Bad Lausick "Ich war am Ersticken" - Janetts Kampf gegen die Seltene Erbkrankheit CMT
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04. August 2024, 15:09 Uhr
Janett Werrmann ist mit ihrem Mann früher gerne umhergereist. Sie liebte ihre Arbeit als Pflegerin für Demenzkranke. Doch seit sieben Jahren macht ihr die seltene Erbkrankheit Morbus Charcot-Marie-Tooth (CMT) das Leben zur Hölle. Unerträgliche Schmerzen lassen sich nur schwer betäuben. Aber immer schnellere Entwicklungen im medizinischen Bereich wecken Hoffnungen auf eine Heilung.
Auf dem Balkon zwitschern zwei Wellensittiche in einem Vogelkäfig. "Hansi und Bubi haben wir uns dieses Jahr geholt, nachdem unser Wellensittich Charlie mit 15 Jahren gestorben ist", sagt Janett Werrmann. Die 56-Jährige liegt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer mit hoch gelegten Beinen. Sie trägt eine Sonnenbrille, weil Licht und zu viele Eindrücke sie zu sehr anstrengen. "Wir hatten erst gezögert, ob wir uns nochmal einen Vogel zulegen. Aber als Janett sagte 'Wir machen das', war das ein Lichtblick für mich", sagt Ehemann Tilo, der neben ihr sitzt. Er hält ihre Hand.
Janett Werrmann hat die Erbkrankheit Morbus Charcot-Marie-Tooth, die aktuell unheilbar ist. Die Krankheit an sich ist nicht tödlich, aber Folgeerscheinungen können tödlich verlaufen, etwa wenn die Atmung oder der Herzmuskel beeinträchtigt wird. Die Lebensdauer der Erkrankten ist im Durchschnitt verkürzt.
Meter für Meter aus dem Bett gekämpft
Beim Besuch von Janett Werrmann vor einem Jahr war sie fast komplett ans Bett gefesselt. Meter für Meter habe sie sich seitdem herausgekämpft, erzählt sie. Auch die Atmung habe sich verbessert: "Ich war ja eigentlich schon auf der Bahre. Ich war am Ersticken." Durch Verkrampfungen habe sie bis vor einem halben Jahr den Brustkorb nur schwer heben können.
Auch Mann Tilo erzählt, dass manches für Janett leichter geworden sei: "Vor einem Jahr war sie schwer bettlägerig. Sie ist innerhalb der vier Wände nun aktiver geworden." Tilo lächelt Janett an. Doch meistens wirkt sein Blick ernst und besorgt.
Was ist Morbus Charcot-Marie-Tooth? (zum Ausklappen)
Morbus Charcot-Marie-Tooth (CMT) ist eine seltene Erbkrankheit. Sie wurde nach den Neurologen Jean-Martin Charcot, Pierre Marie und Howard Tooth benannt, die die Krankheit entdeckten. Bei CMT wird durch eine genetische Mutation die isolierende Myelinschicht der Nervenzellen geschädigt. Über diese Schicht, die die Nervenbahnen umhüllt, werden Signale vom Gehirn an Organe und Muskeln weitergeleitet. Die Schädigungen stören jedoch die Signalweiterleitungen.
Das kann je nach CMT-Typ und CMT-Mutation zu teils schwersten Behinderungen führen. So sind manche Erkrankte oft schon im Jugendalter auf den Rollstuhl angewiesen. In manchen Fällen dehnt sich die Nervenschädigung auf die Atemwege aus. Die Folge kann der Tod durch Atemstillstand sein. 20 bis 30 von 100.000 Personen sind von dieser Krankheit in Deutschland betroffen.
Quelle: Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie
Weiterer Gen-Defekt entdeckt
Janett Werrmann wirkt energiegeladener als vergangenes Jahr. Doch das scheint trügerisch: "Mein Körper brennt von oben bis unten wie Feuer. Heute ist ein schlechter Tag." Janett Werrmann nimmt die Sonnenbrille von den Augen und wischt sich die Tränen von den Wangen.
Mein Körper brennt von oben bis unten wie Feuer. Heute ist ein schlechter Tag.
Das seien Symptome eines weiteren Gen-Defekts, den die Ärzte erst dieses Jahr bei ihr feststellten, sagt Janett Werrmann. Unklar sei noch, ob sie ein Medikament gegen diesen Defekt nehmen könne oder ob dieses eventuell zu Nebenwirkungen führt. Die Ärzte seien bisher zurückhaltend gewesen: "Ich fühle mich verlassen."
Eine Krankheit wie ein Chamäleon
Die 56-Jährige hat daneben mit Krämpfen, epileptischen Anfällen und Sprachstörungen zu kämpfen. Sie vergleicht ihre Krankheit mit einem Chamäleon: "Es wandert durch den Körper und greift hier, da und dort an und versteckt sich wieder." Egal bei wie vielen Ärzten und in wie vielen Kliniken sie bisher vorstellig wurde: Helfen konnte ihr niemand. "Man sehnt sich nach etwas, was endlich hilft, damit man noch Mensch bleibt und man nicht nur ruhig gestellt ist."
