Duchenne-Muskeldystrophie Kämpferherz: Hans Lühmanns Leben mit einer unheilbaren Krankheit

21. November 2021, 05:00 Uhr

Vor zwei Jahren ist Hans Lühmann im Alter von nur 32 Jahren in Erfurt gestorben. Er hatte Duchenne-Muskeldystrophie, eine unheilbare Erbkrankheit, die ihn die meiste Zeit seines Lebens zum Pflegefall machte. Dass Hans trotz dieses schweren Schicksals ein erfülltes Leben führen konnte, verdankte er seinem Mut, seiner liebevollen Familie, seinen aufopferungsvollen Assistenten und dem Persönlichen Budget – eine bis heute kaum bekannte Errungenschaft des deutschen Sozialstaats.

Ein junger Mann im Rollstuhl. Vor seinem Gesicht ein Joystick, den er mit seiner Zunge steuert. Ein Schlauch führt vom Beatmungsgerät zu seinem Hals.
Hans Lühmann sprühte trotz vieler Rückschläge immer vor Lebensfreude. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

"So eine Diagnose ist nicht zu verkraften, vor allem nicht, wenn die Ärzte über den eigenen Sohn sprechen", erinnert sich Rosi Lühmann zurück. Im Herbst 1991 erfuhr sie zusammen mit ihrem Mann Christian, dass ihr Sohn Hans an Muskeldystrophie Typ Duchenne – eine besonders schwere Form von Muskelschwund - leidet. Hans war damals vier Jahre alt. Den Eltern war aufgefallen, dass ihr Sohn nie rannte oder herumsprang, wie es andere Kinder in seinem Alter tun. Einige Untersuchungen später stand die Diagnose fest, die damals gleichbedeutend mit einem sehr frühen Tod im Teenager-Alter war.

Was ist Duchenne-Muskeldystrophie (DMD)?

Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) ist eine seltene muskuläre Erbkrankheit, die auf dem Fehlen des Muskel-Eiweißes Dystrophin im X-Chromosom beruht. Durch das fehlende Dystrophin wird Muskelmasse im Körper fortwährend abgebaut und durch Fett und Bindegewebe ersetzt. Von der Krankheit sind fast nur Jungen betroffen, da Mädchen die Genmutation durch ihr zweites X-Chromosom in der Regel kompensieren können. Während der Muskelschwund in der Kindheit durch das natürliche Wachstum einigermaßen ausgeglichen wird, führt er nach der Pubertät zu einer fortschreitenden Lähmung sowie eingeschränkter Atem- und Herztätigkeit. DMD hat eine lebensverkürzende Wirkung, die in den vergangenen Jahren durch eine Reihe neuer medizinischer Möglichkeiten reduziert wurde. Lag die Lebenserwartung in den frühen 90er Jahren noch bei etwa 18 Jahren, ist sie inzwischen auf bis zu 40 Jahre gestiegen. Stand heute ist DMD nicht heilbar. Die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V. schätzt, dass es in Deutschland zwischen 1.500 und 2.000 Betroffene gibt. In Thüringen leben derzeit etwa 40 Menschen mit diesem Krankheitsbild.

Ein kleiner Junge klettert in einem Baum.
Hans im Herbst 91: Mit vier Jahren konnte er noch laufen und klettern, auch wenn er oft Hilfe brauchte. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

Nun gibt es zwei Wege mit einer solchen Diagnose umzugehen: verzweifeln oder weitermachen. Familie Lühmann entschied sich zum Weitermachen. "Das Fatalistische war bei uns nie da. Wir dachten immer, wir gehen diesen Weg gemeinsam als Familie. Immer eins nach dem anderen", erzählt Vater Christian, der selbst gelernter Krankenpfleger ist und seinem Sohn Zeit seines Lebens half, mit den immer neuen Problemen, die seine Krankheit verursachte, fertig zu werden.

Denn für viele Betroffene ist das das Schlimmste an der Duchenne-Muskeldystrophie: Mit dem unaufhaltsamen Schwund der Muskeln engt sich der Horizont der eigenen Möglichkeiten immer weiter ein, während die Pflegebedürftigkeit zunimmt. Selbstverständliche Tätigkeiten wie Laufen, Sitzen, Kauen, Schlucken oder auch Atmen werden mit der Zeit immer schwerer, bis sie unmöglich sind. Die psychische Belastung, die damit einhergeht, ist immens und mündet bei vielen Betroffenen in Depressionen und Verzweiflung.

