Bildungsforscher Klaus Hurrelmann Interview zum Amoklauf von Erfurt
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26. April 2023, 09:26 Uhr
Es waren nicht einmal 20 Minuten, doch sie veränderten das Leben von Tausenden. Beim Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt starben 17 Menschen. Wie konnte es an jenem 26. April 2002 zu einer solchen Tat kommen und was haben wir daraus gelernt? Was läuft heute anders? Und welche Vorzeichen für solche Taten gibt es möglicher Weise? Ein Gespräch mit dem Berliner Bildungsforscher Klaus Hurrelmann.
Wann war der Amoklauf in Erfurt:
Am 26. April 2002 lief ein ehemaliger Schüler am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt Amok. Der 19-Jährige tötete mit einer Sportwaffe zwölf Lehrerinnen und Lehrer, eine Schülerin und einen Schüler, eine Sekretärin sowie einen Polizisten. Danach tötete er sich selbst. In der Folge erarbeiteten Schulen bundesweit Notfallpläne, das Jugendschutzgesetz und das Waffengesetz wurden verschärft.
Herr Hurrelmann, wie können Sie diese Tat von 2002 erklären?
Zu einer solchen Tat kommt es, wenn ein junger Mann mit seiner eigenen Lebenssituation nicht mehr zurechtkommt. Etwas ganz Schlimmes in der Entwicklungsphase nach der Pubertät ist es, das Gefühl zu haben, ich bin ein Versager. Im Leistungsbereich komme ich nicht zurecht. Aber ich komme auch in anderen sozialen Feldern nicht zurecht. Ich stehe unter Druck, wenn ich Schwierigkeiten mit Lehrerinnen und Lehrern habe oder Schwierigkeiten mit meinen Freunden. Ich kann das nicht aushalten. Ich kann mit solchen Konfliktsituationen nicht umgehen. Ich kann das nicht mit Worten und nicht mit Gesten lösen, sondern ich neige dann zu einer Gewalthandlung. Das sind erlernte Mechanismen.
Da kann das Elternhaus eine große Rolle spielen, weil versäumt wurde zu lernen, wie gehe ich mit Spannungen und Konflikten im Alltag um? Wie reagiere ich darauf? Wie schaffe ich es, ein stabiler Mensch zu bleiben und vor allem auch Rückschläge, Niederlagen, Versagen und Misserfolge auszuhalten. Wenn das alles fehlt und ich das nicht verarbeiten kann, dann verkantet sich das eben bei sehr vielen jungen Männern in der Persönlichkeit und platzt irgendwann raus.
Was wissen wir über die Täter?
In den letzten 20 Jahren hat es mehrere Hundert Fälle weltweit von solchen School-Shootings gegeben, also ganz elementare Gewaltausbrüche an Schulen mit Waffeneinsatz, überwiegend von jungen Männern. Das ist eine Männertat. Frauen machen etwa fünf Prozent davon aus. Es ist unleugbar, dass dahinter eine tiefe Verletzung der eigenen Persönlichkeit steht, die in der Familie, im Umfeld oder in der Schule entstanden sein kann. Die Schule ist oft der letzte Anlass, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Außerdem haben diese Täter offenbar eine psychische Problematik. Der Täter, der mit Waffen in die Schule geht, andere tötet und sich selbst tötet, ist natürlich einer, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Für diesen Moment des Tatablaufes ist er der allmächtige Mensch, der alles steuern kann, vor dem alle Angst haben, um den sich alles dreht. Ein krankes, berauschendes Gefühl. Aber das sind die Mechanismen, in die diese jungen Männer hineingeraten.
Welche Rolle spielen die Medien, die über die Täter berichten?
Das Schlimme an der ganzen Geschichte ist, dass wir alle - und auch viele Medien - dazu neigen, uns auf den Täter zu konzentrieren. Wir wissen, dass viele der Täter in ihr Handlungsmuster mit einpreisen, dass danach eine öffentliche Berichterstattung über ihre Tat erfolgt. Dass ihnen also eine mediale, gesellschaftliche Aufmerksamkeit zukommt, die sie mit ihren bisherigen Mitteln auch nicht nur annäherungsweise herstellen konnten. Das sind fatale Mechanismen. Und über die vielen Dutzend, manchmal Hunderte von Opfern, wird erst viel später, mal gelegentlich gesprochen.
Welche Rolle spielten School-Shootings in Amerika für den Amokläufer in Erfurt?
