Erfurt Nach 31 Jahren am Gutenberg-Gymnasium: Direktorin Alt geht in Rente

31. Januar 2023, 15:41 Uhr

31 Jahre war Christiane Alt die Schulleiterin des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt. Sie ist wohl Deutschlands bekannteste Schuldirektorin. Die Schule hat sie mit aufgebaut und sie nach ihrer dunkelsten Stunde vertreten. Nun geht sie in Rente und spricht von einer Bildungsmisere in Deutschland.

Christiane Alt ist wohl Deutschlands bekannteste Schuldirektorin. Mit dem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium am 26. April 2002 stand sie mit einem Schlag im Fokus des Weltgeschehens. Ein ehemaliger Schüler, den sie wegen mehrfachen Betrugs der Schule verwiesen hatte, hatte 16 Menschen und sich selbst erschossen. Es war der folgenschwerste Massenmord an einer deutschen Schule. Nach 31 Jahren als Schulleiterin des Gutenberg-Gymnasiums geht Christiane Alt am Dienstag in den Ruhestand.

Corona-Pandemie verhindert Amtswechsel

Die Kisten sind gepackt. Sieben Monate hat Christiane Alt ihren Abschied vorbereitet und dafür Dokumente schreddern oder archivieren lassen. Bei jeder Klasse hat sie sich persönlich verabschiedet. Als verbeamtete Oberstudienrätin hätte sie längst aufhören können, doch dann hat Corona alle Schulen krisengeschüttelt: "Das war ein immenses Paket. Die schnelle Ankündigung von Verordnungen. Allein sie füllen sechs Ordner. Das Testregime, die geteilten Schulklassen. Das war keine Zeit für einen Amtswechsel, das mutet man niemandem zu. Da geht man nicht", sagt Alt.

Nun ist die Schule wieder im einigermaßen ruhigen Fahrwasser angekommen. Nach 45 Jahren im Schuldienst und 31 Jahren am Gutenberg-Gymnasium übergibt sie das Haus an Sebastian Starke. Der 36-Jährige ist seit vier Jahren stellvertretender Schulleiter am Gutenberg-Gymnasium.

Dienstantritt vor 31 Jahren

Alt hat vor 31 Jahren das Gutenberg-Gymnasium mit aufgebaut. Nach der Wende werden die Schulen neu sortiert. Kollegen wählen sie zur Vertrauenslehrerin und drängen sie, sich für eine Schulleiterstelle zu bewerben. Ein Brief mit zwei Zeilen landet bei ihr: "Sie sind vorgesehen mit der Leitung des Gymnasiums 3, Gutenbergstraße. Unsere erste Dienstberatung ist am..., da finden Sie sich bitte ein." Bis dahin hatte sie an einer Plattenbauschule unterrichtet. Als Erfurterin kannte sie die Gutenberg-Schule, hatte das Haus aber noch nie betreten.

Ich war entsetzt, wie das hier aussah.

Christiane Alt über das Gutenberg-Gymnasium zu ihrem Dienstantritt

"Es war marode. Ich war entsetzt, wie das hier aussah. Und in sechs Wochen Sommerferien haben wir es geschafft, aus einer vormaligen polytechnischen Schule ein Gymnasium zu machen. Das war ein Kraftakt, aber hat auch sehr viel Spaß gemacht." Sie unterrichtet Deutsch, Russisch, Englisch und baut eine Theatergruppe auf.

Amoklauf bleibt im Gedächtnis

Eine Schule, in der sie so viele schöne Stunden erlebt hat - und die dunkelsten. Als am 26. April 2002 der Tod ins Gebäude kommt, steht die Schule mit einem Schlag im Fokus der Weltöffentlichkeit. Und sie mit ihr. Ein ehemaliger Schüler, den sie zuvor wegen mehrfachen Betrugs der Schule verwiesen hatte, erschießt 16 Menschen und dann sich selbst.

Christiane Alt erlebt das Blutbad in ihrem Sekretariat, sieht später die erschossenen Kollegen und Kolleginnen. An jede Sekunde dieses grauenvollen Tages erinnert sie sich bis heute. "Aber für voyeuristische oder sensationsgierige Fragen stehe ich bis heute nicht zur Verfügung."

Eiserne Disziplin zum Selbstschutz

Hunderte Interviews hat sie seitdem gegeben - geben müssen, fügt sie an, weil das zum Amt der Schulleiterin dazu gehört. Dabei hat sie gegen Missstände im Bildungssystem gekämpft und mediale Faustschläge ausgehalten. "Manche haben nur darauf gewartet, dass ich zusammenbreche", sagt sie. Doch sie funktionierte. Medial wurde sie nach dem Massenmord teilweise kritisch betrachtet, wurde als zu hart wahrgenommen. Die Mauer, die sie um sich aufbaute, war Selbstschutz. In jungen Jahren hatte sie eine Ballettausbildung erhalten, daher kommt die eiserne Disziplin.

