Russland Sibirien im Selbstversuch: So kalt, dass es weh tut
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30. Januar 2022, 13:05 Uhr
Die russische Republik Jakutien im Nordosten des Landes besteht vollständig aus Permafrostboden. Hier befinden sich die kältesten bewohnten Orte der Welt: Werchojansk und Oimjakon. Gemessene Tiefsttemperatur: 67,8 Grad Celsius. Für eine Reportage über Weihnachtsbräuche in Russland, die im Dezember 2022 ausgestrahlt wird, haben wir auch im jakutischen Dorf Kentik gedreht. Und vor Kälte geweint.
Da wir nicht Tausende Euro für Profi-Kälte-Kleidung ausgeben wollen, setzen wir auf das altbewährte Zwiebelprinzip: Wir ziehen so viele Kleidungsstücke an, wie möglich. Unsere unbändige Vorfreude auf minus 50 Grad wird allerdings schon beim Packen auf die Probe gestellt: Mehr als 23 Kilogramm darf der Koffer für den Flug nicht wiegen. Über die Hälfte geht allein für Drehtechnik, Weihnachtsgeschenke und – ja! – saugkräftiges Katzenstreu drauf. Damit, so die Gerüchteküche, könne man angeblich die Kamera vor dem Kondenswasser schützen, das bei großen Temperaturunterschieden zwischen draußen und drinnen in den uns bevorstehenden Gefilden entstehen würde. Um also die Überlebenschancen unserer Kamera zu erhöhen, reduzieren wir todesmutig unsere Kleidung – zugunsten von zwölf Paar alten, mit Katzenstreu gefüllten Socken. Was tut man nicht alles als engagierter TV-Journalist!
Starker Nebel zwingt zur Zwischenlandung
Unsere Reise startet in Berlin. Die Anreise über Moskau nach Jakutsk, der Haupt- und einzigen Großstadt Jakutiens, soll knapp 30 Stunden dauern. Zwar landen wir auf Permafrostboden, aber wegen starken Nebels zunächst nicht in Jakutsk, sondern 750 Kilometer südlicher in Nerjungri. Noch nie gehört? Wir auch nicht! Mit 60.000 Einwohnern ist es die zweitgrößte Stadt Jakutiens. Das Flughafengebäude – kaum größer als eine Sporthalle – lässt nicht darauf schließen. Noch irritierender ist jedoch die Temperaturanzeige: läppische minus 30 Grad! Wir rauchen auf dem Vorplatz gleich drei Zigaretten hintereinander. Die Haut unter der Jeans und die Finger beginnen schnell, unangenehm zu kribbeln. Aber kein Grund zur Sorge: Während der Anreise tragen wir ja nur eine Kleidungsschicht. Mit acht Stunden Verspätung landen wir schließlich abends in Jakutsk, nach weiterer zehnstündiger Autofahrt sind wir schließlich in der nächtlichen Taiga.
"Wärmeverwöhnte Exoten aus Europa"
Am nächsten Morgen misst unser Thermometer minus 38 Grad. Sollte der Winter in Jakutien ausgerechnet in diesem Jahr milder sein und unseren Wunsch vereiteln? Die Wirtin unseres Hostels bietet uns als "wärmeverwöhnte Exoten aus Europa" jakutische Stiefel, Socken und Handschuhe an. Wir lehnen dankend ab und machen uns – in drei bis vier Kleidungsschichten gezwiebelt – an die Arbeit.
Wir lernen Edik, seine sechs Geschwister und die Eltern kennen. Das Weihnachtsfest der jakutischen Familie ist Bestandteil unserer Reportage. Wir werden im neuen Holzhaus der Familie empfangen, übergeben unsere Geschenke, bekommen Tee und Speisen gereicht und werden skeptisch beäugt. Kein Wunder. Im Haus ist es so warm, dass wir uns nahezu bis auf die Funktionsunterwäsche ausgezogen haben. Dank unserer Übersetzerin Swetlana gewöhnen sich alle schnell aneinander. Unsere Dreharbeiten beginnen traumhaft: Mit einem Pferdeschlitten fahren der 9-jährige Edik und sein Vater Pawel in den Winterwald, um einen Weihnachtsbaum zu fällen. Nach nicht mal einer Stunde zeitigt die jakutische Kälte ihre erste zersetzende Wirkung beim Drehteam: Wir werden immer langsamer und unkonzentrierter. Nach zwei Stunden ist unser Gehirn nahezu ausgeschaltet. Wir stehen unter Schock und können gar nicht so schnell zittern wie wir frieren. Am Abend kaufen wir unserer Wirtin alle Filzstiefel, Handschuhe und Socken ab.
Stetig fallende Temperaturen
Während der nächsten Drehtage geht es vor allem um eines: Bloß keine Schwäche zeigen! Schon gar nicht vor dem kleinen Edik, der uns ein straffes Drehprogramm vorgibt: Mit dem Schneemobil fahren, Eisangeln, eine Eisskulptur bauen, die Pferde auf der Koppel füttern. All das bei stetig fallenden Temperaturen! Schon am zweiten Drehtag haben wir es mit 40 Grad unter Null zu tun. Damit können wir zwar endlich zu Hause in Deutschland angeben, aber die Freude über die klimatischen Extreme währt nicht lange. Ab dem nächsten Tag fällt die Marke unter 40 und das Filmen im Freien wird zu einer echten Herausforderung: Ab minus 43 Grad beginnt der Kameramann wegen seiner schmerzenden Finger zu weinen; ab minus 44 traut sich keiner mehr, in den Schnee zu pinkeln; ab minus 45 wird der Körper zu einem einzigen Schmerz. Selbst eingepackt wie Eskimos schaffen wir nur, 30 Minuten am Stück draußen zu filmen.
