Die beiden Geschäftsführer vom Bauunternehmen MTT Hoch- und Tiefbau aus Münchenbernsdorf im Kreis Greiz: Stefan Werber und Mike Roßmann (rechts).
Die beiden Geschäftsführer vom Bauunternehmen MTT Hoch- und Tiefbau aus Münchenbernsdorf im Kreis Greiz: Stefan Werber (links) und Mike Roßmann. Bildrechte: MDR/Robert Mailbeck

Demografie Rentenwelle rollt auf Thüringen zu: Was Unternehmen dagegen tun

25. November 2024, 20:34 Uhr

Viele Unternehmen suchen Fachkräfte. Doch wartet auf sie bereits das nächste Problem. Tausende Thüringer gehen in den nächsten Jahren in Rente. Wie gehen Unternehmen damit um, was können sie tun? Die Firmen reagieren unterschiedlich. Vielen Betrieben ist laut einem Experten das Problem oft noch gar nicht richtig bewusst.

"Manchmal möchte man morgen aufhören, manchmal bis 100 arbeiten." Henry Meinhardt ist 62 Jahre und arbeitet sein ganzes Berufsleben auf dem Bau. Der Vorarbeiter bei MTT Hoch- und Tiefbau aus Münchenbernsdorf im Kreis Greiz hat noch zwei Jahre, bis er regulär in Rente geht.

Das wissen die beiden MTT-Geschäftsführer Mike Roßmann und Stefan Werber nur zu gut. Jeder vierte ihrer 79 Mitarbeiter ist 60 Jahre oder älter, zehn sind über 63 Jahre. Es gebe quasi keine neuen Bewerber, sagt Werber. Weder für eine Stelle als Azubi, noch von Geflüchteten oder von Menschen, die nicht mehr pendeln wollen.

Welche Thüringer Regionen die verstärkten Renteneintritte am stärksten trifft Die verstärkten Renteneintritte in den kommenden Jahren sind nicht nur über die Branchen unterschiedlich verteilt, auch die Thüringer Landkreise sind unterschiedlich betroffen.

Einen besonders großen Ü60-Anteil auf dem Arbeitsmarkt weisen der Saale-Orla-Kreis (14,2 Prozent), Suhl (14,1), die Landkreise Hildburghausen (13,8), Saalfeld-Rudolstadt (13,7) und Greiz (13,6) sowie der Kyffhäuserkreis (13,6) auf.

Studie: 250.000 Fachkräfte fehlen bis 2035 in Thüringen

Was die beiden 51-Jährigen erzählen, bestätigen Zahlen und Studien. In Thüringen werden bis zum Jahr 2035 bis zu 250.000 Fachkräfte fehlen, so heißt es in einer in diesem Jahr erschienen Studie im Auftrag des Thüringer Arbeitsministeriums und der Agentur für Fachkräftegewinnung (Thaff).

Zwei Entwicklungen verstärken diesen Effekt. Einerseits verliert Thüringen nach Vorausberechnungen bis Mitte der 2030er-Jahre rund 200.000 Einwohner. Zum anderen schlägt die Verrentungswelle in den nächsten Jahren massiv zu.

Der Bundesagentur für Arbeit zufolge waren 2023 bundesweit circa zehn Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten über 60 Jahre alt. In Thüringen waren es sogar 12,1 Prozent. Das Problem ist, dass diese fehlenden Beschäftigten rein demografisch nicht eins zu eins ersetzt werden können, weil zu wenig junge nachrücken.

Zum Fachkräfte-Problem kommt die Rentenwelle

Doch nach Einschätzung von Andreas Knuhr von der Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung (Thaff) haben sich die Unternehmen im Freistaat noch "nicht in der Masse" auf das Problem eingestellt. Mittlere und größere Unternehmen würden sich oft schon ganz gut auf die Verrentungswelle vorbereiten, bei kleineren Betrieben gebe es eher Probleme.

