Ein Mann und eine Frau stehen vor einer Fabrik
Der Bürgermeister mit Yvonne Krug, der Betriebsratsvorsitzenden des Unternehmens. Sie sagt: "Wir gehen erhobenem Hauptes." Bildrechte: MDR/Marlene Drexler

Schmalkalden-Meiningen Brotterode-Trusetal: Eine Stadt stemmt sich gegen ihren wirtschaftlichen Niedergang

29. März 2024, 08:00 Uhr

Der Automobilzulieferer Automotive Lighting war einer der größten Arbeitgeber im Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Mit Ende dieser Woche ist das Werk in Brotterode Geschichte. Zu den Ursachen und Folgen der Betriebsschließung.

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An der Pforte zum Werksgelände ist am Donnerstagvormittag viel Betrieb. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind gekommen, um Arbeitskleidung, Spindschlüssel und Betriebsausweise abzugeben. Beim Rausgehen tragen viele ein blaues Buch unter dem Arm. Es ist eine Chronik über die lange Geschichte des Fabrikstandorts, ein Abschiedsgeschenk des Arbeitgebers.

Schon in der DDR wurden auf dem Werksgelände in Brotterode Scheinwerfer für Autos hergestellt. Als die Geschäftsleitung vor knapp einem Jahr angekündigte, den Standort bis Ende März 2024 komplett zu schließen, kam das nicht nur für Belegschaft und Region, sondern auch für Branchenkenner überraschend.

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Automobilzulieferer Automotive Lighting mit seinem Werk in Brotterode war einer der größten Arbeitgeber im Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Jetzt hat er zu. Marlene Drexler mit Stimmen von vor Or.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Do 28.03.2024 18:15Uhr 01:53 min

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Enttäuschung in der Belegschaft immer noch groß

An ihrem letzten Arbeitstag ist die Stimmung unter der Beschäftigten, wie zu erwarten, gedrückt. "Es ist schlimm", sagt die 44-jährige Doreen Spörer. Eigentlich habe sie heute gar nicht mehr kommen wollen. Auch Heike Böttcher sagt, sie sei sehr traurig. 16 Jahre hat die 57-Jährige hier in der Montage gearbeitet: "Zehn Jahre muss ich noch arbeiten - ob das klappt? Ich weiß es nicht, aber ich wünsche es mir".

Beide Frauen wissen noch nicht, wie es für sie beruflich weitergeht. Für die Betriebsratsvorsitzende Yvonne Krug sind es genau solche Menschen wie Heike Böttcher, um die sie sich Sorgen macht. Mit fortgeschrittenem Alter in einem neuen Betrieb noch mal von vorne zu anzufangen, sei nicht leicht.

Zwei Frauen stehen vor einem Zaun.
Doreen Spörer und Heike Böttcher - sie haben 15 und 16 Jahren in dem Werk in Brotterode gearbeitet. Ihre berufliche Zukunft ist ungewiss. Bildrechte: MDR/Marlene Drexler

Abfindungen und eine "Transfergesellschaft"

Immerhin konnte die Gewerkschaft einen bemerkenswerten Sozialtarifvertrag erstreiten. Er beinhaltet Abfindungen und eine sogenannte Transfergesellschaft. Das bedeutet, die Beschäftigten bekommen noch ein Jahr lang ein 85-prozentiges Netto-Gehalt.

Auch Heike Böttcher geht die in Transfergesellschaft. Sie hofft, in dieser Zeit eine neue Arbeitsstelle zu finden. Vereinbart wurde mit dem Arbeitgeber auch ein Topf mit Geld für Fort- und Weiterbildungen. Laut Yvonne Krug machen davon viele Gebrauch.

Drei Werksschließungen in kurzer Zeit

Auch wenn die individuellen Schicksale durch den Sozialtarifvertrag ein bisschen abgefedert werden für die Stadt mit ihren rund 6.000 Einwohnern bleibt das Aus von Automotive Lighting ein harter Schlag. Zudem ist es nicht der erste und offenbar auch nicht der letzte Automobilzulieferer, der sich aus Brotterode-Trusetal zurückzieht.

2020 ging Grammer mit 40 Arbeitsplätzen. Und vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass auch BOS Plastics Systems sein Werk im kommenden Jahr dichtmachen will. Dort sind 80 Menschen beschäftigt. In allen Fällen hieß es zur Begründung, man sei nicht mehr wettbewerbsfähig.

Preisdruck in der Autobranche hoch

Rico Chmelik, Geschäftsführer des Branchenverbands Automotive Thüringen sagt: "Das sind die Schattenseiten der Globalisierung". Internationale Konzerne wie Automotive Lighting, dessen Hauptsitz in Japan liegt, sind nicht an Deutschland gebunden. Es ist nichts Neues, dass insbesondere die vergleichsweise hohen Lohn- und Energiekosten hierzulande für Konzerne unattraktiv sind.

zum Aufklappen: Was ist Automotive Thüringen?

"Automotive Thüringen" versteht sich nach eigener Auskunft als Bindeglied zwischen Politik und Wirtschaft. Das Netzwerk bringt Partner aus Industrie und Forschung zusammen. Es will der automobilen Zulieferindustrie mehr Gewicht und Stimme geben. Durch Studien, Trendanalysen, Weiterbildungen und Seminare sowie Netzwerktreffen will man dem Austausch der Mitglieder dienen, die Öffentlichkeit informieren und Innovationen vorantreiben.

