Inszeniertes Foto mit Schulkindern, von denen eines die Hände vor den Kopf hält und zwei weitere im Hintergrund tuscheln.
Mobbing und Gewalt an Schulen hat seit der Corona-Pandemie zugenommen. Grundschulen sind besonders betroffen. Bildrechte: IMAGO / Pond5 Images

Erfurt Nach Corona: Mobbing und Gewalt an Schulen nehmen zu

01. Mai 2024, 05:00 Uhr

Seit Schülerinnen und Schüler nach Corona wieder zusammen lernen, ist die Zahl der Fälle von Mobbing und Gewalt gestiegen. In der Statistik der Erfurter Schulen stechen besonders die Grund- und Gemeinschaftsschulen hervor. Die Stadtverwaltung arbeitet an einer Lösung.

587 Fälle von Gewalterfahrung wurden aus Erfurter Grundschulen im vergangenen Schuljahr 2022/23 an das Jugendamt gemeldet. 494 waren es an den Gemeinschaftsschulen, 104 an Gymnasien, 53 an Regelschulen. Hinzu kommen einige Fälle von Mobbing - insgesamt 361, alle Schulformen zusammengenommen. Die Zahlen erreichen das Jugendamt über die Schulsozialarbeiter.

Die Berichte gehen jedes Jahr durch die Hände von Christin Garlik, Fachberaterin für Jugendsozialarbeit in Erfurt. "Wir haben festgestellt, als die Schüler nach Corona wieder zusammen waren, dass sich die Probleme in Bezug auf Gewalt, Konzentrationsfähigkeit und psychische Probleme stark erhöht haben. Die Problemlagen haben quantitativ und qualitativ zugenommen", sagt Garlik.

Eine Frau sitzt im Büro an ihrem Schreibtisch und blickt in die Kamera. Im Hintergrund sind gemalte Bilder und ein Regal mit Ordnern zu sehen.
Christin Garlik arbeitet im Fachbereich Jugendsozialarbeit im Erfurter Jugendamt und hat den Überblick über das Mobbing-Geschehen an den Schulen. Bildrechte: MDR/Anna-Helene Hönig

Corona hat Gruppen durcheinandergebracht

Schulsozialarbeiter Lars Weise hat eine Theorie, warum die Zahlen wieder gestiegen sind: "Dass die Lerngruppen während Corona auseinandergerissen wurden und jetzt wieder zusammengekommen sind, hat Mobbing und Ausgrenzung, die vorher schon da waren, angetrieben". Ursache für Mobbing sei laut Weise, dass es Probleme in der Gruppendynamik gebe, sich keine festen Freundschaften bilden und sich die Emotionen schließlich gegenüber einem "gemeinsamen Feinbild", also einem Mobbingopfer, entladen würden.

Weise arbeitet an einer Gemeinschaftsschule in Erfurt und führt seit über zehn Jahren auch Projekte zur Prävention von Mobbing durch. Seine Kollegin Susanne Hanke arbeitet als Schulsozialarbeiterin an einer Regelschule.

Ihr fällt auf, dass die Emotionen seit Corona schneller hochkochen: "Als die wieder alle zusammengekommen sind, hatte man das Gefühl, die wissen gar nicht wohin mit ihrem Frust. Denen fällt es schwer, Sachen auch mal auszuhalten, wenn ich mal einen Streit mit jemandem habe oder eine Diskussion, dann ist das gleich explodiert".

Als die wieder alle zusammengekommen sind, hatte man das Gefühl, die wissen gar nicht wohin mit ihrem Frust.

Susanne Hanke Schulsozialarbeiterin an einer Erfurter Regelschule

Körperliche Gewalt als einzige Lösung?

Insbesondere sogenannte "Eins-Einser", also Kämpfe Mann gegen Mann oder auch Frau gegen Frau, hätten laut Weise und Hanke zugenommen. Diese Verabredungen zu Prügeleien seien besonders gefährlich, weil sich meistens noch Außenstehende einmischen würden, erklären die Schulsozialarbeiter.

Ein Mann und eine Frau lächeln in die Kamera.
Christin Garlik arbeitet im Fachbereich Jugendsozialarbeit im Erfurter Jugendamt und hat den Überblick über das Mobbing-Geschehen an den Schulen. Bildrechte: MDR/Anna-Helene Hönig

Auch an ihren Schulen hatten sie bereits mit derartigen Situationen zu tun. "Da gehe ich dann wirklich in die Klassen rein und erkläre nochmal, wie sie sich in solchen Situationen verhalten sollen und eben auf gar keinen Fall zu so einem Kampf erscheinen sollen", sagt Lars Weise.

Susanne Hanke ergänzt: "Sich zu beleidigen oder einfach zuzuschlagen ist häufig die einzige Möglichkeit für die Schüler geworden, ihre Konflikte auszutragen." Die betroffenen Schüler würden Mobbing und Gewalt auch sehr lange ertragen, bevor sie sich Hilfe suchen würden. "Oft kommen sie erst, wenn sie es gar nicht mehr aushalten", sagt Weise. Auch vor den Eltern würden viele verschweigen, wenn sie gemobbt werden - aus Scham, erklärt der Schulsozialarbeiter.

