Ein Mann vor einem Gemüseregal.
Biobauer Johann Gramm trägt Gemüsekisten in den Biomarkt Kirschberg in Weimar. Bildrechte: MDR/David Straub

Ernährung Essen für 1.000 Genossen: Zwei Weimarer Projekte wehren sich gegen die Macht der Discounter

24. August 2024, 12:24 Uhr

Ein Bio-Laden, der allen gehört - eine Molkerei, bei der alle mitbestimmen können: In Weimar wollen zwei Projekte beweisen, welche Möglichkeiten Lebensmittel-Genossenschaften bieten.

David Straub schaut in die Kamera.
Bildrechte: Privat

Johann Gramm gehört einer seltenen Spezies an. Er ist Bio-Gemüsebauer in Thüringen. Gramm bewirtschaftet seit fünf Jahren den Lindenberghof am östlichen Stadtrand von Weimar. Die Gemüseproduktion vor Ort in Thüringen geht zurück - gerade einmal 54 Betriebe bauen laut Landwirtschaftsministerium im Freistaat Gemüse an. 22 davon sind Bio. "Das ist ein Witz", sagt Gramm über seine Branche. Gerade bei der Bio-Produktion sei Thüringen "Entwicklungsland".

Trotzdem ist die Stimmung gut: An diesem Mittag entlädt Gramm im Weimarer Biomarkt Kirschberg Kisten voll mit frisch-geernteten Tomaten, Radieschen oder Bohnen. David Hildebrand nimmt sie ihm ab, die Kisten wandern ins Lager der Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft (EVG), die hier den Biomarkt führt. Hildebrand ist im Vorstand der EVG. Beide - Gramm und Hildebrand - kennen sich gut, stehen oft im Austausch, wenn Lieferungen geplant oder vorbeigebracht werden.

Ein Mann räumt Gemüsekisten aus einem Auto.
"22 Bio-Gemüsebauern in Thüringen - das ist ein Witz", sagt Johann Gramm. Bildrechte: MDR/David Straub

Genossenschaft: Mitlieder können mitgestalten

Gramms Lindenberghof produziert etwa 60 Gemüsekulturen. Der Betrieb ist zu klein, um alles über den Großhandel zu vertreiben - und zu groß, als dass ein Hofladen ausreichen würde. Mit der EVG und ihren beiden Läden in Weimar hat Johann Gramm den perfekten Abnehmer gefunden. Dass das aber seit Jahren so funktioniert, hängt auch damit zusammen, dass die EVG kein übliches Unternehmensmodell umsetzt.

Der Mehrwert der Genossenschaft ist, dass du Menschen hast, die wirklich dahinterstehen.

David Hildebrand EVG-Vorstand

Die Idee der EVG war schon vor 25 Jahren klar: "Wir sind das Bindeglied“, sagt Vorstand David Hildebrand, zwischen regional produzierenden Landwirten wie Johann Gramm und Verbrauchern. Nach Eröffnung der heutigen Läden in der Eduard-Rosenthal-Straße am Kirschberg und am Herderplatz in der Altstadt können die Verbraucher in der EVG auch aktiv mitgestalten: seit 2014 ist die EVG als Genossenschaft eingetragen. "Der Mehrwert der Genossenschaft ist, dass du Menschen hast, die wirklich dahinterstehen", sagt Hildebrand.

Dazu kommt: die Genossenschaftsmitglieder können entweder Anteile zeichnen und nur "passiv" die Genossenschaft unterstützen - oder sich in den Versammlungen aktiv in die Ausrichtung des Ladens einbringen. Als Johann Gramm zum Beispiel vor fünf Jahren seinen Hof fitmachte, entschied die Genossenschaft, ihn, den zukünftigen Gemüseproduzenten, finanziell zu unterstützen. Und: die EVG kann sich selbst auch in anderen Genossenschaften engagieren. Das ist erst vor kurzem so passiert.

Mit Bürgermolkerei geht weitere Genossenschaft an den Start

Auf dem Gelände der alten Feuerwache in Weimar lebt es allmählich. Betritt man den großen Hof an der Erfurter Straße, dringen Geräusche aus den Wohnhäusern auf der linken Seite. Die ersten Bewohner des Projektes "Alte Feuerwache" sind eingezogen.

Geradezu, rechts vom früheren Schlauchturm, sieht allerdings noch alles nach Baustelle aus. Und nicht danach, dass hier bald Käse oder Butter produziert werden könnten.

