Bildungspolitik Ärztefabrik Bulgarien – Medizinstudium ohne Numerus clausus
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16. August 2023, 13:23 Uhr
Arzt ist nach wie vor ein Traumberuf vieler Schulabgänger. Um aber in Deutschland Medizin studieren zu können, braucht man einen Notenschnitt von 1,0 und für Zahnmedizin zwischen 1,0 und 1,3. Wer den nicht hat, kann im Ausland studieren – zum Beispiel in Bulgarien. Das Land ist sehr beliebt und hat den höchsten Anteil ausländischer Medizinstudenten in der gesamten EU. Nicht ohne Grund.
"Praktika bereits ab dem zweiten Studienjahr und die zwei praktischen Semester sind nicht überall zu haben", schwärmt Elvira (Name von der Redaktion geändert). Sie kommt aus Deutschland und studiert im zweiten Studienjahr Zahnmedizin in Warna. Für die Küstenstadt am Schwarzen Meer habe sie sich entschieden, weil die Universität ein besseres Preis-Leistungsverhältnis als vergleichbare Unis in Osteuropa biete.
"Die Zahnmedizinische Fakultät wurde 2006 eingerichtet. Die Gebäude und Einrichtungen der universitätseigenen Zahnklinik sind relativ neu, die Vorlesungs- und Seminarräume sind modern ausgestattet und entsprechen deutschen Standards", betont Elvira. Von besonderem Vorteil sei, dass die Studierenden bei den Behandlungen in maximal 6er- bis 10er-Gruppen von je zwei Assistenzärzten betreut werden. Um Patientengespräche führen zu können, haben die angehenden Zahnmediziner auch die Möglichkeit, Bulgarisch zu lernen.
Auch Christophoros Koufos, der im sechsten Semester in Sofia Humanmedizin studiert, ist voll des Lobes. Ihm fallen vor allem die gute Betreuung und der direkte Kontakt zu den Professoren positiv auf. "Es ist nicht selten, dass man als Student die Handynummer des Professors bekommt, um bei diversen Fragen persönlich nachfragen zu können", berichtet der Grieche fast schon mit einer Dosis Verwunderung in der Stimme. Dazu hätten viele der Professoren Auslandserfahrung und seien ausländischen Studenten gegenüber sehr aufgeschlossen und hilfsbereit. Für Sofia hat er sich aber auch wegen der Nähe zu seinem Heimatort im Nachbarland Griechenland entschieden.
Zwei Beispiele von einigen Tausend. Bulgarien bietet seit 2008 das Medizinstudium in Englisch an – und ist im Studienjahr 2022/2023 zum EU-Land mit dem höchsten Anteil ausländischer Medizinstudenten aufgestiegen. Deren Zahl hat sich binnen fünf Jahren verdreifacht, wie eine Statistik des Bildungsministeriums belegt. Von insgesamt etwas mehr als 9.000 ausländischen Studierenden in Bulgarien haben 58,5 Prozent den Magister in Humanmedizin ins Visier genommen. Weitere 11,5 Prozent studieren Zahnmedizin. Die meisten entscheiden sich für die Hauptstadt Sofia, gefolgt von Plowdiw im Süden und Warna an der Schwarzmeerküste.
Hohe Studiengebühren, billiges Leben
Das Studium im Ausland ist nicht ganz billig. Die englischsprachigen Studiengänge für Medizin im osteuropäischen Ausland sind stets mit Studiengebühren verbunden. Bulgarien ist da neben Rumänien der günstigste Standort. Die drei staatlichen Unis in Sofia, Plowdiw und Warna verlangen 9.000 Euro im ersten Studienjahr der Human- und der Zahnmedizin und ab dem vierten Semester bis zum Magisterabschluss 8.000 Euro pro Jahr. Bulgarische Studenten zahlen fast acht Mal weniger.
Billig ist dagegen das Leben in Bulgarien, selbst im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern, die ebenfalls viele ausländische Medizinstudenten anziehen. Mit etwa 700 Euro kommt man in den bulgarischen Großstädten über die Runden. Ein WG-Zimmer ist je nach Ausstattung und Lage für 250 bis 400 Euro zu bekommen, wobei die Hauptstadt Sofia etwas teurer als Plowdiw und Warna ist.
Mit dem Studentenausweis genießt man zudem einige Ermäßigungen, etwa im öffentlichen Nahverkehr, beim Kino- und Theaterbesuch. Die Busfahrt in der Stadt kostet ca. 50 Cent pro Strecke. Teure Anschaffungen wie Fachbücher und Instrumente stehen beim Studienstart nicht an – die benötigten Materialien werden zum größten Teil von der Universität verliehen bzw. vergeben.
