Eine junge Frau kontrolliert an einem russisch-kasachischen Grenzübergang einen Pass
Passkontrolle an der Grenze zwischen Russland und Kasachstan: Seit Beginn des Ukraine-Krieges haben Schätzungen zufolge eine halbe Million Russen ihr Land verlassen. Bildrechte: IMAGO/SNA

Kriegsfolgen Massenflucht aus Russland: Kommen jetzt harte Strafen?

27. Februar 2023, 10:12 Uhr

Ein Jahr nach der russischen Invasion der Ukraine führt für viele Russen kein Weg mehr zurück nach Hause. Manche haben das Land aus Protest gegen Putins kriegstreiberische Politik verlassen, die Männer aber wollen vor allem der Mobilisierung entgehen, um nicht als Kanonenfutter an der Front zu enden. Politiker der Duma überlegen währenddessen, wie sie Flüchtlinge und Kriegsgegner bestrafen können.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Wenn Maria S. an die Zeit vor einem Jahr zurückdenkt, wirkt dies für sie wie aus einem anderen Leben. Im Februar 2022 besuchte die Russin aus St. Petersburg Freunde in Berlin. Währenddessen war Putin gerade dabei, die Planung für den Angriff auf die Ukraine zu finalisieren. "Ich weiß noch, wie naiv ich damals war und alle meine Freunde hier beruhigen wollte, dass Putin keinen Angriff plant", erinnert sich die 31-Jährige.

Aus dem Urlaub ist Maria nie zurückgekehrt. In Russland hatte sie an einer privaten Fortbildungseinrichtung Werbetexter ausgebildet. In Berlin arbeitet die Russin nun als Hostess in einer Bar unweit des Checkpoint Charlie. "Ich habe meinen alten Job aufgegeben und meine Familie hat den Kontakt abgebrochen, weil sie mich für eine Verräterin halten. Nach Russland zurückzukehren, das kommt für mich nicht in Frage", erzählt die Russin. Der Krieg in der Ukraine habe alles verändert.

Ein häufiges Vorurteil, mit dem die Russin konfrontiert wurde, ist, dass es sich bei den russischen Emigranten meistens um wohlhabende Menschen mit guten Jobs zum Beispiel in der IT-Branche handelt, die keine finanziellen Sorgen hätten. "Das ist ärgerlich, denn ich bin selbst fast ohne Ersparnisse hier angekommen und war auf Hilfe von Freunden angewiesen", sagt die Russin. Mit der Zeit, hofft sie, wird ihr Leben aber wieder in Ordnung kommen.

Halbe Million Russen im Ausland

Seit Putins Überfall auf die Ukraine reißt der Strom der russischen Auswanderer nicht ab. Nur die wenigsten jedoch hatten wie Maria aus St. Petersburg die Möglichkeit, sich in der EU niederzulassen. Wie viele Menschen das Land dauerhaft seit Februar des vergangenen Jahres verlassen haben, lässt sich aus russischen Statistiken nicht einwandfrei ablesen, weil viele Russen ihren Wohnsitz in der Heimat nicht abmelden.

Recherchen in den Statistiken von Russlands Nachbarländern sowie Daten der europäischen Grenzbehörde Frontex legen jedoch nahe, dass allein im vergangenen Jahr fast 500.000 Russen dauerhaft das Land verlassen haben. Nur knapp jeder Zehnte davon, d.h. etwa 40.000, konnte sich in der EU niederlassen. Die große Mehrheit floh in eines der unmittelbaren Nachbarländer Kasachstan und Georgien oder in die Türkei.

Menschen aug einem Bahnhof
Der Bahnhof von Helsinki im März 2022: In den ersten Kriegswochen flüchteten viele Russen mit der Bahn ins benachbarte Finnland. Bildrechte: IMAGO/Lehtikuva

Männer flüchten vor Mobilmachung

Längst nicht alle hatten die Möglichkeit, ihr Zielland zu wählen. Für Iwan A. und seine Frau Alexandra ist die Türkei zu einem zufälligen Zufluchtsort geworden. Vor einigen Jahren musste Iwan nach der Kunsthochschule seinen Armeedienst ableisten, da seine Akademie, anders als ein Großteil russischer Universitäten, keine Militärkurse anbietet, die in Russland für Studenten als Ersatz für den Wehrdienst gelten. "Als ehemaliger Rekrut war ich aus Sicht der Armee für den Krieg erste Wahl", erklärt Iwan A. Als Putin die Mobilmachung verkündete, packten die beiden ihre Sachen, doch an der Grenze zu Kasachstan wurden sie von den Grenzern abgewiesen. "Ich bin wohl wegen meines Wehrdienstes nun auf einer Sperrliste gelandet. Das war echt ein Scheißgefühl", erinnert sich der Russe.