"Teilweise gibt es Unternehmen, die noch nicht ganz wissen, welche Welle auf sie zurollt", berichtet er. Zwar sei zuletzt die Beschäftigungsquote älterer Menschen auch in Thüringen gestiegen. Trotzdem planten laut Knuhr in der nach 1945 geborenen Generation der Babyboomer rund 70 Prozent vor Erreichen der Regelaltersgrenze in den Ruhestand zu gehen.

Bis 2030 prognostiziert die Studie, dass die Beschäftigungszahlen drastisch um bis zu einem Drittel sinken. Doch auch wenn das Problem erkannt ist, sind Gegenmaßnahmen nicht einfach.

Zum Aufklappen: Was ist die Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung?

Die Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung (Thaff) ist eine Einrichtung des Landes und versteht sich als zentrale Anlaufstelle für alle, die in Thüringen arbeiten und leben möchten, sowie für Thüringer Unternehmen, die Unterstützung benötigen, um Fachkräfte zu gewinnen oder zu binden. Die Agentur ist Teil der Landesentwicklungsgesellschaft. Mehr dazu gibt es hier.

Angesichts ausbleibender Bewerber könnten Unternehmen nach Auffassung der Thaff neben Beschäftigten ab 50 oder 55 Jahre auch Pendler, einst Weggezogene, Zeitsoldaten, Menschen aus dem Ausland oder Schüler mit keinem oder schlechtem Abschluss in den Fokus nehmen. "Es kann doch jemand, der seinen Schulabschluss nicht geschafft, trotzdem mit Unterstützung seinen Berufsabschluss schaffen", sagt Andreas Knuhr von der Thaff.

Bei MTT ist man sich dem nur zu sehr bewusst. Das Bauunternehmen schaltet Anzeigen bei Google, ist in den sozialen Kanälen aktiv und auf Messen vertreten. Natürlich sei auch das Lohnniveau gestiegen. 2.000 Euro netto sind laut Werber die Untergrenze für Mitarbeiter, die Löhne hätten sich im Schnitt fast verdoppelt. Für Werber steht auch fest: "Die Zeiten sind vorbei, wo du im Handwerk nichts mehr verdienst". Doch neue Mitarbeiter kamen kaum.

Mit Firmenkäufen das Fachkräfte-Problem gelöst - zunächst

Stattdessen fand das Unternehmen einen anderen Weg, der sich als erfolgreich herausstellte: In den vergangenen Jahren kaufte MTT fünf andere Bauunternehmen aus der Region auf, weil diese insolvent waren oder keinen Nachfolger für die Geschäftsführung fanden.

Der wichtigste Grund für die Übernahmen: Die Mitarbeiter: "Die Firmenkäufe waren billiger als neue Mitarbeiter zu rekrutieren", bilanziert Roßmann. Zumal es keine anderen Interessenten gegeben habe. Doch klar ist für die beiden Geschäftsführer: Wenn ein Mitarbeiter geht, sei die Stelle wahrscheinlich weg, weil nicht wiederzubesetzen.

Die Firmenkäufe waren billiger als neue Mitarbeiter zu rekrutieren.

Mike Roßmann Geschäftsführer MTT Hoch- und Tiefbau aus Münchenbernsdorf

Dabei sei es gar nicht das größte Problem, neue Bauarbeiter zu finden, wie Roßmann berichtet: "Vor allem bei verantwortlichen Positionen wie Polier, Bauingenieur oder Betriebsleiter ist es eine Katastrophe".

Ein Bauarbeiter bohrt in eine Wand / Henry Meinhardt, Vorarbeiter beim Bauunternehmen MTT Hoch- und Tiefbau aus Münchenbernsdorf im Kreis Greiz.
Henry Meinhardt legt historische Wände an Schloss Osterstein hoch über Gera frei. Er ist Vorarbeiter beim Bauunternehmen MTT Hoch- und Tiefbau aus Münchenbernsdorf im Kreis Greiz. Bildrechte: MDR/Robert Mailbeck

Aus dem Hoch- und Tiefbau-Betrieb in der Nähe von Gera wurde mit den Übernahmen eine Unternehmensgruppe mit 79 statt einst 45 Mitarbeitern, darunter zwei Azubis. Dazu investierte MTT stark in Technik - ob Radlader, Bagger, Laubbläser - um die Arbeit, wo es geht, leichter und effizienter zu machen. Dazu entstand für die Mitarbeiter ein vollautomatisiertes, personalisiertes Verleihsystem für Werkzeuge oder Materialien - nachdem der Chef des Lagers gekündigt hatte.

