Wirtschaftskrieg Sanktionen gegen Russland – Kasachstan zwischen zwei Stühlen
Hauptinhalt
23. März 2023, 12:38 Uhr
Mit Argwohn betrachtet man in der EU eine erstaunliche "Handelsanomalie": Während die EU-Exporte nach Russland 2022 aufgrund von Sanktionen eingebrochen sind, importierten Russlands Nachbarn im vergangenen Jahr deutlich mehr EU-Waren. Offenbar helfen Länder wie Kasachstan Moskau dabei, Sanktionen zu umgehen. Doch den Druck auf die zentralasiatische Republik zu erhöhen, ist für den Westen anscheinend nicht so leicht.
Schon im Oktober 2022 waren die Lieferungen von elektronischen Geräten, darunter Smartphones, von Kasachstan nach Russland sprunghaft gestiegen, sagt der kasachische Politikwissenschaftler Dimasch Alschanow. "Ernste Bedenken kamen auf, als man den Verdacht schöpfte, dass diese Haushaltsgeräte oder deren Teile wie beispielsweise Halbleiter von der russischen Rüstungsindustrie im Krieg gegen die Ukraine genutzt werden könnten", so der Experte.
Wozu braucht Kasachstan so viele Elektrogeräte?
Laut dem Wirtschaftsdienst Euromonitor fielen die EU-Exporte nach Russland vom März bis November 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 47 Prozent, während zugleich die EU-Exporte in Russlands Nachbarländer um 48 Prozent zugenommen haben. Besonders eindrucksvoll war der Anstieg bei Smartphones. Wie der private russische Sender RTVI unter Verweis auf Daten des kasachischen Statistik-Büros berichtete, stiegen die kasachischen Lieferungen von Smartphones nach Russland fast um das 328-fache – von 560 Stück in der ersten Jahreshälfte 2021 auf 183.600 Stück im gleichen Zeitraum 2022!
Welche Elektrogeräte gelangen (vermutlich) über Kasachstan nach Russland?
Neben Handys (in erster Linie der Marken iPhone, Samsung, Xiaomi und Motorola) werden offenbar auffällig viele Kühlschränke und Waschmaschinen von Kasachstan nach Russland exportiert. Das legen Importstatistiken nahe, die nach Kriegsbeginn und der Verhängung westlicher Sanktionen exorbitante Zuwächse verzeichnen, die sich nicht auf den normalen Verbrauch der kasachischen Bevölkerung zurückführen lassen.
Einem Bloomberg-Bericht zufolge hatte Kasachstan allein im August 2022 aus der EU Kühlschränke im Wert von 21,4 Millionen US-Dollar importiert – mehr als dreimal so viel wie im Vorjahreszeitraum. Darüber hinaus importierte die zentralasiatische Republik nach Angaben von Eurostat im Dezember 2022 viermal mehr Waschmaschinen aus der EU als im Vorjahresmonat.
Dass diese Waren dann nach Russland weitergeleitet werden, liegt nahe: Kasachstan lieferte 2022 Bloomberg zufolge Waschmaschinen im Wert von 7,5 Millionen US-Dollar nach Russland. Dabei lag dieser Wert in den zwei Jahren zuvor fast bei null.
Kasachstan logistisch von Russland abhängig
Die kasachische Regierung ist nicht immer imstande, den Re-Export von EU-Waren nach Russland zu kontrollieren, betont Alschanow. Schuld daran seien die zahlreichen "grauen Zonen". "Es gibt Informationen, dass Kasachstan Waren in Finnland oder anderen skandinavischen Ländern bestellt. Diese werden dann über das russische Territorium transportiert, möglicherweise erreichen sie Kasachstan am Ende gar nicht", so der Politologe. Die existierende Lieferkette erlaube es Russland, solche Tricks anzuwenden.
Die logistische Abhängigkeit Kasachstans von Russland zeigt eindrucksvoll die Geschichte mit McDonald’s: Im Januar 2023 entschied sich die US-amerikanische Schnellrestaurantkette dafür, den kasachischen Markt zu verlassen. Grund waren Probleme mit Fleischlieferungen: Die Mutterorganisation in den USA verbot dem örtlichen Franchisenehmer, Fleisch aus Russland zu importieren. Die Preise bei den örtlichen oder europäischen Fleischproduzenten erwiesen sich aber als viel zu hoch, was das Geschäft unrentabel machte.
Die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit Kasachstans nutzt Russland laut Alschanow maximal aus. Kasachstan gehört nämlich zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und ist damit auch Teil der gemeinsamen Zollunion mit Russland. Die Waren, die nach Kasachstan eingeführt werden, können deswegen leicht wieder nach Russland gelangen. Die zentralasiatische Republik gehört zudem zu dem von Russland angeführten Militärbündnis Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).
Astanas Gratwanderung bei Russland-Sanktionen
Die Regierung Kasachstans versucht laut Alschanow, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. "Die politischen Regimes von Kasachstan und Russland sind ähnlich – das sind autoritäre, unfreie Länder", so der Experte. Einerseits betone Astana immer wieder die Wichtigkeit von Integrationsprozessen mit Russland und wolle enge Beziehungen mit Moskau aufrechterhalten. Zugleich wolle Kasachstan aber die Beziehungen mit dem Westen nicht aufs Spiel setzen. "Bei Unklarheiten und grauen Zonen in der Sanktionsfrage schiebt die kasachische Führung die Schuld auf Unzulänglichkeiten der Gesetzgebung und auf die gemeinsame Zollunion mit Russland", erklärt Alschanow.
