Bulgarien Messerattacken und Vergewaltigungen: Gewalt gegen Frauen in Bulgarien
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16. August 2023, 08:16 Uhr
Das Schicksal einer 18-Jährigen hat in Bulgarien zu Massenprotesten geführt. Die junge Frau war von ihrem Ex-Freund schwer misshandelt worden. Der Täter kam nach wenigen Tagen Untersuchungshaft frei. Der Druck der Straße zwang das Parlament, seine Sommerpause zu unterbrechen und ein Gesetz gegen häusliche Gewalt zu verschärfen. Ein großer Erfolg? Keineswegs!
Er hat 20 Mal mit einem Teppichmesser zugestochen, ihr die Nase gebrochen und den Kopf rasiert, sie vergewaltigt und gedemütigt. Ihre Wunden mussten mit mehr als 400 Stichen genäht werden. Dennoch stufte ein gerichtsmedizinisches Gutachten die Verletzungen als "leicht" ein. Der mutmaßliche vorbestrafte Täter wurde nach wenigen Tagen freigelassen.
Dieser Fall rief in Bulgarien großes Entsetzen hervor und führte zu einer Protestwelle gegen Gewalt an Frauen und gegen das Versagen der Justiz. Nach einer Woche gab die Politik dem öffentlichen Druck nach, das Parlament unterbrach seine Sommerferien und verschärfte das Gesetz gegen häusliche Gewalt. Daraufhin traute sich auch das Opfer, die 18-jährige Debora Michajlowa, zum ersten Mal an die Öffentlichkeit, bedankte sich bei den Protestierenden mit einer kurzen Videobotschaft auf Facebook und schrieb: "Meine Haare werden wachsen, meine Narben werden heilen, aber eure Unterstützung wird für immer in meinem Herzen bleiben! Danke!"
Brutaler Angriff löst Massenproteste aus
Die junge Frau aus der südbulgarischen Stadt Stara Zagora war bereits Ende Juni von ihrem 26-jährigen Ex-Freund brutal überfallen worden. Er wurde zunächst gegen Kaution freigelassen und dann wieder - einen Monat später - erneut verhaftet, aufgrund von Droh-Nachrichten, die er dem Opfer kurz vor der Tat aufs Handy geschickt haben soll. Der Mann bleibt in Untersuchungshaft, beteuert allerdings weiterhin seine Unschuld.
Der Fall wurde erst nach einem Monat durch Medienberichte landesweit bekannt – und löste Massenproteste in ganz Bulgarien aus. Allein im Zentrum der Hauptstadt Sofia versammelten sich am 1. August 2023 mehr als 5.000 Protestierende. "Wir werden nicht schweigen!" und "Stoppt den Genozid an Frauen!" war auf Plakaten zu lesen. Gefordert wurden eine Reform des Justizsystems und Änderungen entsprechender Gesetze, um Frauen besser schützen zu können.
Bulgarisches Parlament verschärft Gesetze
Die Politik reagierte für bulgarische Verhältnisse unerwartet prompt. Die Abgeordneten unterbrachen am 7. August ihre Sommerferien und verschärften das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt. Damit wird die Anzeige geschlechtsspezifischer Straftaten vereinfacht und die Höchststrafe für Gewalttäter von sechs auf acht Jahre erhöht. Kernpunkt der Gesetzesnovelle ist der Schutz nicht nur verheirateter oder unverheirateter Paare, die dauerhaft unter einem Dach zusammenleben, sondern auch von Partnern in einem "intimen Verhältnis", wie es nun heißt. Darunter ist eine sexuelle Beziehung von mindestens 60 Tagen zu verstehen – und nur zwischen Mann und Frau, darauf bestanden die oppositionellen Sozialisten und Nationalisten im Parlament.
Häusliche Gewalt in Bulgarien – die Zahlen
Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes erfuhr 2022 jede dritte Frau in Bulgarien im Alter zwischen 18 und 29 Jahren häusliche Gewalt, und zwar ausnahmslos seitens ihres Partners – des Ehemanns oder des Lebensgefährten.
Eine weitere Statistik veröffentlichte das Arbeits- und Sozialministerium. Im Jahr 2022 gab es demnach 736 Fälle von häuslicher Gewalt – 188 gegen Frauen, sechs gegen Männer und 542 gegen Kinder.
Nach dem Bekanntwerden des Falls der 18-jährigen Debora haben sich allerdings viele Frauen zu Wort gemeldet und von erlittenen, aber bislang nicht angezeigten Misshandlungen berichtet. Aus diesem Grund geht man von einer erheblichen Dunkelziffer aus.
Obwohl die Strafen verschärft worden sind, gaben sich die Protestierenden damit nicht zufrieden und kündigten neue Demonstrationen an. Bei der Protestkundgebung am 8. August blieben für den 38-jährigen Kaufmann aus Sofia, Dimiter Kostow, trotz der Gesetzesänderungen viele Fragen unbeantwortet: "Was heißt hier '60 Tage'? Die Definition für ein intimes Verhältnis nur zwischen Mann und Frau ist zudem diskriminierend. Was ist mit den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften? Warum bleiben sie außen vor? Es ist doch egal, mit wem man zusammenlebt. Jeder hat ein Recht auf Schutz gegen Gewalt", sagte Kostow, einer von Tausenden Demonstranten am Dienstagabend vergangener Woche vor dem Justizpalast in der Hauptstadt.