Medizin-Unis werben Ausländer gezielt an
"Der größte finanzielle Pluspunkt liegt eindeutig bei den Lebenshaltungskosten", sagt der Leiter des "Open Society Institute" in Sofia, Georgi Stojtschew, der an einer umfangreichen Studie zum Thema arbeitet. "Aber nicht nur", fügt er sofort hinzu. "Für die Entscheidung der deutschen Schulabgänger, nach Bulgarien zu kommen, spielt der Wegfall des Numerus Clausus eine entscheidende Rolle", berichtet Stojtschew aus seinen Gesprächen mit Studierenden aus Deutschland.
Für sie reicht die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung aus, die Abiturnote ist für die Zulassung nicht wichtig. Dafür aber legen die Universitäten Wert auf gute Schulnoten in Biologie und Chemie. In diesen beiden Fächern müssen die Studienanwärter zusätzlich eine Aufnahmeprüfung bestehen. Die Englischkenntnisse müssen mit einem IELTS- oder TOEFL-Zeugnis oder über einen Sprachtest nachgewiesen werden.
In seiner Studie führt Stojtschew aus, dass der hohe Anteil ausländischer Medizinstudenten in Bulgarien die Folge einer gezielten Politik der Hochschulen sei. Vorreiter ist die 1917 gegründete Medizinische Universität in Sofia, die schon 2008, ein Jahr nach dem EU-Beitritt des Landes, damit begonnen hat, englischsprachige Studiengänge anzubieten. Jährlich hält sie rund 600 Plätze für das Studium der Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie in Englisch bereit. Später folgten die Medizinischen Universitäten in Plowdiw und Warna.
Zur Strategie, Studierende aus der EU anzulocken, gehören laut Stojtschew auch die niedrigeren Gebühren im Vergleich zu Ungarn oder der Slowakei. "Damit ist Bulgarien im europäischen Vergleich relativ günstig", sagt der Experte. So kommt es, dass 88 Prozent der ausländischen Studenten EU-Bürger sind, vor allem Griechen, Deutsche und Italiener.
Kehrseite: Ärztemangel in Bulgarien
Der Andrang ausländischer Medizinstudenten und das traditionell große Interesse der einheimischen Studienanwärter an einem Medizinstudium machen Bulgarien zu einem der weltweiten Spitzenreiter nach Anzahl der ausgebildeten Ärzte. 2022 schlossen hier insgesamt 2.133 Studierende ihr Medizinstudium ab und damit deutlich mehr als in den USA oder in der westeuropäischen Top-Destination Irland. Doch den überwiegenden Teil der frisch gebackenen Mediziner zieht es nach den sechs Studienjahren ins Ausland – die bulgarischen Absolventen eingeschlossen.
Drei Viertel der bulgarischen Medizinstudenten bewerben sich noch während des Studiums für eine Stelle im Westen oder machen dort ihre Facharztausbildung. Dort bekommen sie deutlich mehr Geld. Die Folge: Der Ärztemangel in Bulgarien vertieft sich von Jahr zu Jahr immer mehr. Zwar liegt das Land bei der Ärztedichte nahezu gleichauf mit Deutschland: Auf 10.000 Einwohner kommen 43 Ärzte (in Deutschland: 44). Doch die Zukunftsaussichten sind trüb – mehr als die Hälfte der praktizierenden Ärzte im Land sind über 55 Jahre alt und fast jeder fünfte ist sogar im Rentneralter.
Ärztedichte in der EU nach Ländern
Bulgarien und Deutschland liegen in Sachen Ärztedichte im Mittelfeld der EU. Spitzenreiter ist Schweden mit 71 Ärzten auf 10.000 Einwohner. Gut schneiden außerdem ab: Griechenland (63), Ungarn (61), Portugal (55), Österreich (53). Relativ schlechte Werte haben: Luxemburg (30), Rumänien (30), Frankreich (33), Slowenien (33), Lettland (34), Estland (35), Irland (35), Kroatien (35). Schlusslicht ist Malta mit 29 Ärzten auf 10.000 Einwohner.
Anerkennung des bulgarischen Diploms in Deutschland
Laut EU-Berufsanerkennungsrichtlinie entspricht das sechsjährige Medizinstudium in Bulgarien dem Staatsexamen Medizin in Deutschland und kann entsprechend zwecks Approbation, also für die staatliche Berechtigung, den Arztberuf eigenverantwortlich auszuführen, anerkannt werden. Darüber hinaus ermöglicht die EU-Freizügigkeitsrichtlinie, dass sich die Absolventen mit einem internationalen EU-Abschluss auf Englisch innerhalb der EU und der Schweiz niederlassen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 11 | 26. Juni 2023 | 11:00 Uhr