1989 Osteuropa und die "Friedliche Revolution"
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09. November 2019, 05:00 Uhr
Ende der 1980er Jahre erlebten Mittel- und Osteuropa einen tiefgreifenden Umbruch. Am Anfang standen kommunistische Regime in der Krise, wirtschaftlich wie moralisch - und immer mehr Menschen, die sich ihnen nicht mehr beugen wollten. Angetrieben wurden die Unabhängigkeitsbewegungen durch Michail Gorbatschows Politik der „Glasnost“ und „Perestroika“, der „Offenheit“ und „Umgestaltung“ in der Sowjetunion. Und durch die Solidarność-Bewegung in Polen.
Wo? - POLEN
Was? - Solidarność-Bewegung
Wann? -August / September 1980 bis 1990
Wer? - Lech Wałęsa, Adam Michnik, Karol Wojtyła und zehn Millionen Polen
Motto? - Solidarität!
Warum?
Streiks, Gewerkschaftsbewegung, ein Papst und der "Runde Tisch" - der Umbruch in Polen hatte viele Gesichter. In den späten 1970er und -80er Jahren bestimmten Mangelwirtschaft, Inflation und Repressionen das Land. Streiks, Arbeiterproteste und weitere Unterdrückung waren die Folge. Adam Michnik gründete mit anderen Intellektuellen 1976 das "Komitee zur Verteidigung der Arbeiter", eine Keimzelle der künftigen Gewerkschaftsbewegung "Solidarność". 1978 wurde Johannes Paul II., der ehemalige Kardinal in Krakau, Karol Wojtyła, zum Papst gewählt. Der junge Papst gab dem polnischen Volk ein neues Selbstbewusstsein im Kampf gegen das kommunistische Regime. Die Kirche nahm wieder einmal die Rolle als Vertreterin nationaler Selbstbestimmung, wie schon mehrfach in der Geschichte. Johannes Paul II. stellte sich hinter die polnische Opposition und die künftige "Solidarność", die sich im September 1980 gründete, und deren Anführer der Danziger Werftarbeiter Lech Wałęsa wurde. Die fast zehn Millionen Mitglieder starke Gewerkschaft wurde bereits Ende 1981 von der polnischen Regierung verboten und agierte aus dem Untergrund. Im August 1988 gab es im ganzen Land erneut Streiks, die erst ausgesetzt wurden, als die Wiederzulassung der "Solidarność" zugesichert war.
Was ist daraus geworden?
1989 fanden am "Runden Tisch" Gespräche zwischen Regierung, Solidarność und Kirche statt. Die realsozialistische Staatsführung musste Parlamentswahlen zulassen, in denen die Opposition siegte. Das Bürgerkomitee Solidarność, die Vereinigte Bauernpartei und die Demokratische Partei bildeten eine Koalition. Im August 1989 hatte Polen den ersten nicht-realsozialistischen Regierungschef Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Dezember 1990 wurde Lech Wałęsa zum polnischen Präsidenten gewählt. 2004 trat Polen der EU bei.
Wo? - UNGARN
Was? - Die "Stille Revolution"
Wann? - Mai / August 1989
Wer? - Regierung und Opposition
Motto? - "Der Eiserne Vorhang ist historisch, politisch und technisch überholt."
Warum?
Anfang Mai hatte Ungarn begonnen, die Grenzanlagen zu Österreich zurückzubauen. Erstmals öffnetet sich der "Eiserne Vorhang". Schon im Herbst 1988 hatte Ungarns Reformkommunist, Staatsminister Imre Pozsgay festgestellt: "Der Eiserne Vorhang ist historisch, politisch und technisch überholt". Ende Juni durchschnitten die Außenminister Österreichs und Ungarns vor laufenden Kameras den Grenzzaun. Und spätestens mit dem "Paneuropäischen Picknick" nahe der Stadt Sopron im August 1989 wurde der Weg über Ungarn für viele ausreisewillige DDR-Bürger zu einer der Hauptfluchtrouten.
