Nordmazedonien Karriere: Vom Freischärler zum Regierungschef
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27. März 2024, 10:41 Uhr
Der ehemalige Offizier Talat Xhaferi hat Geschichte geschrieben: Er gehört der albanischen Minderheit in Nordmazedonien an und wurde erster albanischstämmiger Ministerpräsident des Landes. Dabei hat ihm nicht geschadet, dass er vor rund zwanzig Jahren seinem Fahneneid untreu wurde und zur albanischen Rebellenarmee UÇK überlief, die einen Aufstand gestartet hatte, um mehr Rechte für die albanische Minderheit zu erkämpfen.
2001 muss er die wohl dramatischste Entscheidung seines Lebens treffen: Bleibt er als Offizier seinem Eid treu oder desertiert er, um nicht in Gewissensnot zu kommen? Xhaferi ist zu dieser Zeit Kasernenkommandant von Tetovo, einer mittelgroßen Stadt im überwiegend von der albanischen Minderheit bewohnten Teil Nordmazedoniens. Albanische Paramilitärs hatten eine Polizeistation in der Nähe überfallen und damit einen Aufstand gestartet. Wird er seinen Männern den Befehl geben müssen, auf sie zu schießen?
Der Sündenfall: Albaner-Aufstand von 2001
Für Xhaferi kommt das nicht in Frage – nicht nur, weil er selbst ethnischer Albaner ist, sondern auch, weil er sich weitgehend mit den Forderungen der Aufständischen identifizieren kann. Er legt die Uniform ab und schließt sich der Rebellenarmee UÇK an. Es ist das Ende einer Offizierslaufbahn, die noch im ehemaligen Jugoslawien begann – mit einem Abschluss an der Militärakademie in Belgrad.
Heute will der 61-Jährige seine Fahnenflucht nicht mehr groß kommentieren. Mit ernster Miene und eher schmallippig sagt er dem MDR: "Ich beendete meine Karriere als Soldat." Die militärischen Tugenden aus dieser Zeit hätten ihn aber geprägt und und würden ihm noch heute bei seiner Arbeit helfen. "Disziplin und Verantwortungsgefühl sind Kennzeichen meiner Arbeit", sagt er mit ernstem Gesichtsausdruck. "Als Soldat wird man zur Disziplin gezwungen, das hat mir auch in der Politik geholfen." Offenbar halfen ihm die Soldatentugenden auch auf dem Weg nach ganz oben – denn seit Januar 2024 ist Xhaferi als erster ethnischer Albaner Ministerpräsident von Mazedonien.
Als Soldat wird man zur Disziplin gezwungen, das hat mir auch in der Politik geholfen.
Die Frage, ob er sich mehr als Albaner oder als Mazedonier fühlt, entlockt ihm ein entspanntes Lächeln. "Ich bin Albaner und kann mich nicht anders fühlen", sagt der Politiker. Für die mazedonische Mehrheitsbevölkerung scheint diese Einstellung kein Problem zu sein, berichtet die Journalistin Viktorija Milevska im Gespräch mit dem MDR. "Ja, wir als Mazedonier fühlen uns von ihm vertreten. Warum auch nicht? Bevor er zum Premierminister gewählt wurde, war er unser Parlamentspräsident und Verteidigungsminister, und davor seit 2002 Abgeordneter", sagt Milevska.
Schmelztigel Balkan: Wie Ethnien miteinander auskommen
Die tiefen Gräben von einst sind offenbar überwunden. 23 Jahre nach dem Aufstand kann Talat auf eine beachtliche Karriere als Politiker zurückblicken. Sein Überlaufen zu den albanischen Paramilitärs hat ihm nicht geschadet. Heute sagt er über sich: "Ich bin ein Bürger Nordmazedoniens, und als dessen Repräsentant erfülle ich die mir übertragene Aufgabe sorgfältig."
Sein Beispiel zeigt, dass sich die einzelnen Volksgruppen in einem multiethnischen Land auch auf dem Balkan vertragen können. "Wir erwähnen hier immer die zwei Begriffe – Staatsangehörigkeit und die ethnische Zugehörigkeit", erklärt Xhaferi im Gespräch mit dem MDR. Denn wie so oft auf dem Balkan, ist auch Nordmazedonien ein richtiges Patchwork-Gebilde von Ethnien. Die Mehrheit bilden slawische Mazedonier mit ca. 60 Prozent der Bevölkerung. Danach folgen die Albaner mit ca. 25 Prozent Anteil und weitere Minderheiten, etwa Serben und Türken.