Suche nach dem Rettungsanker
Während sie spricht, verkrampft sich ihr Fuß und macht zuckende Bewegungen. "Ich kann das nicht kontrollieren", sagt Janett Werrmann. Was ihr Halt gebe, sei der Glaube, zu dem sie zurückgefunden habe: "Ich war vorher abgedriftet. Ich habe mich in meiner Wanne von einem Pfarrer taufen lassen." Für starken Rückenhalt sorge eine christliche Familie aus Bad Lausick, die öfters zu Besuch komme.
CMT-Forschung: Biochemikerin Ignatova zuversichtlich
Gibt es noch schulmedizinische Hoffnung für Erkrankte wie Janett Werrmann? Die Molekularbiologin und Biochemikerin Zoya Ignatova aus Hamburg klingt am Telefon zuversichtlicher als im Interview vor einem Jahr. "Die Forschung geht mit sehr großen Schritten voran. Das Forschungstempo hat sich beschleunigt", sagt Ignatova. "Vor fünf Jahren kannte man nur die Symptome. Heute weiß man sehr gut, was die Krankheit in der Zelle verändert. Man kann nun gezielt arbeiten."
Schnellere Medikamenten-Entwicklung als in den 1990ern
Dabei könne man von anderen Therapieforschungen bei anderen Krankheiten profitieren. "Wir lernen von den anderen. Das hat zu einer wesentlichen Verkürzung der Etablierung der Medikamente geführt", sagt Ignatova. Habe die Entwicklung für ein Medikament in den 1990er Jahren noch 20 Jahre gebraucht, sei es nun deutlich schneller.
Wir erwarten die ersten Medikamente in den kommenden Jahren auf dem Markt oder zumindest in den klinischen Studien.
Für einen CMT-Typen liefen bereits klinische Studien am Menschen, erklärt Ignatova. "Wir erwarten die ersten Medikamente in den kommenden Jahren auf dem Markt oder zumindest in den klinischen Studien", sagt sie. Doch die meisten Medikamente seien immer noch im vorklinischen Stadium, werden also an Tieren und in Zellkulturen getestet.
Verschiedene Ansätze für eine Therapie
Die große Herausforderung: Wegen der vielen CMT-Typen müssen die Forscherinnen und Forscher auf verschiedene Ansätze zurückgreifen. Ignatova kenne sieben Varianten, um gegen die Krankheit vorzugehen. Sie und ihr Team selbst forschen an einer Gentherapie. Aus der Komplexität der Krankheit ergeben sich auch Chancen. "Die Möglichkeit, an mehreren Stellen drehen zu können, ist gut, weil sich definitiv aus diesen verschiedenen Ansätzen ein Medikament etablieren wird", meint die Biochemikerin.
Doch die Hoffnung auf Heilung sei immer ein Blick in die Glaskugel, verdeutlicht Ignatova an einem Problem. Forschungen, die etwa in vorklinischen Studien gut laufen, können in der klinischen Studie zu anders erwarteten Ergebnissen führen. Forscher müssten dann erst nach Lösungen suchen. Ignatova nennt das Beispiel für ein vielversprechendes Medikament, das jedoch Mängel aufwies.
Strenge Vorschriften kosten wertvolle Zeit
Wertvolle Zeit kosteten in Deutschland zudem behördliche Genehmigungen, sagt Ignatova. So seien etwa Vorschriften für Tierversuche sehr streng und dauerten dadurch mehrere Monate länger als in anderen Ländern. Das seien wichtige Monate und Jahre, die den Forschern und Erkrankten verloren gingen. "Experimente mit Tieren macht man ungern. Es gibt jedoch nichts vergleichbares wie Tiere, die den menschlichen Organismus so genau repräsentieren", meint die Molekularbiologin. Weil es hier oft zu langsam gehe, sei Deutschland nicht das bevorzugte Zielland für klinische Studien, sagt Ignatova.
Jeden Tag auch für andere kämpfen
Janett Werrmann sitzt auf ihrem Rollator, ihr Mann Tilo steht neben ihr und legt seinen Arm um sie. Beide schauen vom Balkonfenster ins Grüne. "Hier sehen wir immer mal Eichhörnchen. Wir lieben die Natur", erzählt Janett Werrmann.
Die Bad Lausickerin wolle sich für alle Betroffenen einsetzen. "Ich will, dass für alle, die so krank sind, Hilfe kommt", sagt sie laut und entschlossen. "Es gibt ja im Englischen dieses Wort 'warrior' - Kämpfer. Dieses Wort sage ich mir jeden Tag - 'Ich bin ein Kämpfer. Steh auf! Kämpfe.'"