Russland Wodka - Das "Wässerchen" hat Russland im Griff
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03. November 2016, 16:15 Uhr
Im russischen Film "The Land of Oz" von Regisseur Vasili Sigarew erlebt eine junge Frau eine magische Neujahrsnacht in Jekaterinburg. Es wird gefeiert, philosophiert, gelogen, betrogen, geliebt. Und getrunken. Und zwar jede Menge. Ja, auch mal Sekt. Meist aber Wodka. Der Film offenbart einen Blick in die russische Seele, einen Blick in die russische Wirklichkeit. Russland und der Wodka – eine Liaison mit Folgen.
Mit 55 ist für viele Schluss
In Russland werden viele Männer nicht alt. Sie saufen sich regelrecht zu Tode. Eine russische Erhebung von 2014 kommt zu dem Schluss, dass jeder vierte Russe wegen seines Alkohol-Konsums noch vor seinem 55. Geburtstag stirbt. Das klingt gewaltig, eine große internationale Studie, die 2014 im britischen Fachjournal "The Lancet" veröffentlicht wurde, toppt das Ergebnis jedoch noch. Knapp 52 Prozent der männlichen Teilnehmer, also jeder zweite (!), starben im Verlauf des zehn Jahre dauernden Beobachtungszeitraums auf Grund ihres Alkoholkonsums.
24 Liter reiner Alkohol pro Jahr
Schaut man auf die Mengen, die sich viele Russen durch die Kehlen jagen, wirkt das wenig verwunderlich. Nach einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO trinkt jede Russe pro Jahr rund 15 Liter reinen Alkohol. Männer liegen jedoch weit über dem Durchschnitt. Ihr Alkoholverbrauch wird auf 23,9 Liter jährlich geschätzt. Eine beachtliche Menge. Und trotzdem liegt Russland im Länderranking beim Alkoholverbrauch nur auf Platz vier. Noch mehr getrunken wird in Moldawien, Tschechien und Ungarn. Dort statt Schnaps allerdings lieber Bier und Wein.
Kaum noch brauchbare Arbeitskräfte
Der verbreitete Alkoholismus in Russland hat auch wirtschaftliche Folgen. Besonders schwierig sei es auf dem Lande, wird auf "welt.de" ein russischer Unternehmer zitiert. Nach seiner Schätzung sind 80 Prozent der Landbevölkerung teilweise oder gar nicht in der Lage, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Wenn es denn auf dem Lande überhaupt noch Menschen gibt. In den vergangenen Jahren sind tausende Dörfer ausgestorben. Auch wegen des Trinkens.
"Vater, trinke nicht!"
Der Kampf gegen den Alkohol hat in Russland Tradition. Zu Sowjetzeiten gab es immer wieder Plakatkampagnen. Slogans wie "Vater, trinke nicht!" oder "Schäme dich!" zogen jedoch nicht besonders, und so verliefen die Aktionen nach kurzer Zeit im Sande. Kein Staatschef rückte dem Übel so rigoros zu Leibe wie Michael Gorbatschow. Der Generalsekretär des ZK der KPdSU unterschrieb 1985, kurz nach seinem Amtsantritt, eine Verordnung "Über Maßnahmen zur Überwindung der Trunksucht und des Alkoholismus". Gorbatschow ließ Alkoholgeschäfte und Wodka-Fabriken schließen und strich Alkohol bei Empfängen in sowjetischen Botschaften von der Karte. Doch die Maßnahmen, um seine Landsleute trockenzulegen, stießen auf wenig Gegenliebe. Aus dem Generalsekretär wurde im Volksmund der "Mineralsekretär" und böse Witze machten die Runde. Auch Gorbatschows Feldzug gegen den Alkoholismus scheiterte schließlich.
Eine lange Schlange steht um Wodka an. Ein Mann hält es nicht mehr aus und sagt: 'Ich gehe in den Kreml und bringe Gorbatschow um.' Nach einer Stunde ist der Mann wieder zurück. Die Schlange steht immer noch da. 'Hast Du ihn umgebracht?, fragt man ihn. 'Wie soll ich ihn umgebracht haben', antwortet der Mann. 'dort stehen noch mehr Leute Schlange.'
