08.08.2020 Präsidentschaftswahl in Belarus: Wählen wie in der DDR

17. August 2020, 14:26 Uhr

In Belarus wird heute ein neuer Präsident gewählt, doch Amtsinhaber Lukaschenko hatte die Wahllokale schon vor Tagen öffnen lassen. Das hat Tradition in Belarus. Bei jeder Präsidentschafts- und Parlamentswahl zwingt die Regierung Studenten und Staatsbeamte, schon vor dem eigentlichen Wahltag abzustimmen. Viele Beobachter behaupten, er mache das, um die Wahlergebnisse in Ruhe frisieren zu können. Denn für den Präsidenten könnte es diesmal wirklich eng werden.

Präsident Alexander Lukaschenko bei einer Wahl
Auf zur Wahl! Der belarusische Präsident Lukaschenko will im Amt bleiben. Bildrechte: imago stock&people

Nach Angaben der staatlichen Wahlkommission hatten bis Freitag schon mehr als zwölf Prozent der belarussischen Bevölkerung ihren Zettel in die Wahlurne gesteckt. Unabhängige Beobachter haben so gut wie keinen Zugang zu den Wahllokalen. Eine Aktivistin berichtet, in einem kleinen Ort vor den Toren von Minsk wurden nur drei Beobachter ins Wahllokal gelassen. Sie alle waren Vertreter pro-staatlicher Organisationen. Eine belarussische Menschenrechtsorganisation beklagt zudem, dass es vor vielen Wahlkabinen keine Vorhänge gibt. 

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bezeichnet die Präsidentschaftswahlen in Belarus seit Jahren als undemokratisch. Dieses Mal hat die OSZE keine Beobachter nach Belarus geschickt. Der Grund: das Außenministerium hatte die Organisation nicht (rechtzeitig) eingeladen.

Alternative: Wahlbeobachtung per App

Um trotzdem so viel Transparenz wie möglich zu bekommen, haben sich Oppositionelle eine Alternative zur offiziellen Stimmenauszählung ausgedacht: Jeder Wähler soll sich mit seiner Telefonnummer in einer App registrieren, ein Foto vom Stimmzettel machen und versenden. Mittlerweile sind in der App schon fast eine Million Nutzer registriert, also ein Neuntel der Bevölkerung.

Ob die App-Nutzer angesichts fehlender Vorhänge an den Wahlkabinen allerdings tatsächlich auf den Auslöser ihrer Handykameras drücken, bleibt abzuwarten. Der Entwickler der Plattform wurde inzwischen verhaftet und sitzt im KGB-Gefängnis. Noch mindestens sechs weitere Wahlbeobachter befinden sich ebenfalls in Haft: Die meisten von ihnen wollten eine Klage einreichen, weil sie Ungenauigkeiten beobachtet hatten. Sie wurden daraufhin wegen "Widerstandes gegen die Polizei" verhaftet und zu sechs bis zwölf Tagen Haft verurteilt.

Veronika Tsepkalo, Swjatlana Zichanouskaja und Maria Kolesnikova
Frauenpower in Belarus: Veranika Tsepkala, Sviatlana Tsichanouskaja und Marya Kalesnikava (v.l.) Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Frauenpower: Gegenwind für Präsident Lukaschenko

Dass bei dieser Präsidentschaftswahl in Belarus nichts ist wie immer, hat die belarusische Regierung längst registriert. Erwartet hatte sie es nicht! Als Präsident  Lukaschenko den drei populärsten Oppositionspolitikern verweigerte, sich als Präsidentschaftskandidaten zu registrieren und zwei von ihnen sogar ins Gefängnis werfen ließ, schien für ihn noch alles nach Plan zu laufen. Doch dann tauchten plötzlich drei Frauen auf: ohne größere politische Erfahrungen, dafür jedoch mit umso mehr Kampfeswillen. Swetlana Tichanowskaja, deren Mann Siarhei, ein politischer Youtube-Blogger, im KGB-Gefängnis sitzt, ist inzwischen zum Symbol des Protestes in Belarus geworden. Gemeinsam mit Veronika Zepkalo, deren Ehemann ebenfalls nicht um das Präsidentenamt kandidieren durfte, und Maria Kolesnikowa, Wahlkampfleiterin eines weiteren eingesperrten Kandidaten, reiste sie durch das Land. Die Auftritte der drei Frauen wurden zu einem ungeahnten Erfolg. Allein an der größten Kundgebung in der Hauptstadt Minsk nahmen nach Angaben von Menschenrechtlern mehr als 60.000 Menschen teil. So viele Menschen hatte die Opposition seit 20 Jahren nicht mobilisieren können.