Manche haben nur darauf gewartet, dass ich zusammenbreche.

Christiane Alt

Der Schulleiter vertritt die Schule nach außen, heißt es in der Stellenbeschreibung. Da sei es ja nichts Ungewöhnliches, wenn ein Schulleiter stolz ist, wenn eine Klasse einen Pokal in die Kamera halten kann. "Aber wenn es um so ein furchtbares Geschehen wie den ersten Amoklauf an einer deutschen Schule geht, ist das etwas anderes."

Und dennoch geht sie nach dem 26. April nicht von Bord. "Ich habe vor 31 Jahren Verantwortung für diese Schule übernommen und ich denke, das gilt für die schönen Seiten, aber auch für die ganz schlimmen."

Alt: Bildungssystem gerät immer mehr in Schieflage

Nach der Bluttat kämpft sie mit Schülern, Eltern, Kollegen um den Fortbestand des Gymnasiums. Der Bund gibt zehn Millionen Euro. Das Gebäude wird saniert und umgebaut. Die bauliche Hülle stimmte danach, aber das Bildungssystem gerät ihrer Meinung nach immer mehr in Schieflage.

"Ich weiß, dass ich nach 2002 dem damaligen Bildungsminister ganz klar vermittelt habe, dass wir für die Probleme - und die haben alle Schulen - Sozialarbeiter an den Schulen brauchen, als feste Instanz, als Ansprechpartner für Schüler und als Unterstützung für Eltern und Lehrer. Ich habe seit drei Jahren eine Stelle für Schulsozialarbeit - mehr muss man nicht sagen."

Mit 67 Jahren steigt Alt nun aus ihrem geliebten Beruf aus und zieht zum Ende ein bitteres Fazit. Sie spricht von einer Bildungsmisere in Deutschland von einem "unglaublichen Ausmaß". In den vergangenen 15 Jahren habe sich der Lehrermangel manifestiert.

Die Versuche, dies mit Notfallinstrumentarien wie Seiteneinsteigern in den Griff zu bekommen, seien schwierig. "Das wird die Probleme nicht lösen." Über eine Unterrichtsversorgung für Kinder und Jugendliche sollte man in Deutschland eigentlich nicht reden müssen, kritisiert sie.

"Haben wir in der Corona-Zeit über Digitales gesprochen, gibt es aber auch noch Schulen, da möchten Eltern ihre Kinder nicht hinschicken, weil auch die baulichen Zustände desolat sind. Das sind Zustände, die tun weh." Ihrer Überzeugung nach braucht es eine umfangreiche Analyse und dann ein wirklich großes Programm.

26. April bleibt Gedenktag

Viel verändert habe sich nach dem 26. April 2002 in der Gesellschaft nicht. An den Thüringer Gymnasien gibt es nach der 10. Klasse nun eine Prüfung, damit keiner ohne Abschluss die Schule verlassen muss wie der Amoktäter. Aber nach 20 Jahren steht die Prüfung schon wieder zur Disposition. 13 Lehrer sind inzwischen noch da - die das Geschehen am Gutenberg-Gymnasium vor 21 Jahren miterlebt haben. Manchmal erzählen sie davon, wenn Schüler fragen.

Der Tag ist auch in meinem Leben ein besetzter Tag.

Christiane Alt über den 26. April

Jedes Jahr wird am 26. April vor der Schule der 16 Opfer gedacht. Christiane Alt hat immer die Rede gehalten. Die Notizen hat sie noch. "Wir vergessen die Opfer nicht. Dieser Gedenktag ist eine Haustradition, wird sich im Ritual aber ändern. Der Tag ist auch in meinem Leben ein besetzter Tag. Wie ich ihn jetzt gestalten werde, werden wir sehen."

Für den Ruhestand habe sie noch keine Pläne. "Ich muss erst mal ankommen." Bisher war ihr Leben in 45 Minuten getaktet. "Als ich vor 45 Jahren in den Schuldienst eingestiegen bin, war klar: Von nun an kann ich nur noch in den Schulferien verreisen. Das werde ich jetzt nicht mehr tun." Mehr Privates gibt sie nicht gern preis - nur so viel: Italien liebt sie und ihren kleinen Hund.

MDR (jn)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 31. Januar 2023 | 19:00 Uhr

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