Justiz Wie eine Anwältin aus Erfurt den Wirecard-Prozess erlebt
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22. Juli 2023, 05:00 Uhr
Es ist der größte Wirtschaftsstrafprozess in der deutschen Nachkriegsgeschichte: der Milliardenskandal um den Pleite gegangenen Finanzkonzern Wirecard. Mitten in diesem Mammutverfahren die Erfurter Anwältin Theres Kraußlach. Sie verteidigt Ex-Vorstandsboss Markus Braun. Eine Geschichte über Ehrgeiz, Zweifel und ein großes Ziel.
Es ist ein bitterkalter Tag in München. Seit den frühen Morgenstunden des 8. Dezember vorigen Jahres stehen Dutzende Menschen vor dem Gerichtsgebäude der Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Dort beginnt der Prozess um den mutmaßlichen Milliardenbetrug des pleite gegangenen deutschen Finanzdienstleisters Wirecard. Im Fokus: Markus Braun. Der Mann, der von der Staatsanwaltschaft als Hauptangeklagter für den Wirecard-Skandal verantwortlich gemacht wird.
Dieser kalte Dezembertag in München ist auch für die Erfurter Anwältin Theres Kraußlach nicht irgendein Tag. Es ist einer, der für Ihre berufliche Karriere besonders bleiben wird. Denn die 31-jährige gehört zum vierköpfigen Rechtsanwaltsteam von Braun. Ein Tag, an dem für Theres Kraußlach ein langer Weg beginnt.
Start in die Selbstständigkeit
Acht Monate später - es ist Hochsommer in Erfurt. Die Anwaltskanzlei Kalweit & Kraußlach sitzt unterm Dach. Es ist warm, sehr warm. "Wer hat noch mal die vom Vermieter angebotenen Klimalüfter abgelehnt, weil ihm zu kalt ist?", fragt Katrin Kalweit mit einem Zwinkern in Richtung ihrer Kanzleipartnerin Theres Kraußlach. Dass die beiden Anwältinnen mehr als nur eine professionelle Firmenpartnerschaft verbindet, wird schnell deutlich. Beide teilen die Leidenschaft zur Strafverteidigung, beide haben sich in einer anderen Kanzlei kennengelernt und beide haben im vergangenen Jahr den Entschluss gefasst, sich gemeinsam selbstständig zu machen.
130 Mandate laufen
Gesagt, getan. Seit Januar 2023 gibt es Kalweit & Kraußlach in Erfurt. Über mangelnde Arbeit, so sagen es beide, könnten sie nicht klagen. Jede der beiden Anwältinnen hat um die 130 Mandate laufen. Das bedeute viele Termine, viele Akten und eine gute Büroorganisation. Denn Kalweit & Kraußlach ist keine große Kanzlei mit einer enormen Logistik dahinter. Kraußlach sagt, ein Tag wie dieser sei selten, so beide zusammen in der Kanzlei. Die 44-jährige Kalweit ergänzt: "Wir halten immer Kontakt, informieren uns gegenseitig über den Stand von Verfahren oder quatschen halt mal alles durch."
Ziel: Freispruch für Braun
Und da ist Markus Braun und das Mammutverfahren. Das fordere eine enorme Konzentration und viele Zugfahrten zwischen Erfurt und München, so Kraußlach. Da gehe es Montagabend im Hotel mit einer ersten Strategiebesprechung los. Dann der Prozesstag, in den Pausen ständige Abstimmungen mit Braun, abends Teammeeting für den nächsten Prozesstag. Das öffentliche Gesicht des Verteidigerteams ist Alfred Dierlamm. Er ist ein großer und präsenter Strafverteidiger aus Wiesbaden, ein Staranwalt. Er ist der Leader, der Anführer der Braun-Verteidiger. Mit seinen drei Kollegen und Kolleginnen, darunter der Erfurterin Kraußlach, will er das ultimative Ziel schaffen: Freispruch für Markus Braun.
