Koalitionsvertrag Worauf sich die Brombeer-Koalition in Thüringen geeinigt hat
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22. November 2024, 20:23 Uhr
Es wird wohl die erste sogenannte Brombeer-Koalition in Deutschland: Am Freitag haben die Spitzen von CDU, BSW und SPD in Erfurt ihren Koalitionsvertrag für Thüringen vorgestellt. Das letzte Wort haben die Parteigremien. Schwerpunkte liegen etwa auf Bildungs-, Gesundheits- und Asylpolitik.
Knapp drei Monate nach der Landtagswahl haben sich die drei angehenden Regierungsparteien - CDU, SPD und BSW - auf einen Koalitionsvertrag geeinigt und ihn am Freitag im Thüringer Landtag vorgestellt. "Uns ist ein guter Aufbruch gelungen, der das Leben der Thüringer spürbar verbessern wird", erklärten die drei Partner vorab. Auf 126 Seiten skizzieren sie Grundlinien der geplanten Zusammenarbeit.
Voigt: Praxen maximal 20 Minuten entfernt
"Wir stellen heute das Fundament für eine neue, handlungsfähige Regierung vor, das die Bürger im Mittelpunkt hat", sagte CDU-Chef Mario Voigt. Im Fokus der gemeinsamen Brombeer-Koalition solle stehen, weniger Asylbewerber aufzunehmen, die Ärztequote zu erhöhen, Bildung zu fördern, Wirtschaft und Arbeitsplätze zu sichern.
Die Bildungspolitik soll durch ein Maßnahmenpaket "Unterricht statt Ausfall" geprägt werden. Gesundheitsvorsorge solle wieder flächendeckend existieren - Praxen sollen "maximal 20 Minuten entfernt" sein, kündigte Voigt an. Außerdem solle "Thüringen ein digitales Vorzeigeland" werden. Der Freistaat solle nicht mehr als politischer Problemfall gelten, so Voigt.
Thüringen soll weniger Asylbewerber aufnehmen Im Koalitionsvertrag fordern die drei Parteien einen "Richtungswechsel in der Migrationspolitik" und kündigen eine Landesausländerbehörde an, die Aufnahme, Anerkennung von Berufsabschlüssen, Integration und Abschiebungen bündeln soll. "Wer keinen Schutzgrund hat, über seine Identität täuscht oder sich nicht an Regeln hält, insbesondere Straftaten begeht, muss unser Land wieder verlassen", heißt es in dem Papier. Außerdem unterstütze man die EU-Asylreform. "Nur Personen mit Bleibeperspektive sollen in die Mitgliedstaaten gebracht werden", steht im Vertrag sowie: "Wir werden die irreguläre Einreise nach Deutschland reduzieren."
Wolf: Friedensbildung an der Schule
Thüringens BSW-Chefin Katja Wolf sagte, sie sei stolz auf den ausgehandelten Vertrag und betonte dennoch die Unterschiede, die sich während der Koalitionsverhandlungen gezeigt hätten. Für die letzliche Formulierung zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland, sei Wolf "dankbar". Im Koalitionsvertrag heißt es: "Eine Stationierung und deren Verwendung ohne deutsche Mitsprache sehen wir kritisch."
Wolf sagte außerdem: "Wir wollen die Friedensbildung bereits an den Schulen stärker in den Fokus nehmen und eine Schule, die nicht werben muss für den Kriegsdienst." Darüber hinaus sprach die BSW-Politikerin die Wirtschaftspläne der drei Partner an: "Wir brauchen dringend ein Investitionsprogramm im Bereich der Infrastruktur und des Wohnungsbaus."
Maier: Kostenloses Mittagessen für Kinder
SPD-Chef Georg Maier bezeichnete den ausgearbeiteten Koalitionsvertrag ebenfalls als Grundlage einer "handlungsfähigen Regierung" in Zeiten "großer Herausforderungen für Thüringen". Vor dem Hintergrund des Geburtenrückgangs in Thüringen sagte Maier, es sei wichtig, dass den Menschen Mut für ihre Zukunft gemacht werde. Seine Partei wolle dafür sorgen, dass Thüringen eines der familienfreundlichsten Bundesländer werde. Dazu soll laut Koalitionsvertrag ein kostenloses Mittagessen für Kinder und beitragsfreie Hort-Zeit beitragen.
Menschen, die Angehörige pflegen, sollen laut Maier künftig entlastet werden, indem beispielsweise Eigenbeiträge für Pflegeheime sinken sollen. Eine weitere Idee sei, pflegende Angehörige in einem Modellprojekt anzustellen und ihnen ein Gehalt zu zahlen: "Wir müssen kreativ sein", so Maier. SPD und BSW betonten die Einhaltung der Schuldenbremse, Maier sagte jedoch auch, das sei kein Geheimnis sei, dass er "davon nichts halte".
