Drei Zahnärzte blicken in die Kamera
Die Zahnarzt-Familie Senf aus Ohrdruf. Bildrechte: MDR/David Straub

Gesundheitsversorgung Jackpot Arzttermin: Warum es für Patienten in Thüringen so schwierig ist

25. November 2024, 19:11 Uhr

Wer in Thüringen einen Termin beim Haut- oder Zahnarzt sucht, muss viel Geduld mitbringen - oder Glück haben. Von einem Platz für eine Psychotherapie ganz zu schweigen. Viele Patienten nehmen außerdem weite Wege auf sich. Warum ist das eigentlich so?

David Straub schaut in die Kamera.
Bildrechte: Privat

Freitagmittag entspannt sich Familie Senf langsam. Eine weitere Woche mit Sprechzeiten, Zahnbehandlungen und Schmerzpatienten liegt hinter ihnen.

Bis zu 2.500 Patienten aus Ohrdruf und Umgebung versorgen Christiane, Frank und Sohn Julian hier im ländlich geprägten Westthüringen jährlich. Insgesamt sind es etwa 4.000 Termine. "Der Druck ist größer geworden", sagt Frank Senf, der die Praxis seit 1992 führt.

Zwei von sechs Zahnärzten hätten in den vergangenen Jahren in Ohrdruf aufgehört - ein weiterer in der Nachbargemeinde. Eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger hätte keiner gefunden.

Relativ kurze Wartezeit dank gut besetzter Praxis

Sowohl für die Praxis der Familie Senf, als auch für die Patienten selbst war es ein Glücksfall, dass Sohn Julian 2019 als angestellter Arzt mit dazukam. "Die meisten neuen Patienten sind dann erst einmal zu mir gekommen", erzählt Julian. "Wir merken trotzdem: Unsere Taktung wird straffer - ich habe das Gefühl, jedes Jahr ein bisschen mehr."

Jeder Schmerzpatient wird bei ihnen behandelt, niemand weggeschickt, betont Christiane Senf, "aber wir haben uns entschieden, in diesem vierten Quartal erstmal keine neuen Patienten aufzunehmen". Mal sehen, wie es im kommenden Jahr läuft.

Im Schnitt haben sie hier 15 Minuten pro Patient Zeit. Auf einen Termin wartet man als Bestandspatient in ruhigeren Sommermonaten zwei Wochen - im stressigeren Winter bis zu vier, sagen die Senfs.

Ich muss jeden Patienten versorgen.

Frank Senf Zahnarzt in Ohrdruf

Würde es ihnen das Leben nicht erleichtern, wenn sie einfach Leistungen anbieten, die über die absolut notwendige medizinische Versorgung hinausgehen - dafür aber mehr Geld bringen? Frank Senf winkt ab. Er beruft sich auf seine DDR-Erziehung, findet das "Selektieren von Patienten aus ökonomischen Gründen falsch" und dem "Ethos des Berufs widersprechend". "Ich muss jeden Patienten versorgen. Es ist mir egal, aus welchem sozialen Milieu er stammt, aus welchem finanziellen Sektor."

Die Taktung hinterlässt Spuren. Und führt nicht dazu, dass das Ehepaar Senf die nicht allzu ferne Rente weiter aufschieben möchte. "Es ist so", sagt Frank Senf, "dass wir öfters in der Woche auch mal zur Schmerztablette greifen, um Rückenschmerzen auszublenden und das zu stemmen".

Hautärzte aus Jena "überlastet und ausgelaugt"

Auch Christine Zollmanns Leben ist eng getaktet. Ist man mit der Hautärztin aus Jena im E-Mail-Austausch, bekommt man ihre Antwort auch mal um 6 Uhr morgens. Und: "Den Computer mache ich abends um 20 Uhr aus", erzählt sie am Telefon. "Am Wochenende geht außerdem immer ein Tag für den Bürokram drauf." Sie verdienen als Ärzte gut - klar, sagt die Dermatologin, aber: "Wir sind alle so überlastet und ausgelaugt."

In Zollmanns Haut- und Venenpraxis arbeiten zehn weitere Ärztinnen und Ärzte - dafür teilen sie sich sechs Kassensitze. Viel zu wenig, klagt Zollmann. Sie könnten natürlich mehr "Schönheits-Sachen" machen - Lasern oder das Gesicht unterspritzen zum Beispiel - "wie das viele West-Kollegen leider vielleicht auch aus Frust machen", sagt sie.

"Aber das machen wir nicht, weil wir die Mentalität haben, dass wir Kranke behandeln wollen." Gäbe es mehr Kassensitze und dadurch auch mehr Hautärzte, würde das die Situation für wartende Patienten und die Ärzte entspannen.

