Russland Wie russische Exilmedien ihre Landsleute erreichen
Hauptinhalt
31. Oktober 2024, 11:07 Uhr
Trotz Zensur, Blockaden und dem Status als "ausländische Agenten" finden russische Exilmedien kreative Wege, um weiterhin ein breites Publikum in Russland zu erreichen.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine gibt es keine unabhängige Berichterstattung mehr in Russland. Auf der diesjährigen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt Russland Platz 162 von insgesamt 180. Doch die unabhängige russische Presse lebt und hat sogar ein neues Niveau der Kritik am Putin-Regime und des investigativen Journalismus erreicht. Der Preis dafür: die Flucht aus Russland. Tausende Journalistinnen und Journalisten haben das Land verlassen und ihre Medien ins Ausland verlagert oder neue gegründet.
Der Europäische Fonds für Journalismus im Exil (JX Fund) stellte in seiner Studie "Current State of Russia Media in Exile" im November 2023 fest, dass die Anzahl der Exilmedien historische Ausmaße erreicht hat. Nowaja Gaseta. Europa, der TV-Sender Doschd, The Insider, Projekt, Agentstwo, Republic – der Bericht zählte mindestens 93 unabhängige Medien im Ausland, von denen sich die meisten in Berlin und Georgien niedergelassen haben. Russische Medienschaffende haben insgesamt in mehr als 24 Ländern Aufnahme gefunden, darunter in Lettland, Armenien oder Polen.
Selbst Links und Reposts sind strafbar
Eine der größten Nachrichtenseiten im Exil ist Meduza. Herausgeberin Galina Timchenko gründete die Plattform 2014 in Riga, nachdem sie wegen der Ukraine-Berichterstattung bei Lenta.ru entlassen wurde. 2021 wurde Meduza als "ausländischer Agent" eingestuft, 2023 als "unerwünschte Organisation". Die Seite stelle eine "Gefahr für die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung und Sicherheit Russlands" dar, hieß es in der Begründung. Sogar das Verlinken auf Meduza kann strafrechtlich verfolgt werden. "Wenn Sie in Russland sind oder dorthin reisen wollen, ist es besser, alle Reposts unserer Texte zu löschen", heißt es auf der Meduza-Website. Dennoch bleibt die Online-Zeitung eines der beliebtesten russischsprachigen Medien. Allein ihr Telegram-Kanal hat fast 1.300.000 Follower.
Telegram ist inzwischen ein Standardmedium für die meisten journalistischen Exilmedien. Laut JX Fund nutzen 80 Prozent von ihnen den Messenger als Verbreitungskanal. Doch um das größtmögliche Publikum zu erreichen, greifen russische Journalisten auf das gesamte Arsenal moderner technischer Möglichkeiten wie YouTube, X (früher: Twitter), Instagram oder TikTok zurück und haben eigene Apps.
Neue Finanzierungsmodelle
"Liebe Freunde! Der Krieg hat unser Leben völlig verändert. Wir haben unsere Leser nie um Spenden gebeten, weil wir glaubten, selbst Geld verdienen zu können. Unser Einkommen wurde durch Werbung, Veranstaltungen und Bildungsprogramme erzielt. Doch dieses Geschäftsmodell ist zusammengebrochen. Um weiterzumachen, brauchen wir Ihre Unterstützung." Diesen Appell von The Bell, einem der führenden russischsprachigen Wirtschaftsmedien im Exil (ca. 110.000 Follower auf Telegram), könnten alle unabhängigen journalistischen Projekte unterschreiben. Vor allem diejenigen, die zu ausländischen Agenten erklärt wurden: Russische Werbekunden haben Angst, bei ihnen Werbung zu platzieren. Große Sponsoren und Zuschüsse von verschiedenen Stiftungen machen 79 Prozent der Gesamtfinanzierung von Exilmedien aus, so der JX Fund Bericht.
Um trotz aller Schwierigkeiten zu überleben oder sogar zu wachsen, entwickeln russische Journalisten im Ausland innovative Medienprodukte und Geschäftsmodelle. So ist aus dem ehemaligen unabhängigen Radiosender Echo Moskwy, der mitten in einer Live-Sendung im März 2022 abgeschaltet wurde, das große Medienprojekt Echo entstanden. Mit Sitz in Berlin verfügt Echo neben der Website über einen Telegram-Nachrichtenkanal (mehr als 80.000 Abonnenten), eine App und produziert Podcasts. Die in verschiedenen Städten der Welt stattfindenden "Echo-Treffen" für Exil-Russen werden immer beliebter. Echo bringt sogar eigene Werbeartikel und Bücher heraus. Die Echo-Website ist (ebenso wie die vieler anderer russischen Medien) in Russland gesperrt. Doch die Journalisten fanden eine Lösung und bieten ihren Hörern einen kostenlosen VPN-Server, um alle Blockaden zu umgehen.