Wir müssen die AfD von der Macht fernhalten, das erwarten unsere Wählerinnen und Wähler auch von uns.
Eine Zusammenarbeit mit der AfD schloss Maier aus. "Wir müssen auf die demokratischen Oppositionsparteien zugehen, das ist insbesondere die Linkspartei." Wie die wechselnden Mehrheiten mit Zustimmung der AfD gesichert vermieden werden sollen, konnte Maier nicht genau erklären. "Wir müssen die AfD von der Macht fernhalten, das erwarten unsere Wählerinnen und Wähler auch von uns", so Maier.
Zahl der Ministerien steht fest Zur Vergabe der Ministerien sagte CDU-Chef Voigt, dass sich die drei Parteien auf eine inhaltliche Aufteilung noch einigen müssten. Fest stehe jedoch, dass die SPD zwei Ministerien erhalten soll, das BSW drei und die CDU neben dem Amt des Ministerpräsidenten vier.
Schütz: Kinder sollen auch analog lernen
Steffen Schütz, Co-Vorsitzender des Thüringer BSW, kündigte an, die Digitalisierung vorantreiben und Bürokratie abbauen zu wollen - das gelte insbesondere für die Rentenabwicklung. Zur Digitalisierung sagte Schütz, dass Kinder trotz Fortschritts die Kinder in Schulen nach wie vor auch analog lernen sollen.
Kontroverse um Frieden in der Präambel
Die Koalitionsgespräche drohten vorab zu scheitern, nachdem Bundes-BSW-Chefin Sarah Wagenknecht mehrfach Forderungen zur Friedenspolitik in Form der Friedenspräambel gestellt hatte. Folge von Wagenknechts Intervention war ein Machtkampf zwischen ihr und Thüringens Parteichefin Katja Wolf - die letztendlich das letzte Wort zur Parteilinie auf Länderebene hatte.
Im vorgestellten Koalitionsvertrag ist nun nicht die von Wagenknecht gewünschte Version enthalten. Wagenknecht selbst sagte dazu vor der Vorstellung des Koalitionsvertrages dennoch: "Auf dieser Grundlage ist für uns eine Regierungsbeteiligung möglich und sinnvoll." In der Präambel betonen die sogenannten Brombeer-Parteien zwar die außenpolitischen Unterschiede zwischen BSW auf der einen und CDU und SPD auf der anderen Seite im Kontext des Ukraine-Kriegs, formulieren jedoch auch den gemeinsamen Wunsch nach einer "diplomatischen Initiative, [um] den von Russland gegen die Ukraine entfesselten Angriffskrieg zu beenden".
Koalitionsvertrag Grundlage für Ministerpräsidentenwahl
In dieser Woche nun wurde die Arbeit am Koalitionsvertrag abgeschlossen. Nach der öffentlichen Präsentation durch die Spitzenvertreter Mario Voigt (CDU), Katja Wolf (BSW) und Georg Maier (SPD) am Freitag müssen die drei Parteien dem Koalitionsvertrag noch zustimmen. Das soll im Rahmen von Parteigremien passieren. Ziel ist es, auf Grundlage des neu ausgehandelten Koalitionsvertrags, im Dezember im Landtag einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen.
Derzeit wird davon ausgegangen, dass Mario Voigt (CDU) neuer Regierungschef Thüringens wird. Der Brombeer-Koalition unter seiner Leitung steht eine schwierige Mehrheitsfindung während der achten Legislaturperiode bevor: Die drei Parteien haben gemeinsam 44 von 88 Sitzen und sind damit für Entscheidungen immer auf mindestens eine Stimme aus der Opposition angewiesen - also aus Linke oder AfD.
Warum eigentlich "Brombeer-Koalition?" Ende August schrieb der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte einen Gastbeitrag in der "Zeit" und mutmaßte in der Überschrift: "Vielleicht wird's ja eine Brombeer-Koalition." Höchstwahrscheinlich war das die Geburtsstunde des Begriffs. Spätestens seit der Thüringer Landtagswahl am 1. September hat er sich als Bezeichnung für eine mögliche Regierung aus CDU, BSW und SPD etabliert. Die Farben der Parteien (Rot, Lila, Schwarz) zielen auf die Frucht in ihren unterschiedlichen Reifegraden ab.
"Brombeere" verspiele die Zukunft Thüringens
Die Linke nennt den vorgestellten Vertrag "alten Wein in neuen Schläuchen" mit bewährten Ideen der rot-rot-grünen Regierungsjahre. Andererseits setze die "Brombeere" nicht auf Bewährtes, sondern so wörtlich "Uraltes" und verspiele die Zukunft Thüringens. Die Linke bezieht sich damit auf die Bildung, die auf Selektion, Fleiß und Ordnung setze.
