Balkanroute Schleuserbanden: Mit dem Leichenwagen durch Bulgarien
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01. Februar 2023, 04:37 Uhr
Verfolgungsjagden mit Schusswechseln, getötete Polizisten und ein uraltes arabisches Zahlungssystem, das Mafiosi und Terroristen nutzen: Bulgarien hat sich zu einer Drehscheibe illegaler Migration entwickelt. Die Schleuser sind international organisiert. Seit Jahresbeginn macht die bulgarische Polizei Jagd auf sie – durchaus mit Erfolg. Es gab dutzende Festnahmen, doch ohne eine einheitliche europäische Migrationspolitik wird man langfristig keinen Erfolg haben.
Mit einem uralten arabischen Zahlungssystem namens Hawala wird der Migrationsstrom aus dem Nahen Osten über den Balkan nach Westeuropa organisiert. Terroristen nutzen es, weil es für Außenstehende nicht zu durchschauen ist. "Nun sind auch die Schleuser auf den Geschmack gekommen", stellt der angesehene bulgarische Sicherheits- und Migrationsexperte Tihomir Beslow im Gespräch mit dem MDR in Sofia fest. Er ist Mitbegründer der Sicherheits- und Migrationsforschung am Sofioter Think Thank CSD (Zentrum für Demokratiestudien).
Arabisches Zahlungssystem für Schleuser
Hawala – so heißt das informelle Geldtransfersystem, das schon in den heiligen Schriften des Islams beschrieben ist und nur dank einer Voraussetzung funktioniert: Vertrauen. "Wer über die Türkei und Bulgarien nach Westeuropa gelangen will, hinterlässt das Geld für die Schleuser bei einer Vertrauensperson in der Türkei. Diese zahlt das Geld an den Schleuser erst dann, wenn der Migrant sein Ziel erreicht hat", erläutert Beslow. Die Migranten und die Schleuser kennen sich nicht, sie kommunizieren über verschlüsselte Nachrichten.
Auch die Mitglieder des Schleusernetzes kennen sich nicht und werden zudem oft ausgetauscht. "So kommt man ihnen nicht auf die Spur", sagt der Experte. Ein weiterer Vorteil des verschwiegenen Hawala-Systems: "Da das Geld an die Schleuser nur dann ausgezahlt wird, wenn der Migrant sein gewünschtes Endziel erreicht hat, verliert er es nicht, wenn er beim versuchten Grenzübertritt scheitert, und kann es immer weiter versuchen, bis er es endlich schafft."
"Hawala" hat die bulgarische Polizei auch ihre groß angelegte Razzia gegen illegale Migranten und Schleusernetzwerke genannt, die seit Mitte Januar im ganzen Land läuft und voraussichtlich auf die benachbarte Türkei ausgedehnt wird. Das Ergebnis bislang: 92 Anklagen, Hunderte Festnahmen und ein zerschlagenes internationales Schleusernetzwerk, das Migranten aus Syrien über die Türkei, Griechenland und Bulgarien nach Westeuropa geschmuggelt haben soll. Festgenommen wurden mutmaßliche Fahrer, die für den Transport der illegalen Migranten von der bulgarisch-türkischen zur bulgarisch-serbischen Grenze zuständig gewesen sein sollen.
Schleuser in Bulgarien besonders dreist
Die Ermittlungen haben besonders dreiste Methoden für den Transit durch Bulgarien ans Licht gebracht – illegale Migranten sind mit Krankenwagen und sogar mit Leichenwagen von der bulgarisch-türkischen Grenze im Südosten bis nach Serbien im Nordwesten transportiert worden. "Jeder zahlte zwischen 2.000 und 10.000 Euro", gab die Chefin der Grenzpolizei Rossiza Dimitrowa bekannt.
Der Sicherheits- und Migrationsexperte Tihomir Beslow ergänzt gegenüber dem MDR: "Neu im Vergleich zu 2015 sind die vielen ausländischen Schleuser. Sie kommen aus Georgien, Serbien, Nordmazedonien, der Türkei, Rumänien, der Ukraine und sogar aus Polen und Westeuropa." Auch wenn die laufende "Hawala"-Razzia erste Erfolge gegen Schleuser vorweisen kann, bezweifelt der Experte, dass Bulgarien mit der illegalen Migration allein fertig werden kann. "Bei so einem Netz hat kein einziges Balkanland die Kapazität, alle Schleuserbanden zu zerschlagen. Das ist schwerste organisierte Kriminalität", so Beslow.
