Zweiter Weltkrieg Bombenangriff auf Weimar 1945: Was junge KZ-Häftlinge im Villenviertel erlebten
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08. Februar 2025, 12:28 Uhr
Vor 80 Jahren wurde Weimar bombardiert. Häftlinge aus dem KZ Buchenwald mussten beim Aufräumen helfen. Maxmilian Grünfeld - später Martin Greenfield - war einer von ihnen. Eine Geschichte von Rache und Menschlichkeit.
Am 9. Februar 1945 fliegen Maschinen der US Air Force über Weimar. Ihre Bomben treffen auch das Villenviertel an der Windmühlenstraße - dort wohnen zum Beispiel der NSDAP-Bürgermeister Otto Koch und der stellvertretende Gauleiter und SS-Brigadeführer Heinrich Siekmeier.
Nach dem Angriff kommandiert die SS Häftlinge aus Buchenwald zum Enttrümmern und Wiederaufbau dorthin. Zu einem der Arbeitskommandos gehört der 16-jährige Maxmilian Grünfeld.
Sieben Jahrzehnte später schreibt er in seinen Memoiren "Measure of a man":
Wir luden unser Werkzeug auf und marschierten, bewacht von bewaffneten SS-Leuten, in das wenige Kilometer entfernte Weimar. Vor einer Villa mussten wir anhalten. Es war das Haus des Bürgermeisters, ein großer, schwarzer Mercedes stand davor. Auf dem Hof verstreut lagen staubbedeckte Haufen zerbrochener Ziegelsteine. Ich sah eine angelehnte Kellertür und öffnete sie. Ein Sonnenstrahl drang in den muffigen Keller ein. Auf der einen Seite des Raums stand ein mit Hühnerdraht eingefasster Holzkäfig. Ich ging näher heran und bemerkte zwei zitternde Kaninchen am Boden. Hier Leben zu finden. Ich war selig. Und weil ich immer hungrig war, aß ich etwas von dem Futter …
Die Frau mit dem Baby ...
Das Glück allerdings währte nur kurz, berichtet der ehemalige Häftling. Denn eine Frau mit Baby auf dem Arm sah ihn im Keller und schrie ihn an: "Warum zur Hölle stiehlst du mein Kaninchenfutter? Du Bestie. Das werde ich melden!"
Ein paar Minuten später kam ein SS-Mann und befahl mir, aus dem Keller rauszukommen. Ich wusste, was jetzt geschah und dass ich es wusste, machte es nur noch schlimmer. "Runter auf den Boden, du Hund! Sofort!", schrie er. Er ergriff seinen Knüppel und schlug auf meinen Rücken ein. (…) Wie konnte eine Frau, die ihr eigenes Kind auf dem Arm trug, ein wandelndes Skelett wie mich ausprügeln lassen, nur weil es vergammeltes Tierfutter gegessen hatte?
... und der Drang nach Rache
Noch Jahrzehnte später fühlt der Geschundene, wie in ihm eine bis dahin ungekannte Blutlust aufstieg, ein Gefühl, das anders war als alles, was er bisher kannte. Er schwor sich: Falls er Buchenwald überleben sollte, würde er zurückkehren und die Frau töten.
Herkunft, Deportation, Todesmarsch
Max Grünfeld war aus Auschwitz nach Weimar gekommen. Mit dem letzten großen Transport zur "Evakuierung", wie die SS die Räumung der Konzentrationslager vor der heranrückenden Roten Armee nannte. Heute sind diese Transporte als Todesmärsche bekannt.
Grünfeld wurde 1928 geboren, stammt aus dem seinerzeit slowakischen, heute ukrainischen Dorf Pawlowo und war von dort im April 1944 mit seiner Familie ins Ghetto von Mukatschevo deportiert worden. Die Grünfelds werden ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht, SS-Männer ermorden Maxmilians Mutter und seine Geschwister, er selbst und sein Vater kommen in Arbeitskommandos. Max leistet Zwangsarbeit in der Buna-Munitionsfabrik bei Auschwitz.
Dann, im Januar 1945: der Todesmarsch. Die Wachmannschaften der SS treiben die Häftlinge zusammen, lassen sie in Kolonnen zu je 1.000 Mann antreten. Sie müssen nach Gleiwitz laufen, nachts, 25 Kilometer durch tiefen Schnee und eisigen Wind. Wer zusammenbricht oder aus der Kolonne ausschert, wird erschossen. Nur jeder Dritte erreicht den Gleiwitzer Bahnhof. Vier Tage und vier Nächte dauert der Transport im offenen Kohlewaggon.
Manches, was passiert, ist nicht in Worte zu fassen, ist jenseits des Messbaren. Die Frage war: Leben oder Sterben? Jeden hätte es erwischen können.
Das Buch von Martin Greenfield
Als Maxmilian Grünfeld nach dem Zweiten Weltkrieg mit 19 Jahren in die USA auswanderte, änderte er seinen Namen in Martin Greenfield. Unter diesem Namen veröffentlichte er 2014 seine Memoiren:
"Measure of a Man: From Auschwitz Survivor to Presidents' Tailor“, 256 Seiten, erschienen im Regnery History Verlag
Das "Kleine Lager" in Buchenwald
Im Januar/Februar 1945, so belegen es die Dokumente, kamen Tausende aus Auschwitz und Groß-Rosen ins "Kleine Lager", das vom Hauptlager des KZ Buchenwald abgetrennt war. Der Historiker Harry Stein war lange der Kustos der Gedenkstätte auf dem Ettersberg und sagte 2018 im MDR-Radiofeature "Der Schneider der Präsidenten": "Die Menschen wurden in große Pferdeställe gepfercht, bis zu 2.000 Menschen in einen solchen Pferdestall. Zu den Eingepferchten gehörte auch Max Grünfeld."