Hohe Patientenmigration in Thüringen

Im ersten Quartal 2024 haben Zollmann und ihre Kollegen in Jena 9.500 Termine vergeben und abgearbeitet. Pro Praxistag sind das etwa 150 Termine. Bemerkenswert ist, dass die Praxis nicht nur fast ganz Jena abdeckt: "40 Prozent kommen aus anderen Regionen - im Gegensatz zu den 60 Prozent aus Jena und der nahen Umgebung."

40 Prozent von außerhalb ist sehr viel, sagt die Hausärztin, "weil unsere Patienten natürlich schimpfen, wenn sie keinen Termin bekommen. Aber ich kann eine Patientin aus Gotha, die Hautkrebs hat, nicht abweisen. Wenn ich weiß, dass sie bei ihrem Hautarzt erst einen Termin in einem halben Jahr bekommt."

Wir versuchen irgendwie, denen zu helfen.

Christine Zollmann Hautärztin in Jena

Immer wieder kommen Patienten mit verschlepptem Hautkrebs, weil Kollegen in einer Einzelpraxis nicht so viel schafften wie Zollmann in ihrer Gemeinschaftspraxis. "Wir versuchen irgendwie, denen zu helfen. Es ist ganz extrem und ganz schlimm."

Termin ist nicht Termin

Allerdings ist Termin auch nicht gleich Termin: Von den 9.500 Kassen-Behandlungen im ersten Quartal 2024 kam nur ein Teil der Patienten mit einem vorher vereinbarten Termin in Zollmanns Praxis. 3.500 davon waren Akutbehandlungen, also Patienten, die keinen Termin hatten. "Das zehrt an den Kräften!", so die Dermatologin.

Bei den 3.500 waren auch 374 Termine dabei, die über den Terminservice der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen (KVT) zustande gekommen sind. "Wir stellen da jeden Tag so sechs bis acht Termine rein und die sind immer ausgebucht."

Aufklappen: So funktioniert der Terminservice der KVT

Über den Terminservice der KVT haben Patienten die Garantie, innerhalb von vier Wochen einen Facharzttermin zu bekommen - sofern sie eine entsprechende Hausarztüberweisung mit einem Code vorweisen können.

Kassenpatienten bei Privatpraxis

Die Not bei der Facharztsuche ist so groß, dass manche gesetzlich Versicherte auch extra Geld investieren: In Erfurt beispielsweise berichten Patienten von einer Privatpraxis, die einen Termin zur Hautkrebsvorsorge innerhalb weniger Tage ermöglicht, wenn man alles selbst zahlt. Die Praxis wollte sich auf MDR-Anfrage nicht äußern.

Annette Rommel, Vorsitzende der KVT, kritisiert solches Vorgehen. Eine Privatpraxis kann die KVT nicht belangen. Kommt so etwas bei einer gesetzlichen Praxis vor, "wird so etwas sofort geahndet. Das ist also absolut kriminell in meinen Augen und in der vertragsärztlichen Versorgung absolut verboten."

KVT nennt mehrere Gründe für Terminmangel

Generell beobachtet die KVT, dass sich die Lage für auf einen Arzttermin wartende Patienten "eindeutig" verschärft hat. Während Christine Zollmann aus Jena mehr Kassensitze fordert, um die Terminlage zu entspannen, sagt KVT-Chefin Rommel: "Von einem Ärztemangel allein können wir nicht reden." Es gebe verschiedene Gründe.

Bei den Hautärzten, so Rommel, sind etwa momentan gar nicht alle verfügbaren Kassensitze in Thüringen besetzt. "Das liegt unter anderem daran, dass wir nicht so viele Weiterbildungsstellen für die Hautärzte haben."

Außerdem gibt es durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt immer mehr Erkrankungen, die man erkennen und behandeln kann, sagt die Ärztin. "Eine Hautärztin sagte mir letztens: Wir erleben gerade einen Tsunami des Hautkrebses." Rommel zufolge ist diese erhöhte Krankheitslast gepaart mit einer alternden Bevölkerung in Thüringen der Hauptgrund für den Mangel an Terminen bei Hautärzten.

KVT: Mehr Psychotherapeuten "schwierig"

Ähnlich prekär wie bei den Hautärzten ist Rommel zufolge der Mangel bei den Augenärzten. "Heute operieren viele Augenärzte", sagt Annette Rommel, "und das bildet sich nicht in der aktuellen Bedarfsplanung ab." Während die Lage bei den Neurologen ebenfalls schwierig sei, verteidigt die KVT-Chefin die Zahl der praktizierenden Psychotherapeuten:

"Hier haben wir 450 Stellen in Thüringen" - die zweithöchste nach den Hausärzten. Nicht jeder, der eine Therapie wolle, brauche diese auch wirklich. "Die Kapazitäten können wir da nicht unendlich erhöhen. Wir haben auch nur begrenzte Mittel, und das ist schon schwierig."

Ausklappen: Wer vergibt die Kassensitze für Psychotherapeuten?