Familie ist alles

Angesichts dessen hatte Hans das Glück, in einer liebevollen Familie aufzuwachsen, die ihn stets unterstützte und die einsetzenden Veränderungen nie dramatisierte. Als Hans 1994 – mit sieben Jahren – seinen ersten Rollstuhl bekam, schoben sie ihn durchs Leben. Als er 2001 zum ersten Mal eine Atemmaske tragen musste, hörten sie ihm aufmerksamer zu, um jedes seiner Worte hinter der Maske zu verstehen. Als er 2003 eine Magensonde gelegt bekam, die ihn künstlich ernährte, kochten sie seine Lieblingsspeisen in winzigen Portionen, damit er sie zumindest auf der Zunge schmecken konnte. Jede Veränderung, wie tiefgreifend sie auch war, und jedes neue Gerät, das Hans half zu überleben, wurde einfach integriert. So war es auch 2010, als Hans seine ersten Pflegeassistenten einstellte: Sie wurden kurzerhand zum Teil der Familie.

Ein Gruppenbild. Ein junger Mann im Rollstuhl in der Mitte, daneben kniet der Vater. Dahinter zwei Frauen und vier Männer unterschiedlichen Alters.
Hans in New York. Neben ihm kniet Vater Christian. Dahinter (v.li.n.re.) die Pfleger Anton, Roland und Jonathan, Mutter Rosie und Schwester Anna. Rechts im Bild Thomas, ein guter Freund der Familie. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

"Nach dem ersten Treffen mit Rosi und Christian im Januar 2010 dachte ich, das ist irgendwas Krummes", erinnert sich Anton Hudakov, der einer der ersten Assistenten war. "Das musste was Krummes sein, denn so viel Liebe und Güte erlebt man sonst nicht." Es war aber nichts Krummes, sondern eine Familie, die gelernt hatte, dass Liebe hilft auch die größtmöglichen Schwierigkeiten zu überstehen. Und davon gab es einige: Immer wieder musste sich Hans Operationen unterziehen.

Eine der schwersten war die Spondylodese-OP 2001. Spondylodese ist eine künstliche Wirbelsäulenversteifung, die normalerweise nur an einzelnen Wirbeln vorgenommen wird, weil mit der OP auch ein erheblicher Teil der körperlichen Mobilität eingebüßt wird. Da sich durch die DMD aber die gesamte Oberkörpermuskulatur abbaut, drohte Hans beim Sitzen in sich zusammenzusacken. Deshalb versteiften die Ärzte in einer aufwendigen OP Hans‘ gesamte Wirbelsäule. 2014 folgte ein ähnlich einschneidender Eingriff: Die Ärzte legten Hans eine Trachealkanüle, über die er künstlich beatmet werden konnte. Da die Kanüle unterhalb des Kehlkopfes lag und die Atemluft nicht mehr seine Stimmlippen passierte, verlor Hans damit seine Stimme. Er bekam einen Sprachcomputer, wie man ihn von Stephen Hawking kennt.

Ein junger Mann im Rollstuhl, davor ein Computer. Ein Schlauch führt vom Beatmungsgerät zu seinem Hals (Trachealkanüle).
Hans zuhause in seinen eigenen vier Wänden. Den Rollstuhl steuerte er über einen Joystick mit der Zunge. Sein Sprachcomputer funktionierte per Augensteuerung. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

"Hans hat jede dieser OPs gewollt. Er war immer ein Kämpfer, er wollte leben", sagt Mutter Rosi. Sie ist überzeugt, die Operationen haben trotz ihrer Folgen erheblich zur Lebensqualität ihres Sohnes beigetragen. Auch Vater Christian hält sie für die derzeit wichtigsten medizinischen Maßnahmen, um bei DMD ein langes Leben zu ermöglichen: "Aus meiner Erfahrung mit dieser Krankheit kann ich allen Betroffenen nur raten: Macht diese OPs und macht sie so früh wie möglich."

Das Persönliche Budget

Überzeugt sind die Lühmanns bis heute auch vom Persönlichen Budget, das 2008 in Deutschland erstmals in eine Testphase ging. "Als wir davon hörten, war uns sofort klar, dass wir das für Hans beantragen müssen", erzählt Vater Christian.

Wie funktioniert das Persönliche Budget?

