Digitale Behördengänge Wie Tschechien uns in Sachen Digitalisierung überholt
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01. Oktober 2024, 09:16 Uhr
Eines haben die Tschechen den Deutschen voraus: den digitalen Personalausweis. Bei Polizeikontrollen und in Ämtern müssen sie keine Plastikkarte mehr vorlegen, das Dokument gibt es auch in einer Handy-App. Die Regierung in Prag drückt in Sachen Digitalisierung seit kurzem aufs Gas und versucht, digitale Behördengänge deutlich einfacher als früher zu machen. Bei Sozialleistungen wie dem Elterngeld werden inzwischen bereits 60 Prozent der Anträge online gestellt. Doch es gibt auch Probleme.
Viele Tschechen erledigen den Großteil ihrer Bankgeschäfte online und kaufen ihre Fahrscheine per App. Nun versucht auch der Staat verstärkt auf digitale Lösungen zu setzen. Seit Anfang des Jahres gibt es z.B. den elektronischen Personalausweis, den man auf seinem Smartphone speichern kann. So kann man Behördengänge ohne die bisherige Plastikkarte erledigen. Demnächst sollen auch Führerschein und andere Dokumente digital verfügbar sein. Der Ausweis in Kartenform soll in Tschechien aber auch weiter gleichberechtigt neben der digitalen Lösung gelten.
Längerfristig soll das alles in ein gesamteuropäisches Konzept, die sogenannte europäische digitale Brieftasche (EU Digital Identity Wallet), eingebettet werden. Sie soll nicht nur Ausweis, Führerschein oder Gesundheitskarte, sondern auch Bildungszertifikate, Flugtickets, Impfzertifikate und andere Dokumente an einer Stelle bündeln. Das ist allerdings noch Zukunftsmusik.
Digitalisierung macht Staat transparenter
"Im Vergleich zu anderen Ländern, und zwar weltweit, liegen wir in diesem Bereich leicht unter dem Durchschnitt. Aber seit etwa zwei bis drei Jahren wird in Tschechien so schnell wie noch nie in seiner Geschichte digitalisiert", erklärt Michal Bláha im Gespräch mit dem MDR. Er ist Gründer und Chef der tschechischen NGO "Staatswächter" (tschechisch "Hlídač státu"), die sich unter anderem für eine transparente Verwaltung einsetzt. Die Digitalisierung wird als ein Weg gesehen, dieses Ziel zu erreichen.
Laut Bláha wurden die Möglichkeiten, wie man mit Ämtern online kommunizieren kann, auch auf sensible Bereiche ausgeweitet, bei denen Geld im Spiel ist: Zum Beispiel wenn man staatliche Hilfen und Sozialleistungen beantragen oder die Steuererklärung elektronisch abgeben will.
"Es gibt eine Statistik, wonach ungefähr 90 Prozent der Haushalte Zugang zum Internet haben und 85 Prozent mindestens einmal pro Woche regelmäßig auch kompliziertere Geschäfte online erledigen, etwa Online-Banking. Gleichzeitig haben aber bislang nur 45 Prozent der Haushalte auf diese Weise mit den Behörden kommuniziert", so Bláha weiter.
Behördengänge mit Onlinebanking-Passwort
Der Grund laut Bláha: Banken, digitale Einkaufsplattformen und dergleichen sind bestrebt, es den Nutzern so einfach wie möglich zu machen, damit ihre Dienste rege genutzt werden. Der Staat hingegen hat eine Reihe von Hürden eingebaut, meist aus Sicherheitsgründen. So sei es für viele Bürger immer noch bequemer, eine Behörde aufzusuchen und ihr Anliegen dort persönlich zu erledigen. Doch, wie Bláha meint, ändert sich auch hier Vieles.
Ein wichtiger Grund dafür war, dass die Zugangsvoraussetzungen für die Nutzung der digitalen staatlichen Verwaltung in den letzten Jahren stark vereinfacht wurden, womit sie massentauglich wurde. Während man früher eine Art digitales Postfach anlegen musste, um sich zu authentifizieren, ist es seit geraumer Zeit möglich, mittels der Anmeldetools der tschechischen Banken mit dem Staat in Verbindung zu treten, also auf die gleiche Weise, auf die man sich beim Onlinebanking einloggt.
Schulanmeldung und Kindergeld inzwischen digital
In jüngster Zeit stechen hier besonders zwei Beispiele für allmähliche Erfolge bei der Digitalisierung hervor. Zum einen gab es für die rund 100.000 Schüler, die in diesem Jahr in die tschechischen Gymnasien und Mitteschulen aufgenommen werden wollten, ein digitales Aufnahmeverfahren. Ein Jahr zuvor ging der Prozess noch analog mit Anmeldungen auf Papier vonstatten. Aufgrund des geburtenstarken Jahrgangs führte das vor allem in Prag an vielen Schulen zu organisatorischem Chaos. Dieses Jahr lief alles elektronisch ab, die Eltern konnten vorher bei der Schulauswahl Prioritäten setzen, die Verteilung der Kinder auf die jeweiligen Schulen lief danach automatisch ab.