Beleidigungen sind Alltag

An den Berufsschulen ist die Situation etwas entspannter, berichtet Silke König-Feest, ebenfalls Schulsozialarbeiterin. Das liege vermutlich daran, dass die Schüler dort schon ihre Schullaufbahn hinter sich hätten und etwas gefestigter in ihrer Persönlichkeit seien, so König-Feest.

Allerdings seien auch hier Beleidigungen an der Tagesordnung: "Wenn man die Schüler darauf anspricht, sagen sie, dass es doch normal sei, sich so zu bezeichnen oder auch eine Kraftsprache und sie sich dadurch stark fühlen", sagt die Schulsozialarbeiterin.

Mobbing beginnt schon in der Grundschule

"In der dritten und vierten Klasse fängt es meistens schon an mit dem Mobbing - und das geht da schon über kleine Hänseleien hinaus", sagt Weise. Die "Opfer-Rolle" würden die betroffenen Schüler dann auch in die weiterführenden Schulen mitnehmen. "Die Klassen sind sehr heterogen, dann kommen noch mehrere Schulwechsel dazu, da ist es schwierig, dass sich eine Klassengemeinschaft bildet", erklärt Lars Weise.

Rechtzeitig den Klassenzusammenhalt stärken

Doch wie kann man gegensteuern? Laut Weise müsse man vor allem den Klassenzusammenhalt stärken - und das bereits in der Grundschule. Spiele, Aktionen, Projekttage, Ausflüge - Weise hat ein großes Repertoire, wenn er mit Klassen arbeitet. "Aber das muss kontinuierlich immer wieder stattfinden, nicht nur einmal zum Schuljahresanfang", sagt der Schulsozialarbeiter.

Aber das muss kontinuierlich immer wieder stattfinden, nicht nur einmal zum Schuljahresanfang.

Lars Weise Sozialarbeiter

Es gebe viele Möglichkeiten, das auch in den Unterrichtsalltag zu integrieren - da müsse keine Stunde ausfallen, so Weise.

Mobbingprävention aus dem Katalog

Präventionsangebote wie Projekttage gegen Mobbing gibt es viele. Abgerufen werden diese von den Schulen aber nur sporadisch, wie eine Auflistung aus der Stadtverwaltung zeigt. "Wir vermuten, dass die Projekte erst an den Schulen durchgeführt werden, wenn es dort auch große Probleme mit Mobbing gibt", sagt SPD-Stadtrat Stefan Schade.

Er hat sich zusammen mit dem Erfurter Schülerparlament in einer Arbeitsgruppe damit beschäftigt, was gegen die Mobbingfälle getan werden kann. Das Ergebnis: Ein Maßnahmenkatalog soll entstehen.

Ein Mann sitzt mit zwei Schülern an einem Tisch.
Christin Garlik arbeitet im Fachbereich Jugendsozialarbeit im Erfurter Jugendamt und hat den Überblick über das Mobbing-Geschehen an den Schulen. Bildrechte: MDR/Anna-Helene Hönig

"Wir haben festgestellt, dass wir als Arbeitsgruppe das Problem nicht lösen können. Deshalb möchten wir, dass sich Schulsozialarbeiter, Projektanbieter und Jugendamt - alle Beteiligten an einen Tisch setzen" erklärt Tobias Riemer aus dem Vorstand des Schülerparlaments.

Mit dem Katalog sollen die Beteiligten dann einen Überblick über die Angebote gegen Mobbing schaffen und neue Wege ergründen, so Riemer. Dadurch erhofft sich das Schülerparlament, dass die Schulen die Angebote mehr nutzen. Der Stadtrat hat Ende März die nötigen finanziellen Mittel für den Maßnahmenkatalog bereitgestellt - bis zum Sommer soll er vorliegen.

Überlastete Lehrer in der Verantwortung?

Christin Garlik vom Jugendamt wird auch an dem Katalog mitarbeiten. Sie sieht die Probleme unter den Schülern aber eher als Resultat der überlasteten Schulen. "Durch den erhöhten Personalmangel an Schulen gehen viele Dinge einfach unter. Die Lehrer sind überlastet und die Schulsozialarbeit kann nicht alle Probleme, die an Schule entstehen, auffangen", sagt Garlik.

Die Schulsozialarbeiter merken an, dass vor allem die Lehrer geschult werden müssten, Mobbing-Dynamiken in der Klasse frühzeitig zu erkennen und Haltung zu zeigen, da sie am nächsten an den Schülern dran seien. "Die Lehrer brauchen aber auch die nötigen Zeiträume dafür", sagt Lars Weise. Und daran mangelt es nach seiner Erfahrung angesichts der vollgepackten Stundenpläne. "Und die Schulen sollten dann nicht denken, dass die Probleme mit einem oder zwei Projekttagen erledigt sind", sagt Susanne Hanke.

Die Schulen sollten dann nicht denken, dass die Probleme mit einem oder zwei Projekttagen erledigt sind.

Susanne Hanke Sozialarbeiterin

Der Maßnahmenkatalog gegen Mobbing für Erfurter Schulen kann also nur ein Anfang sein, das Problem anzugehen. Um Mobbing und Gewalt auf Dauer aus den Schulen zu verbannen, braucht es eine gute Zusammenarbeit zwischen Lehrern, Schulsozialarbeitern und Schülern - und das möglichst schon im Grundschulalter und möglichst kontinuierlich.

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Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 30. April 2024 | 18:00 Uhr

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