Rezension Theater-Premiere in Meiningen: "Die Nashörner" erobern eine ganze Stadt
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21. September 2024, 15:14 Uhr
In Meiningen startet die neue Saison mit einem Stück, das zeigt, wie Menschen zu Nashörnern werden. Und die terrorisieren bald eine ganze Stadt. Eugène Ionescus Klassiker des absurden Theaters ist eine Parabel auf Mitläufertum und Entmenschlichung. Regisseurin Sandra Bezler inszeniert sie mit einem famosen Ensemble in düsterer Atmosphäre und clownesker Komik. Ein feingearbeiteter Abend, findet unsere Rezensentin, die Brechstange am Ende hätte sie nicht gebraucht.
- In Meiningen beginnt die neue Saison mit einem Klassiker des absurden Theaters, "Die Nashörner" erobern die Stadt.
- In düsterer Atmosphäre inszeniert Regisseurin Sandra Bezler das Stück als Parabel auf Mitläufertum und Entmenschlichung, die in den Faschismus führt.
- Die Aufführung in den Kammerspielen überzeugt, nur auf dem dramatischen Höhepunkt wird es etwas platt, findet unsere Rezensentin.
Der Irrsinn beginnt scheinbar ganz plötzlich. Gerade noch ist alles normal in der kleinen, öden Provinzstadt, dem Schauplatz von "Die Nashörner". Dann läuft ein erstes Nashorn durch die Stadt. Es folgt ein zweites, ein drittes. Und es wird klar: Das sind keine entlaufenden Zootiere, sondern verwandelte Mitbürger.
Absurdes Theater: Monströse Verwandlung vom Mensch zum Tier
Die unaufhaltbare Transformation der Stadtgesellschaft fordert bald erste Kollateralschäden – die Dickhäuter wühlen nicht nur Staub auf, sondern zertrampeln auch Katzen. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des Protagonisten Bérenger. Zu Beginn ein ziemlicher Durchschnittstyp: jung, ledig, Bürojob und ein leichter Hang zum Alkoholismus. Außerdem gibt es in Bérengers Leben noch Daisy, eine Kollegin, in die er verliebt ist.
Wie sich herausstellen soll, ist dieser Normalo der einzige in der Stadt, der die erschreckenden Ereignisse auch erschreckend findet. Während seine Freunde und Bekannten die Verwandlungen herunterspielen oder sich bald selbst verwandeln, verfällt Bérenger in Panik. Er möchte auf keinen Fall zum Dickhäuter werden. Eine Erkenntnis, die ihm besonders offenbar wird, nachdem er den monströsen Verwandlungsprozess seines besten Freundes hautnah und in Echtzeit miterleben musste.
Famoses Ensemble: Clowneske Komik in düsterer Atmosphäre
Die absurde Handlung schafft zwangsläufig Komik, auch durch den beeindruckenden Körpereinsatz des Ensembles. Zwischendrin wird kein Schritt mehr gewöhnlich gegangen, die Realität ist entrückt. Eine Treppe hochzusteigen, erfordert plötzlich besonderes ausladende Wippbewegungen. Die Hemdsärmel gehen bis zu den Knien, das Sakko endet noch über der Brust. Begleitet werden die clownesken Momente von Musik und Geräuschen, die von Paul-Jakob Dinkelacker live auf der Bühne mal auf einer Trommel, mal mit Hilfe einer Schreibmaschine erzeugt werden. Es entsteht ein virtuoses und unterhaltsames Zusammenspiel aus Akustik und Bewegung.
Das Lustige steht im Kontrast zur räumlichen Atmosphäre. Am hinteren Bühnenrand stehen mehrere Klo-Kabinen Gittertüren nebeneinander – trostlose Rückzugsorte der Figuren. Auch sonst erzeugt das Bühnenbild kahl und ungemütlich das Gefühl: Hier will man nicht sein. Dazu passt das Erscheinungsbild der Figuren. Sie alle sehen aus, als hätten sie mindestens eine, eher zwei Nächte durchgemacht. Sie sind blass, haben gerötete Augen, fettige Haare und schwitzen um die Wette.
"Die Nashörner" – Parabel auf Konformismus und Mitläufertum
Ionescos Stück wurde zum Teil als direkte Kritik am Naziregime gelesen. Menschen, die sich nicht gegen die martialischen Verwandlungen in gleichgültige Dickhäuter wehren, als Bild für die deutsche Mitläufer-Gesellschaft. Der Autor selbst hat jedoch darauf bestanden, dass es ihm nicht um die Kritik an einer speziellen Ideologie ging, sondern allgemein um Gefahren von Massenbewegungen und Konformismus sowie Fragen nach Menschlichkeit und Entmenschlichung.
Feingearbeitete Inszenierung: Gegen Ende wird es platt
Die Themen, die Ionesco beschäftigten, haben sich nicht abgenutzt. Die politische Realität bietet viele Beispiele. Das Meininger Regieteam um Sandra Bezler transportiert die Inhalte in einem feingearbeiteten und in sich stimmigen Gesamtkonzept. Bewegend wird der Abend vor allem auch durch die Performance von Paul Maximilian Schulze als Bérenger. Insbesondere, weil er der Versuchung widersteht, kurze Wege zu billigen Lachern zu machen. Noemi Clerc als Daisy rutscht dagegen zu oft ins Alberne, überzeichnet die Figur und nimmt der weiblichen Hauptrolle damit Tiefe.
Auf dem dramatischen Höhepunkt wird es plötzlich platt. Über die Lautsprecher ertönen Aussagen von Björn Höcke. Vielleicht Geschmacksache, ob diese eher billige Masche, um vermeintlichen Tiefgang zu erzeugen, wirklich nötig gewesen wäre. Zumal "Die Nashörner" die erste Schauspielpremiere in dieser Spielzeit in Meiningen sind. Die erste nach der Landtagswahl in Thüringen.
Weitere Informationen zum Stück
Staatstheater Meiningen - Kammerspiele
Bernhardstraße 5
98617 Meiningen
"Die Nashörner"
Regie: Sandra Bezler
Weitere Aufführungen
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Quelle: MDR KULTUR (Marlene Drexler), Redaktionelle Bearbeitung: ks
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 21. September 2024 | 10:15 Uhr