Kommentar Ukraine: Redet der Westen eine russische Invasion herbei?
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03. Februar 2022, 18:14 Uhr
Eine Invasion Russlands in der Ukraine ist real, doch dass Putin das ganze Land "einkassieren" will – das hält der MDR-Ostblogger in Kiew, Denis Trubetskoy, für äußerst unwahrscheinlich. Entsprechende Horrorszenarien, wie sie westliche Medien verbreiten, sorgen für Panik und schaden vor allem der Ukraine. Und sie verdecken die möglicherweise wahren Absichten des Kreml-Chefs – eine Invasion im Osten des Landes, zur Ausweitung und Festigung der beiden Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk.
Seit Monaten ist von einem Krieg in Europa die Rede, von der größten Sicherheitskrise auf dem Kontinent mindestens seit dem Ende des Kalten Krieges. Mit dem Truppenaufmarsch in der Nähe der Grenze zur Ukraine, wo sich nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums bis zu 130.000 russische Soldaten befinden sollen, versetzt Moskau die westliche Welt in Panik. Während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versucht, seine Bevölkerung zu beruhigen, setzen vor allem US-Medien Horrorszenarien in die Welt.
Horrorszenarien in den West-Medien
So ist meist mit Verweis auf US-Geheimdienste von einer möglichen Invasion Russlands im Februar die Rede, wenn der Boden in der Ukraine angeblich gefriert – was vermeintlich das Vorankommen der Panzer erleichtern soll – und die russische Armee gleichzeitig ein gemeinsames Militärmanöver mit Belarus durchführt. Dabei wird allerdings übersehen, dass der Januar und nicht der Februar hierzulande der statistisch kälteste Monat des Jahres ist – und dass es laut Wettervorhersagen keine Anzeichen für dauerhafte Minustemperaturen in den kommenden Wochen gibt.
Bereits während der russischen Krim-Annexion im März 2014 war weltweit von einer dramtischen Krise die Rede, zu Recht, wie ich finde. Nachdem auf der Krim die Grenzen in Europa gewaltsam verschoben wurden, fingen im April in der ostukrainischen Region Donbass die Kämpfe zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee an – ein echter Krieg, der nach UN-Angaben bisher mehr als 13.000 Menschenleben kostete und niemals aufgehört hat. Wenn ich in diesen Tagen ständig auf einen möglichen Krieg angesprochen werden, frage ich mich, ob die westliche Welt die letzten acht Jahre komplett verschlafen hat. Denn der Krieg ist längst Realität, und die Separatisten genießen eine weitgehende Unterstützung Moskaus!
Der Krieg gegen die Ukraine hat längst begonnen
Wenn ich mir aber die verschiedenen Szenarien eines offenen Angriffs Russlands anschaue, entsteht bei mir die Frage, ob sich jemand mit der tatsächlichen Sicherheitslage um die Ukraine überhaupt detailliert auseinandersetzt.
Spätestens seit 2015 baut Russland seine ständige Truppenpräsenz unweit der Grenze zur Ukraine kontinuierlich auf. Dieser Prozess hatte bisher zwei besondere Höhepunkte: Im Frühjahr 2021, als es die ukrainische Regierung war, die zuerst Alarm schlug, und dann im Herbst, als die Washington Post über die russischen Truppenbewegungen als Erste berichtete. In beiden Fällen ging es um eine Erhöhung der Truppenzahl um wenige Zehntausend Soldaten. Nicht alle zusätzlichen Truppen wurden jedoch nach dem ersten Aufmarsch im April wieder abgezogen. Dabei hat sich die Intensivität der Truppenverlegungen seit Ende Dezember nicht derart verstärkt, wie einst von der Washington Post vorausgesagt, die von einer möglichen Truppenaufstockung bis zu 175.000 Soldaten sprach. Vor etwas mehr als einem Monat nannte der ukrainische Sicherheitsrat die Zahl von 122.000 Soldaten 200 Kilometer von der Grenze entfernt, heute liegt sie dem Verteidigungsministerium zufolge bei 130.000.
