Parlamentswahl Wird die Slowakei ein zweites Ungarn?
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30. September 2023, 18:00 Uhr
In der Slowakei wird am Wochenende ein neues Parlament gewählt. Im Vorfeld ist wieder einmal von einer Schicksalswahl die Rede: Wird das Land auf seinem prowestlichen Kurs bleiben oder driftet es in Richtung Russland ab? Personifiziert ließe sich die Entscheidung auf das Duell zwischen den Spitzenkandidaten Robert Fico und Michal Šimečka reduzieren – mit einem Dritten im Hintergrund als Königsmacher.
Fico ist 59 Jahre alt, hat bereits vier Parlamentswahlen gewonnen und ist ein "political animal". Vor der Wende war er bei den Kommunisten, später sagte er sich von deren Nachfolgepartei los und gründete mit der Smer (zu Deutsch "Richtung") eine eigene Gruppierung. Insgesamt dreimal war er Premierminister. 2018 musste er allerdings unter dem Druck der größten Massenproteste seit 1989 zurücktreten. Deren Auslöser war der Mord am Investigativjournalisten Ján Kuciak, der zusammen mit seiner Verlobten erschossen wurde. Der 27-Jährige betrieb Recherchen in Sachen Korruption, die dubiose Geschäftsleute mit guten Verbindungen zu Ficos Partei Smer betrafen.
Duell zwischen Ex-Premier und Newcomer
Politisch bezeichnet sich diese zwar offiziell als sozialdemokratisch, neigte aber in den letzten Jahren immer stärker zu national-populistischen Positionen. Besonders stark in Erinnerung ist die Weigerung des damaligen Premiers Fico, während der großen Flüchtlingskrise des Jahres 2015 Geflüchtete aufzunehmen. Auch im diesjährigen Wahlkampf versuchte Fico wenige Wochen vor der Abstimmung, mit Hetze gegen Migranten die Wähler zu mobilisieren.
Ficos Herausforderer, der 39-jährige Michal Šimečka, war hingegen bis vor kurzem weitgehend unbekannt – wohl auch deshalb, weil er derzeit im Europaparlament sitzt, wo er einer der 14 Vizepräsidenten ist. Voll in der nationalen Politik ist er erst präsent, seit er vor einem Jahr die Führung der linksliberalen Partei Progressive Slowakei ("Progresívne Slovensko", PS) übernahm, zu deren Gründern seinerzeit auch die scheidende prowestliche Präsidentin Zuzana Čaputová gehörte.
Die Progressiven wollen der Slowakei eine Modernisierung verordnen, und zwar nicht nur in Sachen Wirtschaft und Bildung, sondern auch gesellschaftspolitisch. So tritt die PS für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe ein, will das Abtreibungsrecht lockern und die geschlechtliche Selbstbestimmung vereinfachen. Das sind allerdings alles Positionen, die in der slowakischen Gesellschaft gegenwärtig nicht mehrheitsfähig sind. Umfragen zeigen, dass mehr als die Hälfte der Bürger diesen Themen ablehnend gegenüber steht.
Slowakei wählt zwischen Ost und West
Für die jetzige Wahlauseinandersetzung in der Slowakei ist jedoch entscheidend, dass Šimečka für die Beibehaltung des prowestlichen Kurses seines Landes steht. Er will verhindern, dass die Slowakei auf die Linie von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán einschwenkt und zum nächsten Problemfall innerhalb der Europäischen Union wird. Angesichts dieser Gefahr sind manche Wähler bereit, die gesellschaftspolitischen Positionen von Šimečkas Partei zu akzeptieren.
Die Ausgangslage vor den Wahlen fasst der slowakische Politikwissenschaftler Grigorij Mesežnikov vom Think-Tank "Institut für öffentliche Fragen" gegenüber dem MDR wie folgt zusammen: "Bei dieser Wahl geht es nicht um einen gewöhnlichen Wechsel der politischen Lager, die sich nur in einigen Details voneinander unterscheiden. Bei dieser Wahl geht es um eine mögliche Änderung der grundlegenden politischen Ausrichtung des Landes: Ob die nächste Regierung das System der liberalen Demokratie, die Qualität des Rechtsstaates oder den Schutz der Menschenrechte weiterhin als wichtig erachten wird – oder ob sie zu autoritären Modellen tendieren wird."
Vom Sozialdemokraten zum Putin-Versteher
Mesežnikovs Einschätzung basiert in erster Linie auf der Persönlichkeitsentwicklung von Robert Fico. Nachdem er wegen der Proteste nach dem Kuciak-Mord sein Büro im Amt des Regierunschefs räumen musste und später auch die Wahlen des Jahres 2020 verlor, ist er durch immer radikalere Positionen aufgefallen. Das fiel insbesondere während der Covid-Pandemie auf, wo er bei Protestkundgebungen Stimmung gegen die Maßnahmen der Regierung machte.
Später zog er gegen den Militärvertrag zwischen den USA und der Slowakei zu Felde, der den Amerikanern die Nutzung zweier slowakischer Flughäfen erlaubt. Fico behauptete, sein Land würde dadurch freiwillig auf einen bedeutenden Teil seiner Souveränität verzichten. Damit machte sich der frühere Regierungschef Fake-News zu eigen, die sonsten von sogenannten "alternativen Medien" verbreitet wurden.
Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, gehörte Fico zu denjenigen, die die alleinige Verantwortung des Kremls in Zweifel zogen. Später lehnte er jegliche militärische Unterstützung für die Ukraine mit der Begründung ab, es würde sich nicht um einen "Krieg der Slowakei" handeln. Im Fall eines Wahlsiegs will er die Hilfe für das östliche Nachbarland massiv herunterfahren.
"Der bisher bestehende gesellschaftliche Grundkonsens wurde von Fico in Frage gestellt. Er und seine Leute haben begonnen, mit der elementaren Russophilie zu arbeiten, die in einem Teil der slowakischen Gesellschaft besteht, und gleichzeitig die existierenden anti-ukrainischen Ressentiments noch stärker hervorgehoben. Sie agierten ebenfalls geschickt mit falschen Friedens-Narrativen, wobei das, was sie vorschlugen, in Wirklichkeit einen Sieg Russlands und die totale Niederlage der Ukraine bedeuten würde. Das hat die öffentliche Meinung in der Slowakei massiv beeinflusst", erklärt Politikwissenschaftler Mesežnikov.
Handgreiflichkeiten im Wahlkampf
Sehr rauh, emotionsgeladen und gehässig ging es auch im Wahlkampf zu. Die großen Probleme des Landes, etwa die starke Auswanderung vieler, vor allem junger Slowaken, kamen viel zu kurz. Viele Parteien lockten die Wähler lieber mit Versprechen an, die Renten und andere Sozialleistungen zu erhöhen.
Zu den größten Tiefpunkten des Wahlkampfs gehörte wohl das Handgemenge zwischen dem ehemaligen Innenminister Robert Kaliňák, der informellen Nummer zwei der Smer-Partei, und dem früheren Premier Igor Matovič. Dazu kam es, als Matovič, der sich den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben hat, mit einem Megafon ausgerüstet lautstark eine Pressekonferenz der Smer-Partei störte. Kaliňák verlor ob dieser Provokation die Nerven und ging auf Matovič los. Dieser wehrte sich mit Fußtritten. Ein Parteifreund Kaliňáks, ein ehemaliger Boxer, mischte sich ein und schlug Matovič mit einigen gezielten Schlägen den Mund blutig. Viele Slowaken zeigten sich entsetzt, auf welches Niveau die politische Auseinandersetzung in ihrem Land gesunken ist.
Matovič gewann mit seiner Bewegung "Gewöhnliche Menschen und unabhängige Persönlichkeiten" die letzten Parlamentswahlen. Mit dem Versprechen gegen die Korruption im Land anzukämpfen, traf er kurz nach dem Mord am Journalistn Kuciak den Nerv der Gesellschaft. Doch viele seiner Wähler hat er als Premier enttäuscht. Seine Koalitionspartner zwangen ihn schon nach einem Jahr, als Ministerprässident zurückzutreten, Matovič wurde danach aber Finanzminister. Praktisch im ganzen Wahlkampf 2023 kämpfte er gegen sinkende Umfragenwerte. Publicity, wenn auch eine negative, konnte Matovič also gut gebrauchen.
Aber auch Fico hat mit seiner Art, Emotionen zu schüren, zur angespannten Atmosphäre beigetragen, erklärt Politikwissenschaftler Mesežnikov: "Der Smer-Vorsitzende verfügt traditionell über eine sehr hohe Frequenz an Wortmeldungen. Somit zwingt er andere zu reagieren, wodurch er die politische Agenda im Land bestimmt. Jetzt wollte er allen das Thema der illegalen Migration aufzwingen, aber die Mobilisierung seiner Wähler blieb hinter den Erwartungen zurück. Fico präsentiert sich immer wieder als Kämpfer für die Entrechteten und gegen eine Willkür der Regierung. Das hat ihm wieder nach oben geholfen, allerdings um den Preis, dass sich seine Rhetorik, meiner Meinung nach, heute schon sehr nahe am Faschismus bewegt."
Drittplatzierter als Königsmacher?
Neben den beiden Gegenspielern Robert Fico und Michal Šimečka gibt es einen Dritten im Bunde, dem nach den Wahlen die Rolle des Königsmachers zufallen könnte: Peter Pellegrini. Auch er war mal Premierminister – Ficos direkter Nachfolger, als dieser 2018 gehen musste. Zwei Jahre später löste sich Pellegrini von seinem früheren Mentor und gründete mit "Hlas" (zu Deutsch "Stimme") eine eigene Partei, die sich ebenfalls zu sozialdemokratischen Ideen bekennt. Der weitgehend konziliant auftretende Pellegrini führte sogar lange in den Umfragen, wurde aber mittlerweile von Ficos Smer und Šimičkas Progressiven auf den dritten Platz verdrängt. Doch nach den Wahlen könnte er, je nach Ausgang, von beiden als künftiger Koalitionspartner umworben werden und darüber entscheiden, wer am Ende das Land regiert.
Partei | Wahlergebnis |
---|---|
Progressive Slowakei (Šimečka) | 18,0 Prozent |
Smer (Fico) | 17,7 Prozent |
Hlas (Pellegrini) | 15,0 Prozent |
Gewöhnliche Menschen (Matovič) | 9,4 Prozent |
Rechtsliberale | 7,3 Prozent |
Christdemokraten | 6,1 Prozent |
Slowakische Nationalpartei (nationalpopulistisch) | 6,0 Prozent |
Republika (rechtsradikal) | 5,4 Prozent |
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 27. September 2023 | 17:23 Uhr