Bereits vor Gorbatschows Perestroika hatte es reformerische Ansätze seitens der ungarischen Staatsführung gegeben – Stichwort "Gulaschkommunismus". Ende der 1980er Jahre, auch Ungarn war da in einer wirtschaftlichen Krise, versuchten Regierung und Opposition den Umbruch im Dialog: Freie Parteien entstanden, darunter die wohl einflussreichste, die "Fidesz" des heutigen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Am "Nationalen Runden Tisch" wurden unter anderem Verfassungsänderungen und ein Wahlgesetz beschlossen; die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei gab im Oktober 1989 schließlich ihren Führungsanspruch auf.
Was ist daraus geworden?
Ungarn wurde in jenem Herbst als demokratische und parlamentarische Republik ausgerufen. Der Umbruch verlief so reibungslos, dass er auch als "Stille Revolution" bezeichnet wird. Bei den freien Parlamentswahlen im Frühjahr 1990 gewannen marktwirtschaftliche liberale, politische konservative Kräfte mit dem außenpolitischen Ziel der Westintegration. 2004 trat Ungarn der EU bei.
Wo? - TSCHECHIEN / SLOWAKEI
Was? - Die "Samtene Revolution"
Wann? - Herbst 1989
Wer? - Studenten, Arbeiter, Intellektuelle
Motto? - „Havel auf die Burg“ – gemeint war der Präsidentensitz auf dem Burgberg in Prag
Warum?
Seit 1988 kam es in der ČSSR zu Demonstrationen – unter anderem gegen Misswirtschaft, Zensur, Umweltzerstörung. Die Umwälzungen in Polen, Ungarn und der DDR hatten auch die Menschen in der Tschechoslowakei mobilisiert. Die Prager bekamen hautnah mit, wie tausende DDR-Bürger über die westdeutsche Botschaft flüchteten. Die Initialzündung des Umbruchs in der Tschechoslowakei war der 17. November 1989, wenige Tage zuvor war in Berlin die Mauer gefallen: zehntausende Studenten protestierten in Prag gegen die kommunistische Staatsführung. Die Polizei knüppelte sie nieder. Ein Schock. Im ganzen Land versammelten sich nun Hundertausende zu Protesten, tagelang, immer wieder. Václav Havel, der Schriftsteller, Dramaturg und Bürgerrechtler der "Charta 77", war da längst zur Integrationsfigur der Bewegung geworden. Unterstützung bekam die auch von Alexander Dubček, dem früheren KP-Chef, der Symbolfigur des "Prager Frühling" von 1968, den Truppen des Warschauer Paktes auf Geheiß der Sowjetunion blutig niedergeschlagen hatten.
Was ist daraus geworden?
Bis auf die Polizeigewalt am 17. November verläuft der Umsturz friedlich, daher der Name "Samtene Revolution". Ende November 1989 legte ein Generalstreik die Tschechoslowakei lahm. Anfang Dezember stimmte die kommunistische Staatsführung einer Übergangsregierung und freien Wahlen zu. Ende Dezember wurde Alexander Dubček zum Parlamentsvorsitzenden und Václav Havel zum Präsidenten gewählt.
Im Juni 1990 fanden freie Parlamentswahlen statt. 1993 trennten sich Tschechen und Slowaken friedlich voneinander: Aus der Tschechoslowakei wurden zwei Staaten. 2004 traten beide Länder der EU bei.
Wo? – ESTLAND, LETTLAND, LITAUEN
Was? - Die "Singende Revolution"
Wann? - August 1989
Wer? - Esten, Letten und Litauer, jung wie alt, hatten eine etwa 600 Kilometer lange Menschenkette quer durchs Baltikum gebildet.
Motto? - Keines. Man sang Volkslieder.
Warum?
Wirtschaftskrise, Umweltprobleme, die russische Dominanz in der Sowjetunion – in der Perestroika-Zeit trieb all das auch die Menschen in den damals sowjetischen baltischen Staaten um. Zudem lebte die Tradition der Sängerfeste wieder auf – und mit ihr Nationalbewusstsein und der Drang nach Unabhängigkeit. Die baltischen Staaten waren erst in den 1940er Jahren in die Sowjetunion eingegliedert worden, als Folge des Hitler-Stalin-Paktes und seines geheimen Zusatzabkommens. Die Sowjets galten den meisten Balten deshalb als Besatzungsmacht, als Okkupanten. Jetzt witterten sie ihre Chance auf Freiheit.