Ein weiterer Teil des ehemaligen Echo Moskwy-Teams hat den YouTube-Kanal Schiwoj Gwozd (zu Deutsch: Lebendiger Nagel) gegründet, der inzwischen 1,9 Millionen Abonnenten hat. Einige Journalisten bleiben dabei in Russland, während andere gemeinsam mit ihren Kollegen aus dem Exil arbeiten. Zur Finanzierung hat man einen Online-Buchhandel gegründet, gibt ein Magazin heraus und lebt von Spenden.
Doch auch der Kreml hat aufgerüstet: Für das Blockieren von Websites und die Schließung von Social-Media-Plattformen gibt es sogar ein Extrabudget: Laut dem Bericht von JX Fund "A new phase in the fight for press freedom in Russia" vom September diesen Jahres hat der Kreml für diesen Zweck rund 660 Millionen Dollar über einen Zeitraum von fünf Jahren bereitgestellt.
Wen erreichen die alternativen Medien?
Der unabhängige Journalist Dmitri Kolesew erstellt regelmäßig ein Ranking der 20 meistgesehenen russischen gesellschaftspolitischen YouTube-Kanäle. Im September 2024 stand der TV-Sender Doschd, der inzwischen in Amsterdam beheimatet ist, mit fast 50 Millionen Aufrufen auf dem ersten Platz. Seit Juli jedoch verlangsamen die russischen Behörden YouTube. Wenn im August ein Kanal aus den Top 20 durchschnittlich bis 40 Millionen Aufrufe hatte, sank diese Zahl im September um fast ein Drittel, analysiert Kolesew. Doch obwohl der gesamte YouTube-Traffic in Russland um etwa 40 Prozent zurückgegangen ist, waren gesellschaftspolitische Kanäle davon weniger stark betroffen. Insgesamt haben die YouTube-Kanäle unabhängiger Medien insgesamt rund 9,1 Millionen Abonnenten (Stand: November 2023).
Nach Angaben des JX Fund verzeichneten unabhängige russische Medien zwischen August 2023 und August 2024 rund 3,25 Milliarden YouTube-Aufrufe – und allein in diesem Juli 31,77 Millionen Website-Besuche.
Laut der Informationsressource The True Story waren unabhängige Medien Ende 2023 die Quelle für 13,6 Prozent der Nachrichten in Russland. Dabei sind fast alle Exilmedien als "ausländische Agenten" oder "unerwünschte Organisationen" eingestuft, was ihre Verbreitung erschwert. Der JX Fund schätzt, dass bis zu 9 Prozent der Russen Exilmedien konsumieren. Elisaweta Osetinskaja, Chefredakteurin von The Bell, gibt an, dass bis zu 60 Prozent ihres Publikums in Russland sind. Dies sei der Durchschnittswert für alle Exilmedien, die überwiegende Mehrheit der Konsumenten befinde sich in Russland, sagte sie in einem Interview mit Meduza.
„Technologie-Plattformen, die sowohl Exilmedien als auch andere zur Verbreitung von Inhalten nutzen, sind zu einem weiteren Ziel russischer Zensoren geworden. Dieser Druck hat eine Reihe neuer Produkt- und Technologie-Herausforderungen für unabhängige Medien geschaffen und wirkt sich negativ auf deren Reichweite aus“, warnen die Autoren des JX Fund Berichts vom September 2024.
Auch deswegen ist die Stimme der unabhängigen Journalisten, die gezwungen wurden, Russland zu verlassen, wichtiger denn je. Zum zehnjährigen Jubiläum fragte Meduza ihre Leser, ob die Arbeit der Journalisten wichtig sei. Oleg aus Tscheljabinsk schrieb: "Echter Journalismus ist ein Spiegel des Lebens. Wir müssen uns von außen betrachten können. Ohne euch – da kann man sich gleich aufhängen."
MDR (tvm)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 14. Oktober 2024 | 15:13 Uhr