Noch ambitionierter ist allerdings das Digitalisierungsprojekt des tschechischen Arbeits- und Sozialministeriums. Seit einigen Monaten können nämlich viele wichtige staatliche Leistungen wie Kinderbeihilfe, Elterngeld oder Wohngeld online beantragt werden. Das Ministerium wirbt für das digitale Verfahren mit dem Hinweis, dass die Antragsteller stets auf dem Laufenden sind, wie weit die Bearbeitung ihres Anliegens fortgeschritten ist.
"Die Lösungen, die wir implementiert haben, nutzen gegenwärtig 52 Prozent der Antragsteller, wobei wir erwarten, dass das Potenzial etwa bei 70 Prozent liegt. Wir sind aber natürlich ebenso darauf vorbereitet, dass ungefähr 30 Prozent weiterhin den analogen Weg bevorzugen werden, um mit unseren Behörden in Kontakt zu treten", erklärt Karel Trpkoš dem MDR. Er leitet beim tschechischen Arbeits- und Sozialministerium die Sektion für Digitalisierung.
Laut Trpkoš wird am häufigsten das Elterngeld digital beantragt und zwar in 60 Prozent der Fälle. Dieser hohe Anteil hänge auch damit zusammen, dass die Antragsteller in der Regel jünger sind. Gleichzeitig stelle es für sie eine tatsächliche Erleichterung dar, wenn sie mit ihren Kindern nicht persönlich zu den Ämtern müssen, um dort auf die Erledigung ihres Anliegens zu warten. Das tschechische Arbeits- und Sozialministerium plant bis Sommer nächsten Jahres, also bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode, den Bürgern ungefähr 90 Prozent der Behördengänge, die in seine Zuständigkeit fallen, digital zugänglich zu machen.
Digitaler Antrag, Bearbeitung "analog" auf Papier
Doch Digitalisierung ist nicht gleich Digitalisierung. Von Experten wird immer wieder kritisiert, dass die Behörden dabei oft nicht konsequent genug sind. Zwar stellen sie den Bürgern entsprechende elektronische Tools zur Verfügung. Dennoch drucken die Sachbearbeiter danach Vieles, was digital eingereicht wurde, auf Papier aus, bearbeiten es traditionell analog und pflegen das Ergebnis am Ende wieder ins System ein – was der Grundidee der Digitalisierung zuwiderläuft. Michal Bláha von der NGO "Staatswächter" bezeichnet das als "vorgetäuschte Digitalisierung".
"Der einfachste Weg, wie man etwas ändern kann, ist zu fragen, ob wirklich ein Mensch einen bestimmten Arbeitsschritt machen muss oder ob das nicht schneller und genauer von einem Computer erledigt werden könnte", erläutert Bláha und führt ein konkretes Beispiel an: In der tschechischen Verwaltungspraxis sei verankert, dass jede Entscheidung am Ende von einem Beamten mit einem Stempel beglaubigt werden müsse. Das wäre in vielen Fällen aber gar nicht nötig.
"Sie fahren zum Beispiel mit dem Auto und werden geblitzt. Es gibt dann einen objektiven Beweis, dass Sie die Geschwindigkeit überschritten haben. Punkt. Heute sind für die Erledigung solcher eindeutigen Fälle Hunderte von Angestellten notwendig, obwohl das alles automatisch ablaufen könnte", so Bláha.
Baugenehmigungen bleiben Achillesferse
Dass aber auch in Tschechien mit der Digitalisierung der Verwaltung ein dickes Brett zu bohren ist, zeigt ein aktuelles Beispiel: Die Digitalisierung der Baugenehmigungsverfahren sorgt momentan für Kritik. Eigentlich sollte das Prestige-Projekt der tschechischen Regierung ab 1. Juli an den Start gehen, und zwar mit dem Ziel, diese komplizierten Verfahren künftig schneller und auch transparenter zu gestalten.
Doch das Ganze will nicht so richtig in Gang kommen, es treten immer wieder Schwierigkeiten auf. Viele Bauämter sind daher wieder zu den alten Verfahren mit Papier, Bleistift und Stempel zurückgekehrt. Das pikante Detail am Rande: Ausgerechnet dieses Projekt hat Vizepremier Ivan Bartoš zu verantworten, der gleichzeitig auch Chef der Tschechischen Piratenpartei ist, zu deren Kernkompetenzen gerade die Digitalisierung gehört.
MDR (baz)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 28. September 2024 | 07:22 Uhr