Das Persönliche Budget ist im Paragrafen 29 des neunten Sozialgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland (§ 29 SGB IX) verankert. Es erlaubt Menschen mit Behinderungen, sich sämtliche Teilhabeleistungen in einem monatlichen Budget auszahlen zu lassen und damit selbstständig tätig zu werden. Wofür das Geld ausgegeben werden kann - ob für Medikamente, Geräte oder Dienstleistungen - wird mit dem zuständigen Rehabilitationsträger (nach § 6 SGB IX) in einer Zielvereinbarung festgelegt. Aus der Zielvereinbarung errechnet sich auch die Höhe des Budgets. Je nach Schwere der Behinderung können das niedrige zweistellige Beträge sein oder in seltenen Fällen fünfstellige Budgets wie bei Hans.

Zwar schien der Gedanke, dass man fremde Menschen dafür bezahlt den eigenen Sohn zu pflegen, zunächst abwegig, aber dadurch gewann Hans trotz höchsten Pflegegrades eine nie gekannte Unabhängigkeit. "Am Anfang kannst du das nicht", erinnert sich Rosi Lühmann, wie zum ersten Mal ein Assistent ihren Sohn pflegte. "Aber als ich mich darauf eingelassen hatte, war es ein Traum. Ich habe realisiert, dass ich nicht Hans' Krankenschwester bin, sondern seine Mama." Auch Anton Hudakov ist von dem Modell überzeugt: "Das Budget ist ein Beweis dafür, dass der Sozialstaat in Deutschland funktioniert. Das ist nicht selbstverständlich, dass wir so etwas haben." 

Ein Junge oberkörperfrei mit Sommershorts und Sandalen. Im Arm hält er einen graubraunen Teddybär.
Hans mit sechs Jahren. Das Laufen fällt schon schwerer, immer wieder braucht er Pausen und setzt sich hin. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

Plötzlich Arbeitgeber

Im Jahr 2010 erhielt Hans Lühmann erstmals ein Persönliches Budget in Höhe von etwa 12.000 Euro. Über die Jahre stieg das Budget, das Vater Christian als Prokurist verwaltete, aufgrund des steigenden Pflegebedarfs an. Im Januar 2019 lag es bei 25.611,73 Euro. Es machte Hans vom Pflegefall zum Arbeitgeber und erlaubte ihm, Assistenten einzustellen.

Über einen Aushang an der Universität wurde zum Beispiel Anton auf den Job aufmerksam. Er hatte damals zwar keine Pflegeerfahrung, aber genug Mut sich auf Hans und die neuen Aufgaben einzulassen. So ging es den meisten Assistenten, die in bis zu sieben Vollzeitstellen bei Hans angestellt waren. „Jeder wurde ein Experte für Hans und seine speziellen Bedürfnisse“, sagt Christian Lühmann. „Wir hatten auch professionelle ambulante Pflegedienste im Haus, aber das was die Assistenten geleistet haben, war auf einem ganz anderen Niveau.“

Warum 25.611,73 Euro nicht viel Geld sind und was Intensivpflege normalerweise kostet

Das Budget von Hans ist aufgrund der schwere seiner Erkrankung besonders hoch gewesen. Die Künstliche Beatmung erhöhte es zusätzlich. Konkret setzte es sich aus vier Teilbudgets zusammen: 17.521,93 Euro für die Behandlungspflege (bezahlt von der Krankenkasse), 901 Euro Pflegegeld (Pflegekasse) sowie 4.390,17 Euro Hilfe zur Pflege und 2.798,64 Euro Eingliederungshilfe (bezahlt vom Sozialamt der Stadt Erfurt).

Wer glaubt, dass 25.611,73 Euro viel Geld sind, sollte sich die Preise von privaten Intensivpflegediensten anschauen. Im Jahr 2018 holte Vater Christian Lühmann Vergleichsangebote für die häusliche Pflege von Hans bei drei Intensivpflegediensten aus Thüringen ein. Diese berechneten allein für die monatliche Behandlungspflege durchschnittlich rund 23.000 Euro und lagen damit rund 31 Prozent über dem gleichen Posten im Budget.

Mit einem ambulanten Pflegedienstleister hätte Hans zudem ständig wechselnde Pflegekräfte und zusätzliche Kosten für nicht vertraglich festgelegte Leistungen, wie etwa Freizeitaktivitäten, hinnehmen müssen. Vor diesem Hintergrund erscheint das persönliche Budget fast wie ein Schnäppchen.