Menschen applaudieren
Massenauflauf: Zur größten Kundgebung der Opposition in Minsk kamen 60.000 Menschen. Bildrechte: imago images/ZUMA Wire

Wackelkandidat: Lukaschenko verliert selbst treue Anhänger

Einer der Gründe, warum selbst viele Menschen auch in der sonst wenig "aufmüpfigen" Provinz dem ewigen Präsidenten Lukaschenko nun die Gefolgschaft gekündigt zu haben scheinen, ist dessen Agieren während der Corona-Pandemie. Lukaschenko, der das Problem anfangs leugnete, hat in den Augen vieler total versagt. Eine Umfrage des Instituts für Soziologie der belarussischen Akademie für Wissenschaften in den Monaten März und April förderte zu Tage, dass nur 24 Prozent der Einwohner von Minsk dem Präsidenten noch vertrauen. Zieht man in Betracht, dass jeder vierte Belarusse in der Hauptstadt lebt, bekommt die Zahl einiges an Gewicht. Der Chef des Instituts wurde kurz nach der Veröffentlichung dieser Zahlen entlassen. Unabhängige Polit-Umfragen sind in Belarus generell verboten.

Opposition: Eine Party wird gekapert

Am Donnerstagabend hatten sich in einem kleinen Park eines Minsker Plattenbaubezirks Tausende Menschen versammelt, um gegen Lukaschenko zu protestieren. Der Park, nicht besonders zentrumsnah gelegen, ist einer von sechs Plätzen in der belarussischen Hauptstadt, an dem Wahlveranstaltungen erlaubt waren. Nachdem Swetlana Tichanowskaja dort schon einmal mehr als 60.000 Menschen um sich gesammelt hatte, beschloss die Regierung Gegenmaßnahmen: Bis zur Wahl veranstalteten die lokalen Behörden auf diesen Plätzen nun eigene Feste, um Kundgebungen der Opposition zu verhindern. Swetlana Tichanowskaja tauchte trotzdem dort auf - nicht als Kandidatin, sondern als Einwohnerin. Die Andeutung wurde verstanden. Binnen weniger Stunden kamen Tausende Wähler mit weißen Bändern, dem Symbol des Protests.

Die Euphorie erreichte sogar zwei DJs. Statt wie verordnet Propagandasongs für den Präsidenten zu spielen, legten sie spontan das Protestlied "Änderungen" auf. Das Lied von der Band "Kino" war in der Sowjetunion das Symbol von Antikommunismus und Wandel. "Wir wollen Änderungen, schon 26 Jahre", kommentierte Ulad, einer der beiden DJs, als die Journalisten sie direkt dazu befragten. Auf die weitere Frage, wo und für wen sie arbeiten, antworteten sie nur kurz: "Wir arbeiteten beim Jugendpalast, der das Fest organisierte. Heute ist aber wohl unser letzter Tag". Fast das halbe Lied über konnten die Staatsbeamten nichts machen, das Publikum applaudierte und sang mit. Nach nur wenigen Minuten wurden die beiden DJs in sozialen Netzwerken wie Rockstars gefeiert. Kurz darauf nahm sie die Polizei fest. Am Freitag verurteilte sie ein Gericht wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Ordnungswidrigkeiten zu zehn Tagen Haft.

Demonstranten
Sitzen inzwischen im Gefängnis: Zwei DJs, die in Minsk einen unerwünschten Song gespielt haben. Bildrechte: Iryna Arakhouskaya

Wie es nach der Präsidentschaftswahl in Belarus weitergehen wird, ist offen. Niemand glaubt, dass Amtsinhaber Lukaschenko die Macht freiwillig abgeben wird. Ab Montag wird es also spannend. "Ich bin sicher, die Menschen werden nach den Wahlen auf die Straße gehen", sagt ein politischer Aktivist, der auch für die oppositionellen Kandidaten Unterschriften gesammelt hat. Sinnvoll sei nur ein langfristiger und friedlicher Protest. Er hoffe, dass die Mehrheit das verstehe und dazu bereit sei.

(voq)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 07. August 2020 | 17:45 Uhr

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