Die amerikanischen Fälle waren hier sehr stark aufgenommen worden. Wir wissen, dass der Täter von Erfurt das aller Wahrscheinlichkeit nach studiert hat. Und in Deutschland war diese Tat zu dem Zeitpunkt das erste größere Amoklaufereignis, was wir hatten und entsprechend waren alle, auch ich selbst, schockiert zu hören, was da passiert war und unter welchen Umständen die Tat abgelaufen war. Obwohl wir vorgewarnt waren durch die Ereignisse vor allem in amerikanischen High-Schools, die wenig davor stattgefunden hatten. Aber so gesehen hat es uns allen den Boden entzogen. Die Tat hat in Deutschland eine Realität geschaffen, die man vorher nicht für möglich hielt.
Ist es möglich, die Anzeichen für ein School-Shooting im Vorfeld zu erkennen?
Solch eine Tat wird lange vorbereitet, wächst in den jungen Persönlichkeiten heran, baut sich schrittweise auf und irgendwann wird die Entscheidung getroffen, dass man die Tat vollbringt. Man hinterlässt dabei aber auch eine ganze Reihe von Spuren, wie wir inzwischen wissen. Und ja: man könnte die Tat aufhalten. Man könnte auf den Täter eingehen, seine schwierige Situation aufnehmen und ihn von der Tat abbringen. Das ist denkbar, präventive Schritte wären machbar.
Wie kann man solche Taten verhindern?
Wir haben gelernt, wie man diese Gewalttaten eindämmen, vielleicht sogar verhindern kann. Und wir reagieren auch auf sie viel klüger, viel bedachter, sozusagen professioneller, als das vor 20 Jahren der Fall war. Inzwischen haben wir für alle Schulen in Deutschland Leitlinien entwickelt, in denen solche Punkte auch aufgelistet sind: Was sind typische Signale, die ein potentieller Täter von sich gibt? Was sind Spuren, aus denen man ablesen kann, dass eine Straftat geplant wird? Das Wissen ist inzwischen da und wir können annehmen, dass es inzwischen sogar gelingt, einen großen Teil dieser Taten im Vorfeld zu blockieren.
Inwiefern müssen Schulen mit in die Verantwortung genommen werden?
Wenn wir die Erfolge in der Prävention einbetten in den Komplex Schule - das Schulklima, die soziale Kultur in den Schulen, die Qualität des Schullebens - dann ist die Bilanz nicht sehr gut. Da hat sich sehr wenig getan.
Wir wissen seit Jahrzehnten, dass wir in den Schulen ein Risiko eingehen, weil wir ganz stark die Anerkennung eines männlichen oder weiblichen Schülers vom Leistungsstand abhängig machen. Wenn ich also einen guten Leistungsstand habe, dann habe ich eine Chance, dass ich anerkannt werde. Eine Schule, die darauf getrimmt ist, die geht das Risiko ein, dass sie die Persönlichkeit, den ganzen Menschen, der dahinter steht, nicht wahrnimmt. Und das kann kränkend sein. Und es bekennen sich die meisten Gymnasien dazu, dass die Leistungen im Vordergrund stehen und alles andere nebensächlich ist.
Das Bildungssystem in Deutschland ist ja im internationalen Vergleich ganz schlecht finanziert. Wir geben viel weniger Geld für den Schulbetrieb aus als die allermeisten vergleichbaren Länder. Also wir haben große Schwächen des traditionellen Schulsystems. Die Schulen sind nach wie vor überwiegend intellektuelle Trainingsstätten. Die fachliche Bildung steht sehr stark im Vordergrund, die sozialen Verhaltensweisen werden sehr wenig beachtet. Und diese jungen Männer, die zu solchen extremen Taten wie School-Shooting greifen, die spiegeln das wider.
Über die Person Klaus Hurrelmann ist Bildungsforscher in Berlin. Er arbeitet als Professor für Public Health and Eduacation an der Hertie School. Sein Forschungsinteresse gilt dem Bereich Gesundheits- und Bildungspolitik. Er war Gründungsdekan der ersten Fakultät für Gesundheitswissenschaften in Deutschland an der Universität Bielefeld. Dort war er zwölf Jahre als Direktor des Forschungszentrums "Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter" tätig.
Das Interview führte Autor Christoph Peters im Rahmen der Mediatheks-Doku-Serie "AMOK - Erfurt und die Folgen". Der Artikel erschien erstmals 2022.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | AMOK - Erfurt und die Folgen | 24. April 2022 | 22:50 Uhr