Steigender Migrationsdruck und tote Polizisten
Seit dem vergangenen Jahr beklagt die Polizei einen dramatisch steigenden Migrationsdruck auf Bulgarien. "Wir hatten knapp 100.000 versuchte illegale Grenzübertritte in nur einem Jahr. Das ist fünf Mal so viel wie im Jahr zuvor", gab der Staatssekretär im Innenministerium Peter Todorow bekannt.
Bei der Auseinandersetzung mit den Schleusern kamen schon mehrere Polizisten ums Leben. Ende August 2022 sind in der Schwarzmeerstadt Burgas, etwa 90 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, zwei Beamte bei einer Verfolgungsjagd mit illegalen Migranten ums Leben gekommen.
Anfang November vorigen Jahres wurde ein bulgarischer Grenzbeamter an der Grenze zur Türkei erschossen. Noch ist unklar, ob es sich dabei um einen tragischen Zwischenfall handelte, bei dem ein türkischer Hirte mit seinem Luftgewehr in Richtung der bulgarischen Patrouille geschossen haben soll, wie die türkischen Ermittler behaupten.
Zwei Wochen nach diesem tödlichen Zwischenfall starb ein weiterer Polizist, diesmal bei einer Verfolgungsjagd mit illegalen Migranten in der Hauptstadt Sofia. Das Innenministerium und die Staatsanwaltschaft ermitteln allerdings auch gegen mindestens zehn Beamte der Grenzpolizei, die am Schleusergeschäft möglicherweise mitverdient haben. Außerdem steht der Vorwurf im Raum, dass die bulgarische Grenzpolizei völkerrechtswidrige Pushbacks durchführt, also gestellte Migranten ohne Überprüfung ihres Asylantrags wieder in die Türkei abschiebt. Beamte sollen Migranten zudem mit unverhältnismäßiger Härte behandeln.
Mehr Asylanträge in Deutschland, EU-Länder uneins
Der steigende Migrationsdruck auf die bulgarische Grenzen hat auch für Deutschland Folgen – denn Deutschland ist das eigentliche Ziel vieler Migranten, die in Bulgarien das EU-Territorium betreten. Das belegt auch ein Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Demnach wurden 2022 hierzulande 244.132 Asylanträge gestellt, davon 217.774 Erstanträge. Das sind rund 28 Prozent mehr als im Jahr zuvor. In dieser Rechnung werden die geflüchteten Ukrainer nicht berücksichtigt, die wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine einen anderen Status erhalten. Eine Lösung für das Problem ist dem Migrationsexperten Beslow zufolge nicht in Sicht.
"Die allseitigen Unverträglichkeiten unter den 27 EU-Mitgliedsländern lassen keine einheitliche Migrationspolitik zu. Das ist das eigentliche Problem Europas", glaubt Migrationsforscher Beslow im Gespräch mit dem MDR. Ihm zufolge ist die Migrationswelle, die auf Europa zurollt, mit den verfügbaren Mitteln nicht aufzuhalten. "Wir wissen aus Erfahrung, dass jeder illegale Migrant es etwa fünf- bis sechsmal Mal versucht, bis er Westeuropa erreicht. Es ist illusorisch zu glauben, dass man die Grenzen hundertprozentig dichtmachen kann", sagt Beslow.
Der Experte verweist darauf, dass der Kampf gegen Schleuserbanden nur dann Erfolg haben kann, wenn grenzüberschreitend zusammengearbeitet werde. "Im konkreten Fall Bulgariens und der in diesen Tage laufenden Razzia 'Hawala' wäre es ein Durchbruch, wenn die Nachbarländer Griechenland und Türkei mit ins Boot genommen werden könnten", so der Experte.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Europa - Kontinent im Umbruch T: 2 | Die neuen Europäer | 31. Mai 2022 | 21:07 Uhr