Laut Militärexperten ist diese Zahl trotz der klaren Überlegenheit Russlands in der Luft und auf dem Meer bei weitem nicht ausreichend, um einen großen Angriff auf die Ukraine zu starten. Außerdem fehlt in den meisten Medienberichten die Begründung, was Moskau etwa nach einem Luftangriff auf Millionenstädte wie Kiew oder Charkiw eigentlich machen möchte, zumal die Bevölkerung selbst im russischsprachigen Charkiw nahe der russischen Grenze größtenteils überhaupt nicht auf den Einmarsch des Nachbarstaates wartet. Stattdessen werden die Berichte mit zweifelhaften, auf anonymen Quellen basierenden Informationen geschmückt, die als Indizien für eine nahende russische Invasion herhalten müssen. So soll Russland Blutreserven Richtung Ukraine verlegen und seine Diplomaten aus der Ukraine abziehen. Die Ukraine widerum verlegt angeblich Geheimdienstdokumente von Kiew in die Westukraine, damit sie den Russen im Fall einer Invasion nicht in die Hände fallen.
Russland könnte sich mit dem Donbass begnügen
Diese Informationspolitik ist deswegen gefährlich, weil die von Russland ausgehende Gefahr mehr als nur real ist. Um diese zu verstehen, muss man etwas genauerer auf das schauen, was der Kreml seit 2019 im besetzten Teil des Donbass alles an Fakten geschaffen hat. Mehr als 720 000 russische Pässe wurden an die Bewohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgegeben. Deren Besitzer durften an der russischen Parlamentswahl im letzten September teilnehmen. Nachdem ein systemtreuer russischer Unternehmer im Frühsommer 2021 die wichtigsten Industrieunternehmen im Separatistengebiet übernahm, öffnete Putin den russischen Markt für Waren von dort.
Am 29. Januar ordnete Putin nun an, russische Sozialzahlungen wie Kindergeld oder Renten an russische Staatsbürger im Donbass ohne Anmeldung in Russland zu ermöglichen, was bisher nicht ging. Schon längst geht es daher um eine faktische politische und wirtschaftliche Annexion der Separatistengebiete. In Zukunft könnte sich Russland darum bemühen, dass die Separatistenrepubliken, die es derzeit mit hohen Beträgen subventioniert, wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen – was ohne die Hafenstadt Mariupol, die sich unter ukrainischer Kontrolle befindet, aber fast unmöglich wäre. Außerdem beanspruchen die selbsternannten Volksrepubliken das gesamte Territorium der Regierungsbezirke Donezk und Luhansk, während sie de facto nur ein Drittel der Region kontrollieren. Es könnte also auch um den Versuch Russlands gehen, ihr Territorium entsprechend zu vergrößern.
Panikmache spielt Putin in die Hände
Deshalb sollte Russlands Verhalten zwar keineswegs als Säbelrasseln abgetan werden. Denn Vieles liegt nun durchaus im Bereich des theoretisch Möglichen: Nicht nur ein Angriff auf Mariupol, sondern im schlimmsten Fall sogar die Besetzung des gesamten Donbass und die offizielle Anerkennung der Volksrepubliken sind denkbar. Ein Angriff auf Kiew bleibt aber unwahrscheinlich.
Genau deswegen darf die aktuelle Berichterstattung in den westlichen Medien nicht dazu führen, dass eine auf die Ostukraine begrenzte russische Aggression als eine Art kleineres Übel im Vergleich zum "großen Krieg" wahrgenommen wird. Die aktuelle Panikmache befördert aber diese Sichtweise. Vor allem führt sie aber schon jetzt zur wirtschaftlichen Instabilität der Ukraine. So ist der Kurs der ukrainischen Nationalwährung Hrywnja inzwischen so schlecht wie seit sieben Jahren nicht mehr. Und bei einer schweren Wirtschaftskrise in der Ukraine gäbe es nur einen großen Profiteur: Russland.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 02. Februar 2022 | 17:45 Uhr