Eine große Baustelle.
Der Rohbau der künftigen Bürgermolkerei auf dem Gelände der alten Feuerwache in Weimar. Bildrechte: MDR/David Straub

Sebastian Lück ist trotzdem optimistisch: Er führt durch den Rohbau, am Baukran vorbei, und zeigt, wo hier in einem Jahr eine Molkerei ihren Betrieb aufnehmen soll. Lück hat in Weimar die Brotklappe gegründet, einen Bäckereibetrieb mit Café in mittlerweile zwei Filialen. Lück erzählt. 2020 habe es ein Treffen mit einem Landwirt gegeben, der seiner Bäckerei Getreide liefert. "Und in einem Nebensatz kam er auf das Thema: da sind auch noch Kühe, und der Stall ist nicht profitabel." Die Idee, die damals aufkam: Warum die Milch der 150 Kühe nicht selbst weiterverarbeiten - eine eigene Produktion samt Vermarktung aufbauen?

Außerdem, so Lück, habe mit der Herzgut-Molkerei 2022 die letzte nennenswerte Bio-Molkerei in Thüringen dichtgemacht. Ein Problem, findet er: "Wenn die Kuh da ist und ich transportiere die Milch dann erstmal 300 Kilometer weit zur nächstgelegenen Molkerei - das ergibt wenig Sinn." Es war die Geburtsstunde für die Bürgermolkerei.

Ein Mann steht auf einer Baustelle.
Bisher hat Sebastian Lück vor allem Brot um die Ohren gehabt - momentan kümmert er sich mit einem Team darum, dass es in Weimar bald eine Bürgermolkerei gibt. Bildrechte: MDR/David Straub

Mitbestimmung auch für Bürgermolkerei wichtig

Auch für die neue Molkereigruppe war die Mitbestimmung ihrer zukünftigen Verbraucher ein wichtiges Thema. Sie wollte, wie die EVG, eine Genossenschaft werden. "Egal wie viele Anteile Mitglieder haben, jeder hat dann eine Stimme." Es gehe, sagt Sebastian Lück, weniger um eine großartige Geschäftsidee, das große Geld also. "Der schwierige Milchmarkt und die ganzen Investitionen hier am Bau - da würde ich mich eher mit ein paar Bratwürsten auf den Markt stellen."

Der Bürgermolkerei ist gesellschaftliche Akzeptanz durch Mitmachen wichtig. Lück drückt es so aus: "Wenn die Bürger von Weimar sagen: das brauchen wir gar nicht, dann haben wir hier einen kolossalen Denkfehler. Wenn keiner Milchprodukte essen möchte und keiner lokale Wertschöpfungsketten oder Nahrung braucht, dann haben wir hier ein Ei auf dem Kopf."

Eine junge Frau hält ein Mobiltelefon in die Kamera. 29 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Genossenschaft unterstützt Genossenschaft

Mitarbeiter für die Molkerei sind laut Lück schon bereit loszulegen. Und auch erste Genossenschaftsmitglieder gibt es bereits seit der offiziellen Eintragung im Juli. Ein Mitglied ist die EVG selbst, die in Zukunft die Produkte aus der Feuerwache auch selbst verkaufen will. Den Rohbau der Molkerei übernimmt das Projekt des Vereins "Alte Feuerwache", den Ausbau stemmt die Bürgermolkerei selbst, unterstützt unter anderem durch die Thüringer Aufbaubank.

Eine Molkerei plant man nicht so nebenbei.

Sebastian Lück Vorstand der Bürgermolkerei

Dass das alles so klappt, sei nicht selbstverständlich, sagt Sebastian Lück. "Es braucht sehr viel Willigkeit von den Leuten hier. Von den Architekten zum Beispiel, die schon seit drei, vier Jahren hier planen und alles beauftragen. Und auf einmal kommt da jetzt hier so eine Molkerei an. Und eine Molkerei plant man nicht so nebenbei."

Ein Haus im Rohbau.
In einem Jahr sollen hier Käse und andere Milchprodukte produziert werden. Bildrechte: MDR/David Straub

Erzeuer-Verbraucher-Gemeinschaft feiert 25-Jähriges

Dass das Konzept funktionieren kann, zeigt die EVG: Etwa 1.000 Menschen aus Weimar sind mittlerweile Mitglied und haben Anteile gezeichnet. Am Samstag feiert das Unternehmen 25-jähriges Jubiläum auf dem Weimarer Herderplatz. Samt Tombola, Kinderschminken und der Möglichkeit, die regionalen Produzenten vor Ort kennenzulernen.

Eine Kiste Tomaten.
Auch bei der Geburtstagsfeier wird es Produkte der EVG geben. Bildrechte: MDR/David Straub

Einer von ihnen, Johann Gramm, wird auch da sein. Er wisse, sagt er, dass es für Läden wie die beiden der EVG nicht einfach sei, auf diese Weise mit Produzenten zusammenzuarbeiten. "Wenn ich frühmorgens zum Beispiel anrufe und sage, die Ware gibt es nicht mehr, weil halt nachts der Hagel alles abgeräumt hat oder ein Gewitter war und die Radieschen alle geplatzt sind. Und diese Flexibilität der EVG: das ist was, was es für uns Erzeuger sehr, sehr, angenehm macht."

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Regionalnachrichten | 24. August 2024 | 16:30 Uhr

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