Der Albaner-Aufstand von 2001 konnte noch im gleichen Jahr durch das Abkommen von Ohrid beendet werden – noch bevor es zur Verhärtung der Fronten kam. Zugeständnisse wie Verwaltungsreformen entlang der Sprachgrenzen und die Zulassung der albanischen Sprache in Behörden versöhnten die Albaner mit der mazedonischen Mehrheit – und machten den Weg dafür frei, dass zwei Jahrzehnte später der albanischstämmige Politiker Xhaferi, der etwa ein Viertel der Bevölkerung repräsentiert, als Koalitionspartner zum Königsmacher wurde.
Ohne Albaner geht nichts in Nordmazedonien
Als Albaner sei er zwar einerseits nie zufrieden mit dem Erreichten ("es könnte immer mehr erreicht werden für die albanische Minderheit"), andererseits sei er aber stolz darauf, dass die Albaner einen wesentlichen Teil der politischen Geschichte Nordmazedoniens mitgestaltet haben. "Ob es um den Weg zur Europäischen Union geht oder die Nato-Mitgliedschaft, sie können nichts beschließen ohne die Albaner", sagt der Premierminister.
Die bisherigen Regierungen hätten in Nordmazedonien nur mit Koalitionen funktioniert, betont er. Für ihn ist das schon so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz: "Seit der Unabhängigkeit von Jugoslawien, als die erste Regierung geformt wurde, waren die albanischen Parteien immer mit dabei."
Am 25. Januar 2024 war Xhaferis bisher herausragendster Tag. Damals trat sein Amtsvorgänger Dimitar Kovačevski als Ministerpräsident zurück. Laut einem Abkommen aus dem Jahr 2015 wird in solchen Fällen zur Vermeidung von Regierungskrisen eine technische Regierung gebildet. Xhaferi wurde mit 65 von 120 möglichen Stimmen zum neuen Regierungschef gewählt – damit wird er als erster albanischer Ministerpräsident Nordmazedoniens in die Geschichte eingehen.
Regierungschef zweiter Klasse?
Für die Journalistin Milevska ist er allerdings so etwas wie ein Ministerpräsident zweiter Klasse. "Wir nennen ihn einen technischen Premierminister, da sein Mandat nur 100 Tage beträgt", erklärt sie. "Seine Hauptaufgabe besteht darin, faire und demokratische Wahlen sicherzustellen." Keine allzu große Herausforderung laut Milevska, weil er "technisch versiert ist".
Ob er Blut geleckt hat und regulär gewählter Ministerpräsident werden will? Auf diese Frage antwortet er wieder diplomatisch: "Das ist eine Sache der Wähler, dass sie ihren Willen zum Ausdruck bringen." Doch er lässt sich die Tür offen: "Wenn ich mit dem Willen der Wähler wieder Ministerpräsident werde, werde ich das Amt mit Verantwortung ausführen."
Zu seiner geschichtsträchtigen Amtsübernahme äußert er sich bescheiden: "Die Bürger haben Geschichte geschrieben. Ich bin nur Ausführungsorgan. Ich fühle mich aber umso mehr verantwortlich, die Erwartungen, die die Menschen haben, zu erfüllen." Mit historischen Meilensteinen kennt er sich ohnehin aus – er war bereits der erste albanische Parlamentspräsident Nordmazedoniens und erlangte schon damals Bekanntheit weit über die albanisch besiedelten Gebiete hinaus.
Pragmatismus und Kompromissbereitschaft, gepaart mit der Bereitschaft, Vergangenes ruhen zu lassen, machten ihn für viele wählbar – bis hin zum Amt des Ministerpräsidenten. Am 8. Mai werden die Wähler in Nordmazedonien entscheiden, ob Xhaferin noch einmal Geschichte schreiben und erster regulär gewählter Regierungschef wird.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 06. April 2024 | 07:17 Uhr