Massenproteste und Straßenblockaden Lithium-Streit in Serbien: Präsident Vučić macht Rückzieher

11. Dezember 2021, 07:22 Uhr

Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vučić gilt als unnachgiebig in der Politik. Er ist ein Mann, der gerne Recht hat. Doch nun musste er ausnahmsweise nachgeben. Es ging um zwei Gesetze, die einem umstrittenen Konzern den Abbau von Litium in Serbien ermöglichen sollten, ohne Rücksicht auf Umweltschutz und Eigentumsrechte. Erstmals seit Jahren gingen auch junge Menschen gegen die Pläne auf die Straße – und Vučić machte nach Massenprotesten und Straßenblockaden einen Rückzieher.

Fotomontage Mann vor Fahne
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das Thema, das so viele Menschen auf die Straßen bringt, dass die Polizei es nicht wagt einzugreifen, ist die Umwelt.

In einem Land, das die amerikanische Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen als eine "hybride" Demokratie bezeichnete, in dem ein Großteil der Medien gleichgeschaltet ist, war es ausgerechnet die Sorge um die Natur, die die apathische, der Hoffnung beraubte serbische Zivilgesellschaft aus dem Schlaf weckte.

Gesetze sollten Umweltschutz aushebeln

Es begann ganz harmlos. Einige Umweltorganisationen protestierten gegen zwei Gesetze. Sie forderten, dass das neue, schon verabschiedete Referendumsgesetz geändert und das neue Enteignungsgesetz, das nur noch auf die Unterschrift des Staatspräsidenten wartete, ganz zurückgezogen wird.

Letzteres sollte es bei Bauprojekten von "nationalem Interesse" ermöglichen, Eigentümer, die im Wege stehen, binnen zehn Tagen (einschließlich Klagefrist!) zu enteignen. Das neue Referendumsgesetz setzte die Gebühren für Volksbegehren, die Bürgerinitiativen durchsetzen wollen, laut Umweltaktivisten für serbische Verhältnisse so hoch, dass sie de facto abschreckend wirken.

Umstrittener Konzern will Lithium fördern

Umweltorganisationen beschuldigten die Regierung, die zwei Gesetze nicht im Interesse der eigenen Bürger, sondern des umstrittenen britisch-australischen Bergbaukonzerns Rio Tinto verabschieden zu wollen. Der Konzern möchte im Tal des Flusses Jadar im Westen Serbiens eine Lithium-Mine errichten. In der Nähe der Stadt Loznica soll sich die viertgrößte Lithiumquelle in Europa befinden. Es geht um ein Milliardengeschäft, Rio Tinto hat da bereits Millionen investiert.

Vor diesem 1873 gegründeten Konzern warnen Umweltschützer und Gewerkschaftsgruppen in der ganzen Welt. Er ist bekannt dafür, sich um Umwelt- und Mitarbeiterrechte nicht zu kümmern. Ab 2026 hätte Rio Tinto in Serbien jährlich 58.000 Tonnen Lithiumcarbonat produzieren sollen. Aufgrund des hohen Arsengehaltes im Lithium-Erz befürchten serbische Umweltschützer in der Jadar-Region eine Verseuchung des Grundwassers durch Arsen.

Das Enteignungsgesetz sollte laut Umweltorganisationen die Bauarbeiten beschleunigen, und das neue Referendumsgesetz Manipulationen erleichtern, falls ein Volksbegehren über den Abbau von Lithium im Jadar-Tal abgehalten werden würde.

Proteste in Serbien
Mit Straßenblockaden in rund 50 Ortschaften legten die Demonstranten Serbien vorübergehend lahm. Betroffen waren auch international wichtige Verkehrsadern wie die Autobahn E 75. Bildrechte: IMAGO / Aleksandar Djorovic

Straßenblockaden in ganz Serbien

Wenn Demonstranten Straßen blockieren, verwendet die Polizei in einem jeden Land normalerweise "angemessene" Mittel, um die Blockade aufzulösen. Blockaden von internationalen Straßen und Autobahnen sind fast undenkbar.