Antialkoholkonzept 2020
Präsident Putin versucht seit 2010 das Problem in den Griff zu kriegen. Bis 2020 will er den Alkoholkonsum in Russland schrittweise senken. Die Steuern auf alkoholische Getränke wurden deutlich angehoben, ebenso der Mindestpreis für eine Halbliterflasche Wodka. Alkohol darf zwischen 23 Uhr und 8 Uhr nicht mehr verkauft werden. In Ausbildungs-, Sport- und Kulturstätten ist er völlig passé. Kaufen darf man Alkohol erst ab 18 Jahren. Auf öffentlichen Plätzen ist das Trinken verboten, für Autofahrer gilt die Nullpromille-Regelung.
Dann eben Rasierwasser …
Doch die ganz großen Erfolge feierte auch Putin im Kampf gegen den Alkoholismus bislang nicht. Werden Bier und Wodka zu teuer, weichen viele Russen auf bewährte Alternativen aus. Dazu gehört vor allem Selbstgebrannter. Wer ihn für den Eigenbedarf herstellt, darf das in Russland tun. "Samogon" nennen die Russen den Stoff, und in einigen Bars des Landes ist er bereits zum Kultgetränk avanciert. Doch der Selbstgebrannte kann auch gefährlich sein. Nicht sachgemäß hergestellt, enthält er unter Umständen hohe Mengen Methanol und kann zum Tode oder zu lebensgefährlichen Schäden führen. Nicht viel gesünder sind Parfüms, Rasierwasser und Reinigungsmittel, die aber auch eifrig getrunken werden, vor allem von den Ärmsten. Ende 2016 starben in Irkutsk mehr als 50 Menschen. Sie hatten eine Lotion getrunken. Doch damit dürfte bald Schluss sein, denn inzwischen werden zumindest Parfums in Russland denaturiert. Bedeutet: Der Alkohol darin wird unwirksam gemacht.
Therapien: Hypnose und Fasten
In Russland ist die Toleranz gegenüber Alkoholikern deutlich größer als in Deutschland. Alkoholismus wird oft nicht als Krankheit begriffen, sondern als normales Trinken. Mehr noch: Alkohol gehört dazu. Trinker werden in gewisser Weise sogar bewundert, ihre Sucht als Kehrseite eines großen Talents betrachtet. In der russischen Literatur und in russischen Filmen begegnet man solchen Figuren auf Schritt und Tritt. Wer trotzdem trocken werden will, versucht es in Russland meist auf zwei Wegen: Er vertraut sich der orthodoxen Kirche an und kuriert sich mit Beten und Fasten oder macht eine Hypnose-Therapie. Dort werden die Alkoholiker "kodiert", also per Hypnose darauf geeicht, auf Alkoholgenuss mit Brechreiz, Bewusstlosigkeit oder gar Herzstillstand zu reagieren. Bei einer weiteren Methode wird den Patienten eine Kapsel unter die Haut implantiert, deren frei werdender Inhalt dafür sorgt, dass Alkohol als unangenehm empfunden wird.
Zwar gibt es auch in Russland die in den USA entstandene Selbsthilfe-Organisation "Anonyme Alkoholiker". Doch mit 400 Gruppen und 10.000 Mitgliedern (Stand 2013) in einem Land, in dem rund 2,5 Millionen Menschen als alkoholabhängig gemeldet sind, ist das nicht viel. Warum das so ist, weiß Alexander Nemzow vom Psychiatrischen Institut Moskau: Dieses amerikanische Programm, das extrem extrovertiertes Verhalten innerhalb einer Gruppe erfordere, laufe der russisches Mentalität zuwider. Das "Anonyme Alkoholiker"-Programm verlange, an sich selbst zu arbeiten. Die Russen blieben jedoch lieber passiv.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell TV | 25. Dezember 2014 | 19:30 Uhr