Die beiden beschlossen, ihre Flucht über Belarus zu versuchen. In einem Telegram-Chat fanden sie einen Fahrer, der eine sichere Route vorbei an russischen Polizeikontrollen ins Nachbarland kannte. Von dort aus floh das Paar in die Türkei. "Wir mussten uns für diese Reise verschulden und kamen in der Türkei fast ohne einen Cent an", erinnert sich Iwans Ehefrau Alexandra. Seitdem leben die beiden Maler vom sporadischen Verkauf ihrer Bilder im Internet und von der Miete, die sie für ihre alte Wohnung in Moskau bekommen. "Zum Glück hatten wir diese mit Unterstützung unserer Eltern nach der Hochzeit gekauft, sonst stünden wir jetzt blank da", sagt die Russin. Einen Weg zurück gibt es für die beiden nicht mehr. Selbst wenn Putin nicht mehr an der Macht wäre, glaubt das Paar, müssten Jahre vergehen, bis sich die Lage normalisiert.

Werden die Exil-Russen enteignet?

In Russland überlegen derweil Politiker aus dem Putin-Lager schon seit Wochen, wie sie russischen Emigranten das Leben schwer machen können – insbesondere jenen, die noch finanziell von ihrer Heimat abhängig sind. Ende Januar hatte etwa der Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin erklärt, das russische Parlament arbeite an einer Möglichkeit, jene Auswanderer zu bestrafen, die "Russland aus der Ferne mit Dreck beschmeißen". Konkret bedeutet diese Drohung, dass unter anderem Eigentum, zum Beispiel die Wohnungen jener Russen, die im Ausland den Angriffskrieg gegen die Ukraine kritisieren, beschlagnahmt werden könnten. Noch gibt es für dieses Gesetz kein grünes Licht aus dem Kreml, zumal einige andere Abgeordnete der Kreml-Partei den Vorschlag kritisiert hatten. Dennoch sorgt dies für Unruhe unter den Emigranten.

Passanten an einem russisch-kasachischen Grenzübergang
Grenze zwischen Russland und Kasachstan: Nach der Teilmobilmachung verließen viele Männer auf diesem Weg das Land. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Oles P. ist erst vor wenigen Wochen aus Kasachstan nach Russland zurückgekehrt. Einen Reisepass hatte der Russe zum Zeitpunkt der Mobilisierung im September nicht, deshalb fiel bei der Flucht die Wahl auf den südlichen Nachbarn Russlands – dort genügt zur Einreise ein gewöhnlicher russischer Ausweis. Zu Hause in Russland lebte Oles mit seiner Frau in einer Zweiraumwohnung, die sie mit einem Hypothekendarlehen vor einigen Jahren gekauft hatten. "Meine Frau war schwanger und konnte nicht mitkommen, deswegen bin ich alleine los. Ich bin seit Jahren gegen Putins Politik und auch jetzt gegen den Krieg", erzählt der Mann.

Planmäßig ins Exil

Doch die Ausreise nach Kasachstan bewertet er rückblickend als etwas überstürzt. Mit dem neuen Job bei einer kasachischen IT-Firma verdiente er weit weniger als noch in Russland. Das Geld reichte kaum, um für ihn und die Familie zu Hause zu sorgen. Hinzu kamen noch die Gerüchte über möglichen Strafen und Konfiszierungen von Eigentum. "Wenn das Gesetz doch kommt und der Staat unsere Wohnung wegnimmt, wäre das eine Katastrophe", erzählt der Moskauer.

Deswegen ist der 35-Jährige inzwischen wieder zurück bei seiner Frau, die mittlerweile eine Tochter zur Welt gebracht hat. "Wir werden uns jetzt in Ruhe vorbereiten. Wir werden hier alles verkaufen, damit uns niemand hinterher irgendetwas wegnehmen kann. Wir suchen beide einen Job im Ausland und werden dann wohlüberlegt und in Ruhe auswandern", sagt der Russe. Er hoffe nur, dass Putin bis dahin die Grenzen nicht zumacht.

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