Barrierefreiheit "Seit Jahren tut sich hier nichts": Keine Chance für Rollifahrer am Bahnhof Neustadt

17. August 2024, 18:59 Uhr

Im Juni kündigten Land und Deutsche Bahn ein gemeinsames Sanierungsprogramm für acht Bahnhöfe in Thüringen an. Doch angesichts des Zustands vieler der rund 300 Stationen ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wie ein Beispiel aus Ostthüringen zeigt.

Für Helge Berger ist der Weg zum Zug jedes Mal ein beschwerlicher. Nach einem Schlaganfall sitzt der Neustädter seit fünf Jahren im Rollstuhl. Trotzdem fährt er regelmäßig mit der Bahn nach Bamberg. Dort und auch beim Umsteigen in Saalfeld habe er keine Probleme, erzählt er.

Bei schlechtem Wetter habe ich gar keine Chance, zum Zug zu kommen.

Helge Berger

Doch der Start- und Endpunkt am Bahnhof in Neustadt an der Orla frustriert ihn zunehmend. "Seit Jahren tut sich hier nichts", sagt Berger. "Und bei schlechtem Wetter habe ich gar keine Chance, zum Zug zu kommen."

Denn die Züge zwischen Gera und Saalfeld halten am Bahnhof Neustadt ausschließlich am Gleis 2. Laut Deutscher Bahn das Hauptgleis und deshalb durchgehend. Wer vom Busbahnhof kommt und damit am Gleis 1 die Station betritt, muss den Bahnhofstunnel nutzen. Rollstuhlfahrer oder Alleinreisende mit Kinderwagen haben keine Chance. Sie können nur über einen rund 800 Meter langen Umweg über den Bahnübergang den Bahnsteig 2 erreichen.

Ein Mann im Rollstuhl fährt durch die Natur.
Ein illegaler Trampelpfad führt Rollstuhlfahrer wie Helge Berger zum Bahnsteig 2. Bildrechte: MDR/Andreas Dreißel

Abkürzung führt über illegalen Trampelpfad

Dort führt von einer alten Ladestraße ein Trampelpfad zum Bahnsteig. Der Weg ist allerdings illegal. Auf dem Bahnsteig zeigt deutlich sichtbar ein Schild neben der Treppe zur Unterführung: Hier ist Schluss. Trotzdem nutzen jeden Tag Hunderte die Abkürzung - körperlich eingeschränkt oder nicht. Viele parken auch auf dieser Seite, da es vor dem Bahnhofsgebäude keine Parkmöglichkeiten gibt.

Ein Schild mit einem Piktogramm eines Menschen hängt an einem Treppenaufgang eines Bahnhofs.
Ein Piktogramm verdeutlicht: Durchgang verboten. Bildrechte: MDR/Andreas Dreißel

Für Helge Berger ist der Weg über den Trampelpfad jedes Mal eine Herausforderung. Früher lag hier ein Gleis, dementsprechend schlecht ist der Untergrund. Einmal quer durch das Gelände, vorbei an Sträuchern und Bäumen und über schiefe Kanten hinweg. Ein Wunder, dass der Rollstuhl nicht umkippt. Im Winter oder bei Dauerregen verzichtet Berger auf solche Touren. Er könnte steckenbleiben.

Wir wollen zumindest ein Provisorium durchsetzen.

Ronny Schwalbe Stadtverwaltung Neustadt an der Orla

Für den Einstieg in den Zug informiert Berger vor jeder Fahrt den Mobilitätsservice der Deutschen Bahn. Zugbegleiter legen dann eine kleine Rampe am Zug aus. Denn auch der Bahnsteig selbst ist nicht barrierefrei. Die Höhe passt nicht. Erst nach 2028 will das Bahnunternehmen hier tätig werden.

Nahaufnahme von Füßen eines Mannes im Rollstuhl.
Auf seinem Weg zum Bahnsteig muss Helge Berger mit seinem Rollstuhl auch solche Kanten überwinden. Bildrechte: MDR/Andreas Dreißel

Stadt und Bahn bei Provisorien uneinig

Eigentlich viel zu spät, aber besser als gar nicht, meint die Stadt, die sich seit Jahren um einen barrierefreien und attraktiven Bahnhof bemüht. Im vorigen Jahr ging das Bahnhofsgebäude von einem privaten Eigentümer an die Stadt über. Sie will es bis zur Landesgartenschau 2028 sanieren und auch das Umfeld in Ordnung bringen.

"Durch die Landesgartenschau haben wir überhaupt erst einmal einen richtigen Kontakt zur Bahn bekommen", sagt Ronny Schwalbe, der bei unserem Vorort-Termin den Bürgermeister vertritt. "Wir wollen zumindest ein Provisorium durchsetzen."

Ideen gibt es. Schon mit einem drei Meter langen Pflasterweg zwischen Bahnsteig und ehemaliger Ladestraße wäre vielen geholfen. Auch Helge Berger, doch davon will die Bahn nichts wissen. Solche Provisorien wären beim Eisenbahnbundesamt kaum durchzusetzen, hören wir hinter vorgehaltener Hand.

Bahnhof Neustadt Orla
Der Bahnhof Neustadt an der Orla soll bis zur Landesgartenschau 2028 saniert werden. Für Barrierefreiheit gilt das allerdings nicht. Bildrechte: MDR/Andreas Dreißel

Bahnhöfe warten auf Sanierung

Dabei könnten gerade kleine Schritte helfen, mit überschaubaren finanziellen Mitteln viele kleine Stationen in Thüringen attraktiver zu machen. Viele der rund 300 Bahnhöfe warten auf eine Kur. Das kürzlich angekündigte Förderprogramm des Landes für die Bahn umfasst gerade mal acht Stationen. Bei 74 Millionen Euro Kosten. Weitere 50 Stationen modernisiert die Bahn in den nächsten Jahren mithilfe des Bundes.

Eine Alternative für Neustadt an der Orla wäre auch, die Züge in Zukunft am Gleis 1 ankommen zu lassen. Das lehnt die Bahn allerdings ab. "Die Abfahrt am Gleis 1 ist aus technischen und fahrplantechnologischen Gründen nicht möglich", teilt ein Bahnsprecher mit.

Übersetzt heißt das: Die langsame Fahrt über die Einfahrt- und Ausfahrtweichen kosten Zeit und bringen den Fahrplan durcheinander. Damit müssen sich mobilitätseingeschränkte Menschen weiter über den Trampelpfad quälen.

Umbau in kleinen Schritten

Immerhin: Die Hartnäckigkeit der Stadt bringt endlich Bewegung in die Sache. Vom Bahnsteig 2 bis zum Bahnübergang soll bis zur Landesgartenschau ein richtiger Fußweg entstehen. Mit Einverständnis der Bahn und auf eigene Kosten gebaut von der Stadt.

Beim richtigen Umbau ab 2029 soll dann auch der Bahnsteig für einen stufenfreien Ein- und Ausstieg auf 55 Zentimeter erhöht werden. Auch ein späteres Nachrüsten von Aufzügen will die Bahn zumindest einplanen. Damit Aufzüge auch wirklich kommen, müssten in Neustadt an der Orla allerdings täglich mindestens 1.000 Fahrgäste ein- und aussteigen.

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