Verdacht auf Scheingeschäfte bei Wirecard
Eine schwierige Aufgabe. Denn die Vorwürfe gegen Braun wiegen schwer. Nach der Pleite von Wirecard 2020 und seiner Festnahme wird ihm bandenmäßiger Betrug vorgeworfen. Im Kern geht es um den Verdacht, dass Braun und andere Wirecardmanager, die ebenfalls angeklagt sind, Geschäfte erfunden haben sollen. Mit Luftbuchungen sollen sie die Banken, die Börse und die Anleger getäuscht haben. Es geht um knapp zwei Milliarden Euro, die es angeblich nicht gegeben hat.
Braun weist das zurück. Er sagt, die Geschäfte habe es sehr wohl gegeben und damit auch das Geld. Nur hätten andere kriminelle Manager des Konzerns, darunter der flüchtige Jan Marsalek, diese Gelder veruntreut und in die eigene Tasche gewirtschaftet. Der Job von Kraußlach und dem Anwaltsteam besteht darin, in den Terabyte an digitalen Akten die Belege zu finden, die Brauns Verteidigungslinie stützen und ihn entlasten. Aktuell könnte das unter anderem ein Brief von Marsalek sein, der über seinen Anwalt vor wenigen Tagen das Gericht erreicht hat und der laut Medienberichten Brauns Aussagen stützen soll.
Treffen mit Braun in JVA Augsburg
Es war im späten Frühjahr 2022, als Kraußlach über Empfehlung auf eine exklusive Liste von Kandidaten für das Verteidigerteam von Braun gekommen ist. "Schon das war eine große Ehre, überhaupt angefragt zu werden", so die Erfurterin. Doch das sei nur die erste Hürde gewesen. Denn selbstverständlich bestimme der Mandant, in diesem Fall Markus Braun, wer ihn verteidige.
Schon das war eine große Ehre, überhaupt angefragt zu werden.
Zwei Stunden hätten sie in der JVA Augsburg, in der Braun damals in Untersuchungshaft gesessen habe, geredet. Worüber? Das sei Mandantengeheimnis, über das Verteidiger nicht reden. Nur so viel: Es sei ein vertrautes Gespräch gewesen. Dann die Entscheidung von Braun: Kraußlach ist an Bord.
Im Münchner Tunnel
Seitdem die Reisen nach München. "Wenn ich dort bin, dann bin ich wie in einem Tunnel, total fokussiert auf dieses Verfahren", so Kraußlach. In Erfurt läuft zeitgleich der Laden weiter. Kanzleipartnerin Katrin Kalweit bearbeitet ihre Fälle. "Oft kommt der Anruf von Theres auf der Rückfahrt von München", so Kalweit. "Da erzählt sie von den Tagen im Wirecard-Prozess. Das ist wichtig für sie und wir können da gut reden."
Kalweit trägt das Engagement von Kraußlach bei Wirecard voll mit. Da springe sie für Theres auch mal irgendwo ein. Organisiere Termine, versende mal eine Akte ans Gericht oder übernehme einen wichtigen Anruf. "Das geht nur, weil wir uns einfach gut verstehen und auch von der anderen wissen wollen, wie es ihr geht", so Kalweit.
"Verfahren hat meinen Ehrgeiz geweckt"
Wirecard sei ein großes und wichtiges Mandat, besonders da sie inzwischen die Pflichtverteidigerin von Markus Braun sei, sagt Kraußlach. Das bedeute, sollte das Geld für die Wahlverteidiger ausgehen, sind es dann die Pflichtverteidiger, die den Prozess zu Ende bringen müssen. Aber darum gehe es derzeit gar nicht.
"Das ganze Verfahren hat meinen Ehrgeiz geweckt", so Kraußlach. Gab es Zweifel? Na klar habe es die gegeben und auch die innere Frage: Schaffe ich das überhaupt? Aber nach den acht Monaten sei sie sicherer denn je. Und dann gebe es eben dieses große Ziel: der Freispruch für ihren Mandanten.
Auf die Frage, ob sie keine Sorge habe - falls es damit nicht klappt- in ein schwarzes Loch zu fallen, überlegt sie eine Weile. Für einen Moment wirkt es, als habe sich diese Frage so noch nicht für sie gestellt. "Nein", sagt sie dann, denn sie könne mit gutem Gewissen sagen, alles getan zu haben. Aber bis dahin heißt es: nach München in den "Tunnel".
MDR (cfr/lke)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 21. Juli 2023 | 18:00 Uhr