"Kalte Füße sind lästig, besonders die eigenen", soll der deutsche Dichter Wilhelm Busch gesagt haben. Sicher war er nie in Jakutien. Denn sie sind der blanke Horror! Vor allem, wenn sie wieder "auftauen". Das Gleiche trifft freilich auch auf die Finger zu. Unser Wunsch, einmal minus 50 Grad zu erleben, ist nach vier Drehtagen ziemlich eingefroren.
Den Geist des Feuers beschwören
Ediks Vater Pawel ist Schmied. So wie viele Jakuten. Kurz vor dem Neujahrsabend lädt uns der 45-Jährige in seine Werkstatt ein. Die Rettung! Dort gibt es Feuer! Ganz nach schamanistischer Tradition beschwört er den Geist des Feuers, murmelt Zaubersprüche, bimmelt mit einer Geisterglocke und verbrennt Pferdehaar. Erstmals nach vier Drehtagen ahnen wir, wie man in Jakutien überleben kann. Wir verstehen zwar nichts von alledem, aber wir lieben es!
Nachdem uns Pawel in seine Rituale eingeweiht hat, verköstigen er und seine 37-Jahre alte Frau, die in der Verwaltung des örtlichen Kultuhauses arbeitet, uns mit den Feinheiten der jakutischen Küche: gefrorene Milch, gefrorene Pferdehackfleischbonbons, gefrorener roher Fisch. Gewöhnungsbedürftig, aber dazu gibt es herrlich heißen Tee, der mit einer Marmelade gereicht wird, wie sie wohl nur aus Taiga-Beeren gemacht werden kann. Wir schweben im siebten jakutischen Himmel und erholen uns von all den Widrigkeiten der vergangenen Tage.
Geschenke in der Silvesternacht
Das Drehteam gehört schon längst zum Inventar des jakutischen Haushalts, als es kurz vor Mitternacht an der Tür klopft und Tschys-Khan, der jakutische Weihnachtsmann, das Haus der Schmiedefamilie betritt – mit blauem Mantel, Hörnern auf der Mütze und einer wunderschönen jakutischen Snegurotschka. Wie überall in der Russischen Föderation bekommen auch die Kinder in Jakutien ihre Geschenke in der Silvesternacht. Edik und seine Geschwister sind genauso wie wir von dem märchenhaften Zauber gefangen.
Feuerwerk in Kreisstadt
Nach der Bescherung besucht die gesamte Familie – wie jedes Jahr – das Silvesterfeuerwerk in der nahe gelegenen Kreisstadt. Es sind unter minus 40 Grad. In Überschätzung unserer Kräfte begleiteten wir die Familie auch dorthin. Wir warten fast eine Stunde auf das Feuerwerk. Als es endlich tatsächlich sehr bombastisch anfängt, ist uns schon nicht mehr so fröhlich zumute. Trotz aller Vorkehrungen, die wir mit zusätzlichen Zwiebelkleidungsschichten und Wärmepads getroffen hatten, ist uns unerträglich kalt. Die Temperaturanzeige auf dem zentralen Platz misst minus 46 Grad Celsius!
Edik und seine Familie haben sich das halbstündige Feuerwerk trotzdem bis zur letzten Sekunde angeschaut. Als sie endlich beschließen, wieder nach Hause zu fahren, sind wir am Ende. Mit letzter Kraft stoßen wir in unserem Hostel mit georgischem Kognak auf 2022 an, aber warm wird uns auch davon nicht. Wir verschwinden alle sofort in unseren Betten.
Abschied mit Glockenläuten
Nach dem Silvesterabend, am 1. Januar, sind alle so entspannt wie nie: Wir wissen, dass wir am nächsten Tag die jakutische Kälte verlassen werden, Edik, dass wir ihn also nur noch heute nerven können. Wir machen mit ihm das beste Interview des gesamten Drehs. Danach verabschieden wir uns und versprechen Ediks Vater, dem Schmied, ihn anzurufen und mit der von ihm geschenkten Glocke zu läuten, die böse Geister vertreiben soll. Danach treffen wir noch den Bürgermeister von Kentik. Er zeigt uns das beeindruckende Kulturhaus des Dorfes und den jakutischen Willkommensgruß bei minus 48 Grad. Heißes Wasser wird dabei aus einer Tasse nach oben geworfen und rieselt gefroren, auf den Boden zurück. Es ist wirklich zauberhaft, aber trotzdem sind wir froh, dass es für uns ein Abschiedsgruß ist – auch wenn wir unser Ziel von minus 50 Grad knapp verfehlt haben.
Am übernächsten Tag landen wir in Tatarstan, unserem nächsten Drehort. Hier herrschen minus 20 Grad. Fast Frühsommer und eine Erleichterung! Doch nach drei Tagen erfahren wir aus Kentik, dass sie dort jetzt unter minus 50 Grad haben. Unsere Qualen in der jakutischen Kälte haben wir just in diesem Moment vergessen. Wir schimpfen wie die Rohrspatzen über die verpasste Chance und weil wir zu Hause nichts von minus 50 Grad erzählen können und beschließen, im nächsten Jahr unser Glück in Jakutien noch einmal herauszufordern.
Ach so, das Gerücht von der Katzenstreu: Wir können es weder bestätigen noch revidieren. Auf der Rückreise haben wir es jedenfalls entsorgt und gegen Wodka und Kognak eingetauscht. Genützt hat es uns also auf jeden Fall.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 17. Januar 2022 | 00:35 Uhr