Gleichzeitig bemühe sich Kasachstan, sogenannte Sekundärsanktionen zu vermeiden, mit denen die US-Regierung Geschäfte von Drittländern mit Russland unterbinden will, berichtet Alschanow. Deshalb arbeite das Land in bestimmten Fragen eng mit dem US-Finanzministerium zusammen. Der kasachische Außenminister Muchtar Tleuberdi betonte Ende 2022 zudem, sein Land werde Russland nicht dabei helfen, die westlichen Sanktionen zu umgehen.
Zumindest in der Automobilbranche zeichnet sich ein Umdenken ab. Ende Januar wurde in den russischen Medien die Nachricht verbreitet, dass sich immer mehr kasachische Autohändler weigern, Autos an Kunden aus Russland zu verkaufen. Ein Korrespondent des Portals Autonews soll mit seinem russischen Pass vergeblich versucht haben, bei Autohäusern der Marken Hyundai, KIA, Toyota, Lada, Chery und VW einen Pkw zu kaufen. Überall bekam er eine Absage mit der Begründung, er habe keinen Aufenthaltstitel für Kasachstan oder sei im Land nicht als Steuerzahler registriert. Das Ganze deutet auf die Angst der kasachischen Autohändler hin, Russland bei der Umgehung von Handelsrestriktionen zu helfen – ausländische Autohersteller könnten dies als Verstoß gegen westliche Sanktionen werten und ihre Lieferungen nach Kasachstan stoppen.
Westen gegenüber Kasachstan zurückhaltend
Die EU könnte zusammen mit den USA neue Hebel finden, um Druck auf Kasachstan auszuüben, meint Alschanow. Schließlich seien die Eliten des Landes aufgrund der eigenen Korruptheit im Westen verwundbar. Andererseits stünden einem härteren Vorgehen des Westens auch einige Gegenargumente im Wege. "Erstens haben die Lieferungen des kasachischen Öls an deutsche Raffinerien noch nicht begonnen. In einer Zeit, in der europäische Märkte das kasachische Öl brauchen, ist die EU eher geneigt, mit Kasachstan zusammenzuarbeiten, als es unter Druck zu setzen", so der Experte. Dem Politologen zufolge ist der Anteil des kasachischen Öls in den EU-Importen innerhalb des letzten Jahres auf neun bis elf Prozent gestiegen. Die Zurückhaltung der EU gegenüber Kasachstan sei auch daran ablesbar, dass Themen wie Menschenrechte und demokratische Reformen von der bilateralen Tagesordnung gestrichen wurden.
Auch die USA hätten begrenzte Möglichkeiten, Druck auf das zentralasiatische Land auszuüben. Das liegt laut dem Experten an der großen geografischen Entfernung, fehlenden wirtschaftlichen und politischen Hebeln sowie an dem laufenden Ukraine-Krieg – unter solchen Umständen wollten die Vereinigten Staaten es nicht riskieren, die Lage weiter zuzuspitzen. "Solange Kasachstan die Sanktionen gegen Russland zumindest offiziell einhält, begnügt sich die US-amerikanische Seite mit dem Niveau an Zusammenarbeit und den Informationen, das sie derzeit erhält", so Alschanow.
Öltransit als Druckmittel
Die Sorgen vor Sekundärsanktionen treiben offenbar nicht nur Kasachstan um. Seit März blockiert die Türkei laut westlichen und russischen Medienberichten den Transit von sanktionierten Waren über ihr Territorium nach Russland. Wie die russische Zeitung "Wedomosti" erfuhr, stoppte die Türkei den Transit von Haushaltsgeräten, die für Russland bestimmt waren – Kühlschränken, Waschmaschinen, Spülmaschinen sowie Autoteilen und Luxuswaren, die auf der EU-Sanktionsliste stehen.
Die Folge war, dass kasachische Geschäftsleute mit Bitten überhäuft wurden, bei der Umgehung der Sanktionen zu helfen. Ein kasachischer Speditionsunternehmer erzählte Reuters, ihm sei vor kurzem ein Honorar in Höhe von einer Million US-Dollar angeboten worden. Dafür sollte er einen mit seltenen Erden aus Australien beladenen Lkw nach Russland bringen. Ein weiterer kasachischer Importeur sollte beim Versuch gescheitert sein, Industrieanlagen aus Europa zu beziehen. Die Absage wurde damit begründet, dass diese nach Russland gelangen könnten.
Dass nun auch Kasachstan dem türkischen Beispiel folgt, glaubt der Experte allerdings nicht: "Mit dem hohen Grad des gegenseitigen Warenumsatzes und der Abhängigkeit der kasachischen Wirtschaft von Importen, die immer noch teilweise über das russische Territorium kommen, ist eine solche Entscheidung unwahrscheinlich. Russland würde im Gegenzug den Transport des kasachischen Öls über seine Pipelines blockieren." Kasachstan habe derzeit keine Alternativen für Öllieferungen an europäische Märkte unter Umgehung Russlands. Das ermögliche Moskau wiederum, das Land fest in seinem Einflussbereich zu halten.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Umschau | 21. Februar 2023 | 20:15 Uhr