hatte die Corona-Pandemie auf die Entwicklung der Zahlen?
Einen großen, da bin ich mir sicher. Aber das Problem ist, dass wir das nicht nachweisen können. Denn die Kinder waren ja gar nicht im Kindergarten oder in der Schule, sondern sie waren zu Hause eingesperrt mit ihren Misshandlern. Und die waren ja ebenfalls eingesperrt und haben am Rad gedreht. Bei manchen sind existenzielle Sorgen aufgetreten, sie haben ihre Arbeit verloren oder was auch immer. Und auch die Jugendämter konnten nicht zu den Familien nach Hause.
Und dann finden wir jetzt in Zukunft vielleicht immer mal eine alte Fraktur oder so. Kindesmisshandlung ist immer eine Grauzone und wir werden nie alle Fälle aufdecken können. Aber ich glaube nicht, dass man die Geschehnisse in der Corona-Zeit gut aufarbeiten kann.
Was müsste sich in Zukunft noch verbessern?
Wir müssen versuchen, den ganzen Kinderschutz noch flächendeckender aufzubauen. Eine Uniklinik wie die in Halle ist immer ein Maximalversorger: Alle, die in Halle und Umgebung wohnen, haben es relativ gut. Kommen sie aber aus Weißenfels, Zeitz, Naumburg oder Zerbst, da ist es dann eben schwieriger. In den kleineren Krankenhäusern im ländlichen Bereich müsste es mehr kleinere, vorgelagerte Kinderschutzgruppen geben. Und mit denen müssten wir dann auch besser kooperieren.
Die Fragen stellte Daniel Tautz.
MDR/Daniel Tautz
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 14. November 2021 | 19:00 Uhr
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