Doch das Problem der älter werdenden Mitarbeiter ist bei MTT nur verschoben. Wie es in einigen Jahren weitergeht? Stefan Werber hält nicht hinterm Berg: Vielleicht eine neue Übernahme, aber ebenso sei ein "planmäßiger Rückbau" möglich. "Wir müssen uns einfach an die neue Situation gewöhnen", stimmt Roßmann zu.

Teilweise gibt es Unternehmen, die noch nicht ganz wissen, welche Welle auf sie zurollt.

Andreas Knuhr Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung

"Das Fachwissen und die praktische Erfahrung, die gerade ältere oder langjährige Beschäftigte mitbringen, ist nicht einfach zu ersetzen", sagt Knuhr von der Thüringer Fachkräfte-Agentur. Das sei ein riesiges Problem, stimmt Bauunternehmer Werber zu. Zumal Mitarbeiter auch teils kurzfristig kündigen und alle Planung über den Haufen werfen.

Engpässe in vielen Branchen

Das Problem trifft aber längst nicht jeden Arbeitgeber gleichermaßen. Laut der Bundesagentur für Arbeit bedeutet ein hoher Anteil älterer Beschäftigter nicht automatisch auch, dass dort auch ein Fachkräftemangel bevorsteht. Beispielsweise gibt es für einige Berufe kein Bedarf an neuem Personal, da diese Berufe schlicht aussterben oder die Digitalisierung die Lücke schließt.

Die Arbeitsagentur hat daher eine Engpassanalyse derjenigen Berufe erstellt, in den heute schon ein Fachkräftemangel herrscht und absehbar ist, dass demnächst viele in Rente gehen - in denen es also in den nächsten Jahren noch schlimmer wird als sowieso schon.

Ganz oben auf dieser Liste stehen in Thüringen die Pflegeberufe, die Gastronomie, sowie die Lebensmittel- und Genussmittelherstellung. Aber auch die Energietechnik, der Tiefbau oder Arzt- und Praxishilfen werden noch mehr Probleme bekommen als sie sowieso schon haben.

In diesen Berufen herrscht in Thüringen ein Engpass

  • Pflegeberufe
  • Gastronomie
  • Lebensmittel- und Genussmittelherstellung
  • Energietechnik
  • Fahrzeug-Luft-Raumfahrt-, Schiffbautechnik
  • Verkauf von Lebensmitteln
  • Tiefbau
  • Speisenzubereitung
  • Arzt- und Praxishilfe
  • Informatik
  • Klempnerei, Sanitär, Heizung, Klimatechnik
  • Unternehmensorganisation und -strategie
  • Bau- und Transportgeräteführung
  • Körperpflege
  • Verkauf von Bekleidung, Elektro, KFZ, Hartwaren
  • Reinigung
  • Mechatronik und Automatisierungstechnik
  • Metallbau und Schweißtechnik
  • Nicht ärztliche Therapie und Heilkunde
  • Human- und Zahnmedizin
  • Erziehung, Sozialarbeit, Heilerziehungspflege

Es bringt nichts, sich aufzuregen, was nicht geht, sondern man muss sich fragen: Wie kann man die Menschen, die zur Verfügung stehen, in Arbeit bringen?

Andreas Knuhr Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung

160 von 2.000 Mitarbeitern gehen bei der Teag bald in Rente

Zu den großen Thüringer Arbeitgebern gehört das Energieunternehmen Teag. Doch die Energietechnik gehört auch zu den Branchen mit dem höchsten Anteil an älteren Mitarbeitern. Bei der Teag sind Mitarbeiter im Schnitt 16 Jahre im Unternehmen. Rund 2.000 Mitarbeiter arbeiten dort, 160 davon werden in den nächsten drei Jahren in Rente gehen.

