Nationalsport Ungarn: Warum das ganze Land um zwei Wasserballer trauert
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27. Juni 2020, 16:29 Uhr
In Budapest sieht man dieser Tage viele Menschen trauern. Sie beweinen den Tod der Wasserballspieler György Kárpárti und Tibor Benedek. Die Szenen erinnern ein wenig an Bilder aus Prag, als dort vor einem Jahr tausende Menschen Abschied von Sänger Karel Gott nahmen.
Die beiden galten als Giganten eines Sports, der hierzulande nur ein Nischendasein fristet: Wasserball. In Ungarn ist das anders, und ein Grund dafür ist vielleicht, dass die ungarischen Wasserballer immer wieder Anlass für Jubel geben. So haben Kárpáti und Benedek mit der ungarischen Nationalmannschaft jeweils dreimal Olympisches Gold geholt und doch nie gemeinsam in einem Team gespielt – zu groß der Altersunterschied. Karpáti, der kurz vor seinem 85. Geburtstag starb, stand 1952, 1956 und 1964 ganz oben auf dem Siegertreppchen. Benedek gewann sogar drei Mal in Folge: 2000, 2004 und 2008.
Tausende Trauernde pilgern auf die Margareteninsel
Besonders der frühe Tod von Tibor Benedek, der am 18. Juni 47-jährig einem Krebsleiden erlag, löste große Anteilnahme aus. Tausende Sportbegeisterte pilgerte auf die Margareteninsel in Budapest, stellten Kerzen auf, legten Blumen nieder und verwandelten die Rückseite des Hajós-Alfréd-Schwimmbades in einen Schrein für ihren Champion.
Seither debattiert das Land, ob die 2017 eröffnete Duna Aréna in Budapest, ein Schwimm-Stadion, in dem regulär 5.000 Zuschauer Platz finden, seinen Namen tragen soll. Denn schließlich war Benedek nicht nur bei den Olympischen Spielen erfolgreich, sondern war auch Weltmeister (2003) oder holte zumindest Silber (1998, 2007). Nach seiner aktiven Zeit blieb er dem Sport als Trainer erhalten und führe die Mannschaft 2013 zu einem weiteren Weltmeistertitel.
Warum Wasserball in Ungarn zum Nationalsport wurde
Dass Ungarn heute so Wasserball-verrückt ist, hat viele Gründe. Einer davon liegt in der geologischen Beschaffenheit des Landes: Es gibt hier über 1.000 warme Thermalquellen – weswegen die Ungarn gerne behaupten, ihre Heimat läge ein bisschen näher an der Hölle als alle anderen. Deshalb hat sich hier bereits ab dem Mittelalter eine besondere Bäder- und später auch Wassersportkultur entwickelt. Die Budapester Thermalbäder sind architektonische Juwelen und weltberühmt.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass sich unter den Ungarn leicht zwei Mal sieben Männer finden, die sich mit einem Ball 32 Minuten lang im Wasser aufhalten. (Ein Wasserballteam hat 13 Mitglieder, von denen aber immer nur sechs Spieler und der Torhüter im Wasser sind). So fand der von den Briten Mitte des 19. Jahrhunderts erdachte Sport schnell Anhänger.
110 Spielen ungeschlagen
Das erste offizielle Match in Ungarn fand am 30. Juli 1899 in Siófok am Balaton statt. Doch Ungarn entwickelte sich schnell zur dominierenden Kraft im Wasserballsport. So blieb die Nationalmannschaft zwischen 1928 und 1932 in 110 Spielen ungeschlagen und erkämpfte sich die erste Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Los Angeles 1932. Der Trainer dieses nahezu unschlagbaren Teams war Béla Komjádi. Der war im Hauptberuf Sportjournalist und versorgte die interessierte Öffentlichkeit mit immer neuen Geschichten aus der Schwimmhalle. Die sportlichen Erfolge waren aber auch das Resultat der Sportförderung – auch unter dem kommunistischen Regime.
Ein nationaler Mythos: Das Blutspiel von Melbourne
Ein Wasserball-Match hat sich besonders in die ungarische Seele eingeschrieben: Das sogenannte Blutspiel von Melbourne bei den olympischen Spielen 1956, bei dem auch der kürzlich verstorbene György Kárpáti mitspielte. Hier trafen im Halbfinale die Volksrepublik Ungarn und die Sowjetunion im Wasser aufeinander. Kurz zuvor hatten sowjetische Panzer den Ungarnaufstand brutal niedergeschossen, Tausende Ungarn wurden dabei getötet.
Die Stimmung war bereits vor dem Anpfiff aufgeheizt. „Wir waren immer besonders motiviert, wenn wir gegen die Sowjets spielten, aber die Atmosphäre in Melbourne war eine ganz andere Dimension", sagte der Spieler Erwin Zádor später einem amerikanischen Magazin. „Das Spiel bedeutete uns so viel. Wir mussten die Goldmedaille gewinnen. Wir spielten für uns, für unsere Familien daheim und für unser Land“.
Im Wasser dominierten dann die Ungarn, angefeuert von den australischen Zuschauern, die der ungarischen Revolution durchaus mit Sympathien gegenüberstanden. Das führte zu erheblicher Frustration bei den sowjetischen Spielern, die sich immer wieder zu massivem Foulspiel hinreißen ließen.
Als der Ungar Zádor bei einem Spielstand von 4:0 kurz die Augen von seinem Gegenspieler nahm um zum Schiedsrichter zu schauen, schlug ihn dieser derart hart ins Gesicht, dass er eine Platzwunde erlitt. Sein Blut vermischte sich mit dem Chlorwasser, das Spiel wurde abgebrochen, Ungarn zum Sieger erklärt. Das Foto vom blutenden Zádor in Badehosen ging um die Welt. Ungarn besiegte im Finale noch Jugoslawien und wurde Olympiasieger. Viele der Spieler kehrten danach nicht mehr in ihre Heimat zurück – wie rund 200.000 ihrer Landsleute, die Ungarn nach der gescheiterten Revolution verließen. Das Blutspiel von Melbourne wurde zum Symbol des Widerstandes des kleinen Ungarn gegen die übermächtige Sowjetunion.
Warum sich die Ungarn gerne als Underdogs sehen
Die Rolle des Underdogs ist eine, in der sich die Ungarn gerne sehen – vielleicht auch das ein Grund, warum die Trauer um György Kárparti und Tibor Benedek so groß ist. Denn Kárparti war mit 1,67 Metern eigentlich zu klein für den Wasserballsport – und wurde doch mit 17 zum ersten Mal Olympiasieger. Und Benedek begann als Kind wegen Rückenproblemen mit dem Schwimmen. Er sagte über sich selbst, er habe weder gutes Ballgefühl, sei weder besonders schlau oder stark und auch kein herausragender Schwimmer. „Wenn ich den Grund meines Erfolges zusammenfassen müsste, würde ich nur so viel sagen: Ich wollte ihn immer mehr. Das ist mein Talent.“
Bis heute ist die ungarische Herren-Wasserballmannschaft mit neun olympischen Goldmedaillen und drei Weltmeistertiteln eine der erfolgreichsten der Welt. Während des Finalspiels der Europameisterschaft, die im Januar im Budapest ausgetragen wurde, verfolgten über 5.000 Zuschauer live in der Halle, wie Ungarn seinen 13. Titel holte.
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