Das "Team Hans", wie es die Nachbarn gerne nannten, leistete weit mehr als die fachliche Pflege, die bei der Körperhygiene und dem Verbandswechsel anfängt und bis zur Betreuung der künstlichen Beatmungsmaschine reicht. Denn in ihren 24-Stunden-Schichten lebten die Assistenten mit Hans zusammen. Sie schauten und diskutierten Filme mit ihm, gingen ins Kino, hörten Musik, ja sie spielten für ihn sogar Playstation-Spiele, bei denen er zuschaute. Sie kochten mit Hans oder bestellten mit ihm Pizza. Sie waren seelischer Beistand, enge Vertraute und manche sind Freunde geworden - beste Freunde sogar wie Anton: "Du erlebst diesen Menschen in jeder Lebenslage, du streitest, lachst und weinst mit ihm."

Ein Jugendlicher mit einem roten Irokesenhaarschnitt.
2003: Hans wird 16 und beginnt kurz darauf eine Ausbildung an einer Sonderschule. Hier ist er schon auf den Rollstuhl angewiesen. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

Mehr als nur Arbeit: Alltag eines Assistenten

Wie intensiv das Verhältnis von Hans zu seinen Assistenten war, lässt sich am besten anhand einer alltäglichen Episode erklären, die sich etwa so im Mai 2018 zugetragen hat. Es ist der Tag, an dem Solo: A Star Wars Story  in die deutschen Kinos kommt.

"I want to run, I want to hide / I wanna tear down the walls that hold me inside", dröhnt es durch die Zwei-Zimmer-Wohnung. Das Album Joshua Tree von U2 ist der Soundtrack zu Hans' Leben. Heute ist ein guter Tag. Anton ist da und am Abend geht es ins Kino zur Premiere des neuen Star Wars Film. Hans hat die Stimme seines Sprachcomputers heruntergepitcht. "Ich bin dein Vater Anton", scherzt er mit einer nach Darth Vader klingenden Stimme. Während beide noch lachen, schiebt Anton die Beatmungsmaschine zurecht, die monoton vor sich hinarbeitet und Hans auch atmen lässt wie Darth Vader.

"So Hans, Schluss mit lustig, jetzt geht’s in den Rollstuhl", sagt Anton. Hans zwinkert einmal und Anton schiebt den Sprachcomputer beiseite. Mit einem kleinen Kran hebt er Hans, der schon angezogen in einem Netz liegt, aus dem Bett. Sorgsam achtet er dabei darauf, dass sich der Beatmungsschlauch nicht verheddert. Ohne Sprachcomputer kann Hans nur noch mit Blicken und durch Schnalzen kommunizieren. Jetzt kommt der schwierigste Teil des Tages: die "Rollstuhl-Action".

Einmal zwinkern heißt ja, zweimal heißt nein

An schlechten Tagen dauert es zwei bis drei Stunden, Hans bequem in den Rollstuhl zu setzen und alle technischen Geräte richtig einzustellen. Es ist eine Detailarbeit, die an Kunstfertigkeit grenzt: Jede Hosenfalte und jede T-Shirt-Naht, jeder Schlauch und jede Steuerungsapparatur muss so ausgerichtet werden, dass es nirgends zieht, klemmt oder drückt und Hans den Rollstuhl problemlos mit seiner Zungensteuerung bedienen kann. Umso bemerkenswerter ist es, dass Anton das an einem guten Tag in einer dreiviertel Stunde schafft.

Heute ist ein guter Tag. Anton liest Hans jeden Wunsch von den Augen ab. "Den Kopf ein bisschen nach links?", fragt er. Hans zwinkert einmal und Anton dreht Hans‘ Kopf vorsichtig etwas nach links und lässt ihn zurück in die Kopfstütze sinken. "So besser?" Hans zwinkert einmal. Einmal zwinkern heißt ja, zweimal heißt nein. Es gibt noch andere nonverbale Kommandos: Rollt Hans die Augen, liegt das Problem woanders, verzieht er das Gesicht, drückt es irgendwo und schnalzt er schnell mit der Zunge, tut es irgendwo weh.

Doch heute gibt es keine Probleme. Es läuft wie ein Länderspiel. Während Anton Stück für Stück den Rollstuhl um Hans herum zusammenbaut (erst PEG-Sonde für die künstliche Ernährung, dann folgen Tisch, Beatmungsgerät, die Steuerelemente und schließlich der Sprachcomputer) führen sie ihr Gespräch über Star Wars weiter. Anton spricht einfach für beide: "Ja ich weiß, dass Kylon Ren ein mieses Schwein ist, weil er seinen Vater umgebracht hat - aber mir geht es um den Schauspieler, den finde ich cool – wie? Was soll das heißen, den darf ich nicht cool finden?"