Seine Lebensgefährtin Petja Trajkowa bringt auf den Punkt, warum die Gesetzesänderungen vielen Bulgarinnen und Bulgaren als halbherzig erscheinen: "Es ist höchste Zeit, dass Bulgarien die Istanbul-Konvention ratifiziert. Sie würde uns sehr helfen, denn häusliche Gewalt gibt es nicht nur in der Partnerschaft, sondern auch gegenüber Älteren und Kindern", meint die Buchhalterin.
Erst Frauenrechte, dann die "Homo-Ehe"?
Damit nimmt die Demonstrantin die oppositionellen Sozialisten ins Visier, die sich gegen die Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sträuben. Das Verfassungsgericht hatte 2018 entschieden, dass die Konvention gegen das Grundgesetz verstößt. Nach der Verabschiedung der Gesetzesnovelle im Zuge der Proteste warnte im Parlament die Vorsitzende der sozialistischen Partei BSP, Kornelia Ninowa, dramatisch mahnend: "Das, verehrte bulgarische Staatsbürger, ist der erste offizielle legislative Durchbruch für die Einführung und Legalisierung der Ehe für alle."
Was ist die Istanbul-Konvention?
Die Istanbul-Konvention ist ein internationales Abkommen. Sie soll geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen eindämmen bzw. völlig beseitigen.
Als Gewalt werden dabei nicht nur körperliche Übergriffe definiert, sondern auch psychische Misshandlung, Stalking, Vergewaltigung, Zwangsehe, Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung und sexuelle Belästigung.
Die Vertragsstaaten verpflichten sich in der Konvention, Gewalt gegen Frauen zu verhüten, die Opfer zu beschützen, die Täter zu verfolgen und Diskriminierung von Frauen entgegenzuwirken.
In Deutschland ist sie seit Februar 2018 geltendes Recht. Viele osteuropäische Staaten, darunter Bulgarien, Ungarn und Tschechien, weigern sich, die Istanbul-Konvention zu ratifizieren. Andere Länder, etwa Polen, haben die Konvention zwar formal angenommen, setzen sie aber aus ideologischen Gründen nur halbherzig um.
Link: Die Istanbul-Konvention im Wortlaut.
Die Antragsteller der liberal-konservativen Regierungsmehrheit gaben dagegen zu, dass die Gesetzesänderung zu spät kommt. "Debora hatte ein intimes Verhältnis. Hätte es das verschärfte Gesetz bereits gegeben, als sie die ersten Drohungen bekam, hätte sie Schutz bekommen. Die heutige Parlamentsdebatte zu diesem so wichtigen Thema zeigt aber, wie unreif, engstirnig und vulgär man im Plenarsaal ist", erklärte der Fraktionsvorsitzende der liberalen Regierungspartei PPDB Kiril Petkow. Er konnte nicht ahnen, dass ein Parlamentskollege wenige Minuten später, den perfekten Beleg für diese Feststellung liefern wird.
Der Vorsitzende des parlamentarischen Kultur- und Medienausschusses, Weschdi Raschidow, erlaubte sich nämlich eine vulgäre Bemerkung gegenüber Frauen. In einer der Sitzungspausen während der Debatte im Parlament, die von einigen Fernsehsendern live übertragen wurde, hörte man den 71-jährigen Bildhauer und Ex-Kulturminister sagen: "Das neue Gesetz ist nicht viel anders als das alte. Bloß sind nun alle Dirnen aufgewacht und haben sich plötzlich erinnert, dass sie mal vor 15 Jahren vergewaltigt worden sind." Obwohl er sich für seine Worte entschuldigte, brachte die Empörung über seine Äußerung wieder Tausende auf die Straßen, die beim zweiten landesweiten Protest am 8. August 2023 seinen Rücktritt forderten. Raschidow gab dem Willen der Straße nach und ließ nun erklären, er ziehe sich aus der Politik zurück.
Bulgarien hat ein Gewaltproblem
Aus Sicht vieler Protestierender waren die Worte des Politikers kein Ausrutscher, sondern viel mehr ein Symptom für ein grundsätzliches Gewaltproblem in Bulgarien. "Ich bin pessimistisch", fasste es der 25-jährige Iwajlo Draganow bei der Demo in Sofia zusammen: "Wir protestieren gegen die Gewalt an Frauen, aber das größere Problem ist, dass die Aggression generell deutlich zugenommen hat. Sie ist Teil unseres Lebens geworden und Opfer sind alle, die anders sind. In jeglicher Hinsicht. Eine einzige Gesetzesänderung wird nichts bewegen", meint der Student. Seine Freundin, Daniela Rakowa, sieht es ähnlich. Für sie ist aber noch schlimmer, dass Polizei und Justiz nicht funktionieren, wie der Fall der 18-jährigen Debora gezeigt habe.
Auch Nichtregierungsorganisationen verweisen darauf, dass Bulgarien ein generelles Problem mit Gewalt habe. "So ist es nun mal in Bulgarien – erst, wenn es Opfer gibt, bewegt sich etwas", sagt resigniert der Rechtsanwalt Petromir Kantschew von der bürgerlichen Initiative "Rechtsstaatlichkeit für alle". Er sieht aber auch ein positives Signal: "Vor einem Jahr gingen die Menschen wegen steigender Preise auf die Straße. Heute zeigen sie endlich, dass sie Gerechtigkeit nicht minder wichtig finden. Dieses Erwachen stimmt mich optimistisch."
Hinweis: Wenn Sie Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, dann finden Sie Beratung und Hilfe beim Hilfetelefon GEWALT GEGEN FRAUEN unter der kostenlosen und europaweit einheitlichen Telefonnummer 116 016.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten - Der Osteuropa-Podcast | 19. August 2023 | 07:17 Uhr