Quarantäne Coronakoller: "Kunstfälscher" mischen Russland auf
Hauptinhalt
10. Mai 2020, 05:00 Uhr
In Russland sorgen "Kunstfälscher" für Aufsehen. Sie machen selbst vor Michelangelo und van Gogh nicht halt! Die "Fälscher" rechtfertigen die Herstellung ihrer sensationellen Plagiate mit einem Corona-Koller.
In Russland herrscht seit Ende März ein strenges Quarantäneregime. Doch die Menschen lassen sich nicht unterkriegen und stellen unter den Bedingungen der Selbstisolation berühmte Kunstwerke nach. Diese posten sie dann in der Facebookgruppe Izoizolyacia. Was als Flashmob für Freunde begonnen hat, ist längst zu einer Massenbewegung geworden. "Izoizolyacia ist ein Flashmob gegen den Koller in unserer Coronavirus-Zeit," heißt es in der Info zu der öffentlichen Facebookgruppe. Der Name ist ein verstärkendes Kunstwort - zu deutsch etwa Isoisolation. Die Gruppenregeln geben Auskunft, welche Werke akzeptiert werden: Als Vorlage darf nur bildende Kunst dienen, Photoshop ist strengstens verboten und es werden nur Arbeiten akzeptiert, die auch wirklich unter Quarantänebedingungen entstanden sind.
Flashmob gegen den Coronafrust
Ausgedacht hat sich das Ganze Katerina Brudnaya-Chelyadinova, Mitarbeiterin des russischen Internetportals Mail.ru. Im Gespräch mit der Veranstaltungs- und Kulturseite AfishaDaily erzählte sie, dass die Idee eher zufällig und aus der Not der Selbstisolation heraus geboren wurde. Ihr Arbeitgeber habe sie bereits am 17. März ins Homeoffice geschickt, die Stimmung in ihrem Umfeld sei niedergeschlagen und frustriert gewesen. Um Freunde und sich selbst etwas abzulenken, hat sie am 28. März die erste Bild-Nachstellung gepostet. Als Vorlage diente ein Selbstportrait Vincent van Goghs mit Hut. Als Model Katerinas Mann Dmitry. Die Idee stieß sofort auf große Resonanz und zwei Tage später entstand die Gruppe Isoisolation, die mittlerweile über 570.000 Mitglieder hat.
Freiheit durch Kreativität
Die Idee entstand zeitgleich mit anderen, ähnlichen Projekten. Da gibt es etwa eine Gruppe auf VKontakte mit dem sprechenden Namen "Schieß ein Foto wie Rembrandt". Instagram hat seine #CovidClassics. Und das Getty Museum in Los Angeles hat Kunstliebhaber per Twitter aufgefordert, berühmte Werke zu Hause nachzustellen. In Zeiten der Pandemie scheint die Aufforderung, auf kreative und künstlerische Art mit der Krise umzugehen, bei den Menschen einen besonderen Nerv zu treffen. Die Moskauer Kunsttherapeutin Marina Zager verweist auf dem Businessportal finparty.ru im Zusammenhang mit dem Phänomen darauf, dass der Mensch, der aus dem Kontext seines gewohnten Alltags gerissen wurde, geradezu gezwungen sei, die gewohnte Logik abzustellen und seinen Blick ins eigene Innere zu wenden. "In einer Situation, in der alles verboten ist, erlaubt die künstlerische Kreativität alles zu tun, was man möchte. Diese Möglichkeit nimmt den permanenten Druck raus, unter dem wir gerade stehen," schreibt Zager.
Für jeden etwas dabei
Die Bandbreite der Arbeiten auf Izoizolyacia reicht dabei von möglichst originalgetreuen Nachbildungen berühmter Werke, bei denen die Autoren teilweise ihre historischen Doppelgänger zu finden scheinen, über humorvolle Ironisierungen mit Bezügen zur Coronarealität bis hin zu komplexen Neuinterpretationen, die fundierte Kenntnisse der Kunstgeschichte voraussetzen. Der Kunsthistoriker und Kurator der Moskauer Tretjakow-Galerie Kirill Swetljakow hat für den Russischen Dienst der BBC einige ausgewählte Werke aus der Gruppe unter einem professionellen Blickwinkel analysiert. Dabei hebt er unter anderem eine Neuinszenierung des Bildes von François Boucher mit dem Titel "Amor und die drei Grazien" hervor. Boucher war ein Rokoko-Maler, lebte im Paris des 18. Jahrhunderts und war am Hof Ludwig XV. tätig. Er malte vor allem mythologische Figuren der griechischen und römischen Antike, mit Vorliebe in lasziv-erotischen Posen.
Für die Gruppe Izoizolyacia hat die Facebooknutzerin Kira Kuznetsova das Original von 1738 mit rohen Hühnerflügeln nachgestellt. "Ein wahres Kunstwerk," konstatiert Swetljakow. "Es ist sehr schwer Boucher mit Hilfe von Hühnern so nachzustellen, dass es auch gut aussieht. Aber gerade in diesem Fall spürt man den Rokoko-Stil. Dabei spielt sich alles in der Küche ab."
Eine Erfolgsgeschichte
Der ursprüngliche Flashmob für Freunde hat indes längst die virtuellen Grenzen des russischen Internets überwunden. Neue Beiträge kommen etwa aus Italien, USA oder Mexiko. Und es scheint, als würde es so weitergehen. Zumindest so lange, bis die ersehnte Bewegungsfreiheit und der "übliche Trott" wieder zurückkehren und alle Isoisolierten mit Haut und Haaren verschlingen werden. Bis dahin aber gilt das Wort des russischen Malers des 20. Jahrhunderts Sergej Kalmykow: "Die Welt ist krank. Und es überrascht kein bisschen, dass nur die Künstler in der Lage sind, sie zu retten."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 09. April 2020 | 17:45 Uhr