Genau das ist aber in Serbien geschehen. Aus Protest gegen die beiden Gesetze riefen Umweltorganisationen an zwei Samstagen hintereinander landesweit zu Straßenblockaden auf. In rund 50 Ortschaften blockierten Demonstranten bei der ersten Demo für eine, bei der zweiten für zwei Stunden Straßen, Kreuzungen, Brücken und Autobahnen. Sie legten Serbien lahm.

Machthaber vom Ausmaß der Proteste überrascht

Und es waren so viele, dass Präsident Vučić die Polizei zurückpfiff. Die Regierung hatte ein solches Maß an Protesten nicht erwartet und wirkte völlig überrascht. Denn bislang schien es so, dass der serbische Protestgeist eingeschlafen ist – wie in eine Flasche verdrängt und verschraubt.

Es war nicht nur die Anzahl der Demonstranten, sondern ihre offensichtliche Bereitschaft, sich gegen die Polizei zu wehren und notfalls auch Prügel und Gefängnis in Kauf zu nehmen. Nach langer Zeit protestierten wieder vorwiegend junge und sehr junge Menschen, die bisher überhaupt kein Interesse für Politik oder gesellschaftlichen Aktivismus gezeigt hatten.

Proteste in Serbien
Erstmals seit langer Zeit beteiligten sich viele junge Menschen an den Massenprotesten in Serbien. Bildrechte: IMAGO / Aleksandar Djorovic

Demonstrierende: Furchtlos und gut organisiert

Mich erinnerte das an die ewigen Massenproteste gegen das Regime Miloševićs in den 1990er-Jahren. Das Absurde bei den wenigen ernsthaften Demos gegen das Regime Vučićs war bisher, dass auf die Straßen vorwiegend die gleichen Leute wie vor drei Jahrzehnten gingen, die wieder für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Medienfreiheit demonstrierten. Man spazierte im Protestmarsch, traf viele Bekannte und Freunde. Man hatte mittlerweile Kinder und Rückenschmerzen. Und nichts geschah. Alle Proteste, seit Vučić 2012 an die Macht kam, flauten ergebnislos ab.

Bei den aktuellen Demos, die bislang völlig unbekannte Umweltaktivisten über soziale Medien tadellos organisierten, merkte man sofort, dass sich etwas in Serbien geändert hat. In einem politischen System, das auf Einschüchterung setzt, zeigten die jungen Menschen kein bisschen Angst. Sie waren bereit, wie sie selbst sagten, auch den "Schlägertrupps von Vučić" die Stirn zu bieten – was sie auch taten.

Der Präsident und die "Terroristen"

Regimetreue Medien und staatsnahe Politiker diffamierten die Demonstranten als "faschistoide Terroristen", "ausländische Söldner" oder eine "Handvoll von Schurken", die "brave Serben terrorisieren". Am Ende lenkte Staatspräsident Vučić vor den "Terroristen" ein. Alle ihre Forderungen sollen erfüllt werden: Das geplante Enteignungsgesetz werde zurückgezogen, das Referendumsgesetz überarbeitet und dann erneut dem parlament vorgelegt.

In seiner Ansprache an das Volk gab sich Vučić verständnisvoll und schob die Schuld auf die Regierung. Es war ein taktischer Rückzug. Denn Anfang April stehen vorgezogene Parlamentswahlen, Präsidentschaftswahlen und Belgrader Kommunalwahlen an. Da braucht man keine Krawalle auf den Straßen, zumal es schien, dass sich immer mehr Unzufriedene dem Umweltprotest anschließen.

Die Umweltaktivisten wollen ihren Erfolg unterdessen angemessen feiern: Sie kündigten für Freitagabend eine große Party im Zentrum von Belgrad an.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 04. Dezember 2021 | 06:30 Uhr

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