Arbeitsmigranten aus Bulgarien: Flucht aus der Armut

16. Juli 2017, 13:15 Uhr

Um dem Elend in ihrem Heimatland zu entfliehen, verdingen sich Jahr für Jahr Tausende Bulgaren – zumeist als illegale und miserabel bezahlte Tagelöhner in den Ländern der EU.

"Ich konnte meiner Tochter kein Brot mehr kaufen", sagte ein 40-jähriger Bulgare, der sich am 22. März 2013 mit Benzin übergossen und angezündet hatte, im Klinikum Warna der Notärztin, ehe er das Bewusstsein verlor. Der arbeitslose Mann war bereits der sechste Bulgare, der sich binnen weniger Wochen aus Verzweiflung das Leben genommen hatte. Erst wenige Tage zuvor hatte sich ein Mann in der Hauptstadt Sofia angezündet, weil er nicht wusste, wie es mit ihm weitergehen könnte. Die orthodoxe Kirche rief nach den Verzweiflungstaten der sechs Männer die Bürger Bulgariens dazu auf, sich nicht das Leben zu nehmen, denn, so die Kirchenmänner, noch aus dem ärgsten Dilemma gäbe es einen Ausweg.

Bruttosozialprodukt unter dem  Äquatorial-Guineas

Bulgarien ist das ärmste Land der Europäischen Union. Das Bruttosozialprodukt rangiert noch unter dem von Gabun oder Äquatorial- Guinea. Der Durchschnittslohn eines Bulgaren liegt bei 380 Euro, die Gehälter, die auf dem Bau oder in der Textilindustrie des Landes gezahlt werden, liegen mit 100 Euro noch unterhalb der Armutsgrenze. 30% der Bulgaren sind nicht imstande, von ihrem Einkommen zu leben. Knapp die Hälfte der Bulgaren, so die Weltbank in einem alarmierenden Bericht, sei akut von Armut bedroht. Das sind die nüchternen Zahlen. Und Aussicht auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Bulgariens ist nirgendwo in Sicht.

Arzt 2 min
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Galgenhumor im bulgarischen Pernik. Verbessert sich die Bezahlung der Ärzte nicht bald, dann kann das Krankenhaus in ungefähr zehn Jahren schließen, weil alle Ärzte in Rente sind.

MDR FERNSEHEN Fr 12.06.2015 14:18Uhr 01:30 min

https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/land-leute/bulgarien-aerzte-abwanderung-100.html

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Einziger Ausweg – Auswanderung

Unter diesen trostlosen Umständen nimmt es nicht weiter wunder, dass viele, vor allem junge und gut ausgebildete Bulgaren versuchen, im Ausland Arbeit zu finden, und sei sie noch so miserabel bezahlt. Schlimmer als in der Heimat kann es in ihren Augen schließlich kaum noch sein. Sie ziehen nach England, nach Spanien, Italien oder Deutschland. Mehr als 121.000 Bulgaren sollen es bereits sein, die in Deutschland untergekommen sind. Und jeden Monat kommen, Schätzungen zufolge, Tausende hinzu. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn die überwiegende Mehrheit der Jobnomaden aus dem siechen Balkanstaat ist schwarz beschäftigt – unbeschränkt arbeiten dürfen sie erst seit 2014. Bis dahin mussten sich die Bulgaren als sogenannte Scheinselbständige oder Saisonarbeiter verdingen, hilflos ausgeliefert kriminellen Schlepperbanden und dubiosen deutschen Arbeitsvermittlern, die sie für vor allem an Bau- und Reinigungsfirmen verweisen.            

"Bulgarenindustrie"    

Der Traum, sich in Deutschland eine einigermaßen sichere Existenz schaffen zu können, hat sich für die Jobnomaden aus Südosteuropa in aller Regel schnell erledigt. Sie schuften 14 Stunden täglich für einen Hungerlohn, sind nicht krankenversichert und können überdies keinerlei Rechte geltend machen, wenn ihnen etwa der eh schon karge Lohn vom Arbeitgeber verweigert wird. In einigen deutschen Städten hat sich mittlerweile sogar eine Art "Arbeitsstrich" etabliert, auf dem die Bulgaren ihre Arbeitskraft verhökern. Für ein oder zwei Euro Stundenlohn entladen sie Schiffscontainer, packen auf Baustellen an oder reinigen Fabrikgebäude. Steuerfahnder sprechen bereits von einer regelrechten "Bulgarenindustrie". Als deren Zentrum gilt Frankfurt am Main – etwa 15.000 bulgarische Jobnomaden sollen sich laut Schätzungen der Steuerfahndung allein in der hessischen Großstadt illegal aufhalten. Auf den dortigen Baustellen wird bereits eine "Bulgarenschwemme" ausgemacht. Die Löhne können Arbeitsvermittler und Unternehmer unter diesen Umständen noch einmal kräftig nach unten drücken. An der Not der Bulgaren verdienen mittlerweile auch Hausbesitzer kräftig mit – ein Schlafplatz auf einer Matratze im Keller eines Abrisshauses kostet um die 200 Euro, für einen Schlafplatz in einem Zimmer, in dem ein halbes Dutzend Arbeiter hausen, muss schon mehr als das Doppelte berappt werden ...

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Heute im Osten | 16. Juli 2017 | 13:15 Uhr

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