Was ist daraus geworden?
Im März 1990 erklärte sich Litauen für unabhängig, Lettland und Estland folgten im Mai. Ein militärischer unterstützter Putschversuch Moskau-treuer Kräfte gegen die Unabhängigkeitsbewegung Litauens endete Anfang 1991 blutig; in der Hauptstadt Vilnius starben 14 Menschen, mehr als 1000 wurden verletzt.
Auch in Lettlands Hauptstadt Riga kam es zu Kämpfen, hier starben fünf Menschen. Der Zerfall der Sowjetunion aber war unaufhaltbar. Im September erkannte die Sowjetunion die Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten an. 2004 traten sie der EU bei.
Wo? - RUMÄNIEN
Was? - Die "Blutige Revolution"
Wann? - ab dem 15. Dezember 1989
Wer? – Arbeiter, Studenten, die ungarische Minderheit, später Teile der Armee
Motto? – Libertate! - „Freiheit!“
Warum?
Das Ceausescu-Regime lehnte Reformen nach dem Vorbild Gorbatschows Perestroika strikt ab. Nicolae Ceaușescu hatte nach einem Besuch in Nordkorea Anfang der 1970er Jahre in Rumänien eine Autokratie errichtet, gestützt auf den Geheimdienst „Securitate“, er selbst nannte sich „Conducator“, zu Deutsch der Führer, die wenigen Dissidenten wurden isoliert und von der Securitate überwacht. Als Anfang 1980er Jahre auf Drängen Ceausescus die Rückzahlung sämtlicher Auslandsschulden ohne neue Kreditaufnahme begann, hatte das weitreichende Folgen: Die Wirtschaft machte hohe Verlust, Strom, Gas und Lebensmittel wurden rationiert wurden, viele Menschen hungerten. Das befeuerte den Unmut über Ceaușescus Führung. Als im Dezember 1989 der ungarisch-reformierte Pfarrer und Staatskritiker Laszlo Tökes im westrumänischen Timisoara mit Gewalt aus der Stadt versetzt werden sollte, versammelten sich aus Proteste Hunderte vor seiner Wohnung. Das war der „Funke“, der auf andere Gläubige und unzufriedene Arbeiter in der Stadt übersprang. Auch die anderen Umbrüche in Osteuropa beflügelten die Demonstranten. Die Aufstände wurden blutig niedergeschlagen, Teile der Armee weigerten sich jedoch, die Anordnung umzusetzen. Am 21. Dezember 1989 sprang der Funke auch auf andere Städte über, darunter auch auf die Hauptstadt Bukarest, wo es stundenweise zu Straßenkämpfen mit Armee und Geheimdienst kam.
Als am 22. Dezember Nicolae Ceauşescu und seine Frau Elena aus Bukarest flüchteten, stellten sich große Teile der Armee hinter die Protestierenden. Am 23. Dezember wurden sie auf der Flucht verhaftet. Die Straßenkämpfe in Bukarest gingen unterdessen weiter, es gab Gerüchte, über Terroristen, die die Revolution kapern wollen. Wer die Gerüchte streute und wie koordiniert sie waren, ist bis heute ungeklärt. Am 25. Dezember wurde das Diktatorenpaar Ceauşescu von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Was ist daraus geworden?
Die Revolution gilt als die blutige in Osteuropa: Mehr als 1.000 Menschen verloren ihr Leben. Die Revolution mit ihren vielen Opfern ist bis heute nicht vollständig aufgearbeitet. Seit 2007 ist Rumänien Mitglied der EU, doch die Bevölkerung kämpft weiter mit den Folgen des Kommunismus: Armut, Korruption, Arbeitslosigkeit.
(mare)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 07. Oktober 2014 | 17:45 Uhr