Nicht nur deshalb ist "die demografische Entwicklung seit Jahren Thema der strategischen Personalplanung", berichtet Unternehmenssprecher Martin Schreiber. So werde bei jedem Mitarbeiter das mögliche Renteneintrittsalter beobachtet, wurde die Zahl der Azubis erhöht, gibt es Weiterbildungen in der eigenen Teag-Akademie oder Programme, um das Fachwissen ausscheidender Mitarbeiter frühzeitig an Nachfolger zu übergeben.

"Wir schätzen die absehbaren Rentenabgänge bei der Teag als ein eher geringes oder mittleres Risiko ein", berichtet Schreiber. Ein größeres Problem sieht das Unternehmen darin, dass wegen der Energiewende und der zunehmenden Digitalisierung immer mehr spezialisierte Fachkräfte vor allem in der IT nötig seien.

Die Teag setzt auf bundesweite Kampagnen in verschiedenen Medien und Netzwerken, auf Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter-Aktionen, auf Vorteilsprogramme für Beschäftigte oder flexibilisierte Arbeitszeiten.

Wie sich Unternehmen auf die Verrentungswelle vorbereiten können

Doch wie sollen kleinere Unternehmen an das Problem herangehen, die keine eigenen Marketing- und Personalabteilungen haben? Als ersten Punkt schlägt Fachkräfte-Experte Knuhr vor, dass Unternehmen die Altersstruktur ihrer Beschäftigen prüfen und erfassen sollten, wann Mitarbeiter in Rente, aber auch in den vorzeitigen Ruhestand gehen.

Danach sollten Unternehmen schauen, wie sie Mitarbeiter in dieser Altersgruppe "möglichst lange beschäftigen können" oder andere Arbeitnehmer in dieser Altersgruppe für das Unternehmen gewinnen zu können. Das bedeutet, dass der Arbeitsalltag für diese Beschäftigten angepasst werden müsste - unter gesundheitlichen Aspekten oder dass künftig eine Tätigkeit von zwei oder drei Mitarbeitern, die in Rente sind, übernommen wird.

Knuhr berichtet etwa von einem Unternehmen, bei dem ehemalige Mitarbeiter als Springer tätig sind, wenn ein Beschäftigter wegen Krankheit ausfällt. Bei MTT etwa arbeiten vier Beschäftigte über 70 weiter auch in Teilzeit mit, ob als Fahrer, Mechaniker oder Kalkulatoren. Und bei der Teag sind aktuell 14 Mitarbeiter als geringfügig Beschäftigter trotz ihrer Rente weiter aktiv. Tendenz: steigend.

Drittens sollten wie bei der Teag Weiterbildungen angeboten werden, die das Unternehmen auch fördert, damit auch ältere Mitarbeiter weiter für die neuen Anforderungen qualifiziert sind. Dazu gehören auch Präventions- und Gesundheitsangebote. Schließlich müssten flexiblere Arbeitszeitmodelle ermöglicht werden.

Stellen-Aufteilungen oder Vier-Tage-Woche als Optionen

Für Knuhr steht fest: "Es bringt nichts, sich aufzuregen, was nicht geht, sondern man muss sich fragen: Wie kann man die Menschen, die zur Verfügung stehen, in Arbeit bringen." Die Zeiten, dass es nach einer Stellenanzeige 20, 30 Bewerber gibt, seien lange vorbei. Unternehmen müssten flexibler werden und sich den Anforderungen der Arbeitnehmer stellen: "Das ist ein Geben und Nehmen", sagt Knuhr.

Neben der Aufteilung einer Stelle in mehrere Teilzeit-Stellen gibt es für ihn auch noch eine andere Option, wenn es nicht mit neuen Auszubildenden, Rückkehrern oder Mitarbeitern aus dem Ausland klappt. Eine Intensiv-Pflege in einem anderen Bundesland habe eine Vier-Tage-Woche eingeführt - und fand damit die lang gesuchten neuen Mitarbeiter.

MDR (rom)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 18. November 2024 | 19:00 Uhr

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