Grünfelds sogenannte Effekten-Karte ist bis heute im Archiv, sie trägt das Einlieferungsdatum 26.1.1945 und vermerkt auch die Auschwitz-Nummer A 4406. Im "Kleinen Lager" fehlt es an allem: an Schlafplätzen, Wasser, Nahrung, Schuhwerk, warmer Kleidung, an Schüsseln und Löffeln. Allein in den Monaten Januar, Februar und März sterben in Buchenwald 6.000 Häftlinge an den Folgen des Hungers.
Endlich: Der Tag der Abrechnung
Im April 1945 ist die US-Army ist bis nach Thüringen vorgerückt, erreicht auch Weimar und den Ettersberg. Die Wachmannschaften vom KZ Buchenwald sind geflohen, etwa 21.000 Häftlinge befreit. Zu den Befreiten gehört Maxmilian Grünfeld. Der 16-Jährige sinnt auf Rache - und einige Tage später soll sich die Gelegenheit dazu ergeben.
Max berichtet, wie er im Lager zwei Jungen aus den Waldkarpaten findet, seiner Heimat. Ihnen erzählt er von der Prügel durch die SS - nur wenige Wochen zuvor in der Villa in der Windmühlenstraße, als ihn die Frau mit dem Kind auf dem Arm denunzierte. Max will Rache. "Ich konnte nicht von meiner Verbitterung und Rachlust lassen", schreibt er in seinem Buch "Measure of a man".
Ich hatte mir vorgenommen, nach Weimar zu gehen und sie zu töten. Die Jungs schworen mir Solidarität. Sie hatten die Hölle durchlebt und waren jetzt auch scharf darauf, zuzusehen, wie Gerechtigkeit walten würde. Wir konnten uns von den deutschen Waffen einige Maschinenpistolen schnappen, die von Häftlingen und den Amerikanern beschlagnahmt worden waren und nun als Haufen auf dem Appellplatz lagen. Wir verließen das Lager hinten durch den aufgeschnittenen Zaun - zu Fuß nach Weimar.
Max Grünfeld steht, mit Gewehr im Anschlag, am Villen-Eingang, klingelt und die Frau öffnet die Tür. Sie hält ein kleines Kind auf dem Arm und schreit: "Nicht schießen, nicht schießen!"
"Ein schönes Kind, eine schöne Frau - aber für mich war sie bösartig … Ich war noch nicht wieder Mensch", berichtete Grünfeld später. "Sie wusste, dass ich sie töten könnte - niemand war da, mich aufzuhalten. Ich hatte eine Waffe - sie wusste nicht, dass ich nicht schießen kann … Ich sah sie mit dem Baby auf dem Arm, und der Kamerad sagte zu mir auf Jiddisch: "Schieß sie, schieß sie, schieß sie!"
Großvaters Worte
Wenn Martin Greenfield - so nannte er sich, seit er in den 1950er-Jahren nach New York übergesiedelt war - von dieser Szene erzählte, dann kam immer sein Großvater aus Pawlowo ins Spiel. "Mein Großvater lehrte mich: Triffst du einen schlechten Menschen - versuche, ihn zu bessern!" Max Grünfeld wurde streng religiös erzogen.
Er senkt das Gewehr, schießt nicht. "Beim Anblick von Kind und Mutter wurde ich menschlich", sagte er. Max erinnert sich an den großen schwarzen Mercedes, der vor der Villa stand. Er will die Schlüssel. Als die Frau sich weigert, setzt er ihr den Gewehrlauf auf die Brust. Sie gibt ihm den Schlüssel, sagt aber nicht, wo der Wagen steht. Die Jungs finden den Mercedes, unter Heu versteckt in der Garage und fahren los. Die Wachen am Lagertor trauen ihren Augen nicht: Drei Jungs in Häftlingskluft, bewaffnet mit SS-Maschinenpistolen, kehren von einem unerlaubten Streifzug zurück - mit einem Nobelauto. Sie nehmen ihnen die Waffen weg.
"Wir haben ein einziges Foto noch aus Beständen des Holocaust-Museums in Washington, wo also nochmal so eine Limousine mit drei Jungs vorm Kammergebäude Buchenwald steht, und die drei haben offensichtlich Spaß …", berichtete Harry Stein, bevor er als Kustos der Gedenkstätte KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora in Rente ging. "Ja, das ist eigentlich die Geschichte, die wir kennen, und was dann weiter ist, wissen wir nicht."
Schneider in New York
Max Grünfeld wurde als Martin Greenfield ein berühmter Schneider in New York. Seine Manufaktur im Bezirk Brooklyn versorgte Berühmtheiten mit handgefertigten Anzügen, unter anderem die amerikanischen Präsidenten Eisenhower, Clinton und Obama gehörten zu seinen Kunden.
Der MDR porträtierte Greenfield 2018 in einem einstündigen Radiofeature und einer halbstündigen TV-Doku ("Der Schneider der Präsidenten").
Am 20. März 2024 verstarb Martin Greenfield im Alter von 95 Jahren.
MDR (mm)
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 20. Januar 2025 | 23:59 Uhr