Gerade die Kassensitze für niedergelassene Psychotherapeutinnen und -Therapeuten sind in Thüringen umkämpft. Sie werden von der KVT vergeben. Wie viele Sitze es insgesamt gibt, richtet sich nach der Bedarfsplanung des "Gemeinsamen Bundesausschusses", der zuletzt im Herbst 2024 aktualisiert wurde.

Die KVT führt wiederum eine "Praxisbörse", in der Nachfolger oder freiwerdende Sitze zu finden sind.

Quellen: KVT, Gemeinsamer Bundesausschuss

Generell hängt die Terminverfügbarkeit laut KVT stark von der Region ab. "Es gibt einige Regionen, in denen die Nachfrage nach Terminen das Angebot spürbar übersteigt." Ob die Versorgung mit Fachärzten in der Stadt besser als in ländlicheren Regionen ist, lässt sich pauschal aber nicht sagen, so Annette Rommel. Natürlich ist es "erstmal schwieriger", junge Ärztinnen und Ärzte nach der Ausbildung für die Arbeit auf dem Land zu gewinnen.

"Aber es kann funktionieren. Es müssen bestimmte Voraussetzungen da sein, wie die passenden Räumlichkeiten, die langfristige Bindung der jungen Kollegen durch die passende Weiterbildung in den Praxen und gute Umfeld-Bedingungen für die Partner und Kinder."

Analoges Schlange-Stehen oder digitale Terminvergabe?

Und noch einen Faktor dürfte es geben: die Terminvergabe. Anfang November kochte auf dem Erfurter Fischmarkt der Patientenfrust hoch: Eine Internisten-Praxis hatte zum vierteljährlichen (und analogen) Terminvergabetag geladen. Jung und Alt standen Schlange.

"Für mich ist sowas nicht das Mittel der Wahl", sagt KVT-Chefin Rommel. Die "tollen Kollegen" hätten sicherlich aus der Not heraus gehandelt, da die laufende Terminvergabe im Tagesgeschäft viele Kräfte bindet.

Auch Christin Zollmann aus Jena sieht das so. Ihre Praxis vergibt deshalb zwar ebenfalls einmal im Quartal Termine zu einer vorher bekannten Uhrzeit. Die Praxis setzt aber auf ein digitales Terminbuchungssystem. Patienten und Hausärzte können zusätzlich per Videosprechstunde unkompliziertere Untersuchungen und schnelleren Rat erhalten.

Beides erleichtert den Praxisalltag sehr, so Zollmann. Durch die digitale Terminbuchung wird das Personal bei der Anmeldung entlastet. Und auch für sie als Ärztin spart es Zeit, "wenn alles gut online vorbereitet ist" - sprich, wenn die Patienten etwa im Vorhinein den digitalen und umfangreichen Fragebogen ausgefüllt haben.

Zukunft für Zahnarztpraxis in Ohrdruf noch unklar

Die eierlegende Wollmilchsau für Ärzte und Patientinnen dürfte aber auch die digitale Terminvergabe nicht sein. Für Julian Senf in Ohrdruf ist klar: Wenn seine Eltern in Rente gehen, "ist mein Wunsch, dass ich das nicht allein mache." Senf braucht dann Mitstreiter. "Aber sollte es so kommen, dass ich niemanden finde, dann geht es nur durch Reduktion von Patientenzahlen."

Senf fordert daher vor allem mehr Studienplätze und Weiterbildungsmöglichkeiten für Zahnärzte. Und kritisiert auch die Thüringer Förderpolitik von Jung-Ärzten, die sich niederlassen wollen.

Dann geht es nur durch Reduktion von Patientenzahlen.

Julian Senf Zahnarzt in Ohrdruf

So hat die bisherige rot-rot-grüne Landesregierung im Februar eine Richtlinie vorgestellt, um "Niederlassungen im ländlichen Raum" mit jeweils bis zu 40.000 Euro zu fördern. "Aber mit der Einschränkung, dass es bei Praxisübernahme durch einen Familienangehörigen ersten Grades - so wie bei uns - nicht greifen würde." Als er diese Fußnote in der Richtlinie sah, so sagt es Julian Senf, fühlte er sich betrogen.

Jenaer Hautärztin: "Leistungsgrenze" erreicht

Sowohl die Senfs in Ohrdruf, als auch Christine Zollmann und ihre Kollegen arbeiten mit Leidenschaft in ihrem Beruf. Sie wollen die Dermatologie aufrechterhalten, sagt die Jenaer Dermatologin Zollmann. Erwarten dafür aber auch den nötigen Respekt:

"Wir arbeiten wirklich alle sehr an unserer Leistungsgrenze. Aber manchmal ist man dann schon auch frustriert, wenn Patienten einfach nicht verstehen, warum sie warten müssen. Wenn sie schon unbestellt das Glück haben, bei uns dranzukommen."

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 22. November 2024 | 06:00 Uhr

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