Laut Chmelik fragen sich die Geschäftsleitungen dann zweierlei: Können wir irgendwo günstiger produzieren? Und: Bei welchem Teil wird die Qualität deutscher Produktion noch gebraucht? Insbesondere bei Produkten, die maschinell gefertigt werden, sei der Standort egal. Gleichzeitig gelte, je komplexer ein Teil ist, desto wichtiger ist Expertise und Qualität.

Automobilverband fordert mehr Planbarkeit

Dass es das Automotive Lighting Werk in Brotterode getroffen hat, sei für ihn aber nach wie vor erstaunlich, so Chmelik. Zum einen wurde es noch im Jahr 2017 als besonders innovativ ausgezeichnet. Zum anderen wurden dort Frontscheinwerfer hergestellt, die ein durchaus komplexes Produkt darstellten.

Dass es trotzdem von den Autoherstellern offenbar zum Billigteil degradiert wurde, habe ihn überrascht. Für eine Kommune sei es unmöglich, solche unternehmerischen Entscheidungen zu beeinflussen.

Grundsätzlich fordert der Branchenvertreter von der Politik stabile Rahmenbedingungen. Fehlende Fachkräfte und Unwägbarkeiten im Energiesektor schafften Unsicherheiten, die Unternehmer von Investitionen abhielten. Es brauche wieder mehr Planbarkeit. Gleichzeitig lobte er die sogenannte "Automotive Agenda Thüringen" - eine Leitlinie der Landesregierung, um den Transformationsprozess der Automobil- und Zulieferindustrie zu begleiten.

Stadt auf der Suche nach neuen Investoren

Automotive Lighting will das Werksgelände in Brotterode verkaufen. Stadt, Landkreis und Beschäftigte haben auf eigene Initiative bei über 150 Unternehmen für den Standort geworben. Gemeinsam mit der Landesentwicklungsgesellschaft wurde ein Exposé geschrieben.

Bisher, so Bürgermeister Goßmann, leider noch ohne Erfolg. Auch wenn es der große Wunsch aller sei, halte er es inzwischen für eher unwahrscheinlich, dass sich ein Großinvestor findet, der Interesse an dem gesamten Areal hat. Daher würde die Stadt gerne ein Gewerbegebiet mit mehreren kleineren Betrieben entwickeln. Dafür müsste sie das Gelände allerdings erst mal erwerben.

Der Bürgermeister von Brotterode, Kay Goßmann.
Bürgermeister Kay Goßmann hofft auf Investoren für das jetzt leerstehende Werk. Bildrechte: MDR/Marlene Drexler

Ein Wunsch, der laut dem Bürgermeister nur mit finanzieller Hilfe des Landes möglich wäre. Landrätin Peggy Greiser mahnt auch in Richtung Bundesregierung. Brotterode-Trusetal sei aufgrund aufgeschobener Straßenprojekte des Bundes verkehrstechnisch benachteiligt.

Auswirkungen noch nicht definierbar

Inwiefern sich die Abwanderungen auf die Gewerbesteuer-Einnahmen der Stadt auswirken, kann nur gemutmaßt werden. Die Verwaltung darf aufgrund des Steuergeheimnisses keine Angaben dazu machen. Gleichzeitig werden zurückgehende Gewerbesteuer-Einnahmen mit Schlüsselzuweisungen des Landes ausgeglichen. Dennoch werden die Betriebsschließungen in der Stadt Spuren hinterlassen, wie auch Kay Storch zu bedenken gibt.

Er ist Vorsitzender der größten Stadtratsfraktion "Bürger für Brotterode-Trusetal": "Das zieht einen Rattenschwanz hinter sich her, dessen Ausmaß wir jetzt noch nicht definieren können". Als Beispiel nennt Storch all die Aufträge, die Automotive Lighting an hiesige Betriebe vergeben hat. Da wäre die Reinigungsfirma, die das Werk geputzt hat, die Elektrobetriebe, die die Maschinen gewartet haben und viele andere.

Das zieht einen Rattenschwanz hinter sich her, dessen Ausmaß wir jetzt noch nicht definieren können.

Kay Storch

Sicher ist auch, dass der Durchlaufverkehr in der Stadt abnehmen wird, was sich wiederum auf die Geschäfte auswirkt. "Ich weiß, dass viele aus der Belegschaft von Automotive Lighing nach ihrem Schichtwechsel zum Metzger oder Bäcker bei uns einkaufen gegangen sind", so Stadtrat Storch.

Bürgermeister hat Hoffnung

Bürgermeister Kay Goßmann ist es in dieser für seine Stadt schwierigen Zeit wichtig, das Signal zu senden: "Wir geben nicht auf." Nach einer wirtschaftlichen Delle kann ja auch wieder Aufbruch kommen, so seine Devise. Wie Aufbruch geht, zeigt zum Beispiel gerade das benachbarte Schmalkalden, wo die Stadt ein kommunales Gewerbegebiet gebaut hat. Möglich wurde das auch aufgrund einer Millionenförderung des Landes.

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MDR (jn)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 28. März 2024 | 20:00 Uhr

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