Auch kritisiert die Linke den "Kurs des enggeschnallten Finanz-Gürtels", gebraucht werde eine Investitionsoffensive. Weiter heißt es, die künftigen Koalitionäre schienen nicht zu verstehen, dass sie für die Vorhaben keine Mehrheit besitzt. Für die Vorhaben im Bereich Migration könne sich CDU, SPD und BSW Mehrheiten mit der AfD holen, nicht aber mit der Linken.
Heftige Kritik von SPD-Jugendverband
Heftige Kritik kommt auch vom Thüringer SPD-Jugendverband. Die Koalition habe keine eigene Mehrheit, diese Realität könnten auch 126 Text nicht verändern. "Offensichtlich kann Georg Maier nicht rechnen, wenn er von einer stabilen Regierung für Thüringen spricht", hieß es wörtlich.
Mit dem Eintritt in die Brombeer-Koalition würde die Thüringer SPD gegen die Beschlusslage der eigenen Partei verstoßen. Außerdem schleife der Vertrag die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von Geflüchteten. Der Stopp der Verteilung von Asylbewerbern auf die Kommunen komme einem "Thüringer Abschiebelager" gleich. Laut Juso-Landesvorstand geht es in der Bildungspolitik zurück in die Neunziger.
AfD bietet sich für Mehrheiten an
Stefan Möller, Landessprecher der AfD, sagte MDR THÜRINGEN, man wolle sich Gesetzesvorlagen, die auch im eigenen Sinne sind, nicht verschließen und könnte so im Parlament für eine nötige Mehrheit sorgen. Allerdings nehme die AfD auch eine starke Abneigung wahr. Ob es gelinge, nur mit der Linken Vorhaben durchzubringen, sei zweifelhaft. Das zeige auch der Zuspruch für CDU und AfD bei der Landtagswahl. Ein Suchen der Mehrheiten ausschließlich bei den Linken werde die Wähler enttäuschen.
FDP bezeichnet außenpolitische Klausel als "lächerlich".
Von der Thüringer FDP heißt es der Vertrag sei geprägt von kurzfristigen Kompromissen, die die Koalition zusammenhalten sollen, welche weder zusammenpasst noch -gehört. Widersprüchlich sei das Vorhaben, Deutschförderklassen für Kinder mit fehlenden Sprachkompetenzen einzuführen und gleichzeitig den Unterrichtsausfall zu reduzieren. Die außenpolitische Klausel bezeichnete die FDP als so wörtlich "lächerlich".
Grüne kritisieren fehlende Antworten auf wichtige Fragen
Die Grünen kritisierten, im Vertrag fehlten Antworten auf wichtige Fragen wie die Klimakrise, das historische Geburtentief und der Kampf gegen Rechtsextremismus. Letzterer sei von CDU, SPD und BSW nicht mal als Problem identifiziert worden. Es sei unlauter, den Menschen vorzugaukeln, Thüringen könne etwas gegen die "irreguläre Einreise nach Deutschland" tun. Ideen zur Integration vor Ort fehlen demnach.
Thüringer Wirtschaft zuversichtlich
Die Wirtschaft zeigte sich zuversichtlich. Der Vertrag der Brombeer-Koalition gebe wichtige Impulse für die regionale Wirtschaft, sagte der Präsident der IHK Erfurt, Dieter Bauhaus. An vielen Stellen seien Forderungen der Wirtschaft abgebildet und ein Miteinander von Politik und Wirtschaft verankert. Bauhaus sprach sich für eine zügige und stabile Regierungsbildung aus. Zudem sei es für die Wirtschaft entscheidend, wie effizient die angekündigten Pakete nun umgesetzt würden. Die Thüringer Wirtschaft brauche Klarheit, Tempo und Verlässlichkeit. Da müsse sich die Koalition erst noch beweisen.
Der Thüringer Verband der Familienunternehmer sprach von einem Vertrag, der von Kompromissen geprägt sei. Dennoch enthalte er Verbesserungen zur rot-rot-grünen Minderheitsregierung der letzten Jahre. Jetzt komme es darauf an, mit den zielführenden Punkten zu arbeiten und in Thüringen Wachstum zu ermöglichen, sagte Antje Blumentritt.
Gewerkschaftsbund und Landessportbund reagieren positiv
Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßte nach eigenen Angaben, dass "gute Arbeit und Tariflöhne als Ziel der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik klar benannt werden". Auch das Bekenntnis zur Energiewende begrüßt der DGB. Beim Bildungsteil gab es Kritik, dort sei die Finanzierung an vielen Stellen unklar.
Der Landessportbund reagierte positiv auf den Koalitionsvertrag und darauf, dass die Sanierung von Sportstätten dort klar benannt werde. Kritik übte der Verband unter anderem an fehlender finanzieller Förderung von Assistenzleistungen für Ehrenamtliche und Sportler.
MDR (ost/jn/cfr)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 22. November 2024 | 19:00 Uhr
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