Wenig später sitzt Hans fertig im Rollstuhl, bereit fürs Kino. Aus den Boxen dröhnt jetzt "You run like a river runs to the sea". Der Song One Tree ist einer der letzten auf dem Album. Es ist ein Song, der Hans immer auch an New York erinnerte. 2015, mit Anton und Schwester Anna zusammen im Madison Square Garden: U2 live – einer der schönsten Momente in Hans' Leben.

Auf der Queen Mary nach New York

"Das Persönliche Budget hat unser Leben als Familie verändert, es hat Hans eine Selbstständigkeit ermöglicht, die wir ihm niemals hätten geben können und es hat dazu beigetragen, dass wir 2015 Hans seinen Lebenstraum erfüllen konnten", sagt Rosi Lühmann. Im Sommer 2015 fuhr Familie Lühmann zusammen mit ein paar Freunden und einem Assistenten-Team auf der Queen Mary II nach New York. Eine Woche hin, eine Woche zurück und dazwischen fünf Tage Big Apple – die Stadt, die nicht nur niemals schläft, sondern auch Kulisse für die tollsten Filme stand. Für den Kinoliebhaber Hans ging damit ein Traum in Erfüllung.

Fröhliche Gesichter: Familie Lühmann bei der Ankunft am Hafen in New York.
Familie Lühmann bei der Ankunft im Hafen von New York: Die einwöchige Überfahrt auf der Queen Marry 2 war nötig, weil Hans samt Rollstuhl und Geräten nicht im Flugzeug reisen konnte. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

Damit das nicht falsch verstanden wird: Das Budget finanzierte nicht die kostspielige Reise, sondern lediglich die Arbeitsstunden, welche die Assistenten auf der Reise leisteten. Die Überfahrt, das Hotel und alles Weitere bezahlten die Lühmanns mit Ersparnissen und geliehenem Geld: "Wir haben uns damals sehr viel Geld geliehen, aber so eine Reise macht man nur einmal im Leben und wir wollten sie unbedingt mit unserem Hänschen machen", erzählt Vater Christian. Außerdem erhielt die Familie Spenden. Ein Zeitungsartikel hatte die Reise von Hans in Erfurt bekannt gemacht und viele Menschen wollten etwas dazugeben. "Das Schicksal unseres Sohnes hat viele Menschen berührt und uns berührt diese Solidarität bis heute", sagt Rosi Lühmann.

Der Tag mit Hans zusammen im Central Park, der Blick vom One World Trade Center, U2 live im Madison Square Garden und die Lichter am Time Square – das alles sind Erinnerungen, die in Geld nicht aufzuwiegen sind. Erinnerungen, die ohne das Persönliche Budget unmöglich gewesen wären.

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Hans Lühmann hat sich trotz Duchenne-Muskeldystrophie 2015 seinen Traum von einer Reise nach New York erfüllt. Möglich war das durch die Unterstützung seiner Familie, Freunde und Pflegeassistenten.

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Die Hand halten

Trotz all der Kraft, die Hans aus solchen unvergesslichen Momenten ziehen konnte, war alles auch immer ein Kampf. Ein Kampf gegen die Krankheit und ein Kampf mit sich selbst. In den Jahren 2018 und 2019 verschlechterte sich Hans' psychischer Zustand spürbar. Manchmal übermannte ihn der Frust über sein Schicksal, manchmal machte ihn seine Hilflosigkeit trübselig. Und manchmal kam die Angst.

Keine Luft zu bekommen – davor fürchtete er sich besonders. Dank Corona können heute wohl mehr Menschen nachvollziehen, wie es ist künstlich beatmet zu werden. Die Abhängigkeit von einer Maschine hat teils gravierende Auswirkungen auf die Psyche eines Menschen. Zwar konnte sich Hans stets darauf verlassen, dass seine Assistenten zur Stelle waren, wenn die Maschine mal Alarm schlug, doch was, wenn doch mal etwas schiefginge? Wenn das eigene Leben an einem Schlauch hängt, reicht allein dieser Gedanke, um eine Angstspirale auszulösen. "Wenn die Angst kam, da hat es schon geholfen, einfach da zu sein und seine Hand zu halten," erinnert sich Anton Hudakov, "zu zeigen, dass man das gemeinsam durchsteht." 

Ein junger Mann im Rollstuhl mit Computersteuerung. Daneben läuft sein Pfleger, ein Mann Anfang 30 mit Vollbart. Im Hintergrund ist ein Park und Hochhäuser zu sehen.
Nicht nur ziemlich beste Freunde: Anton und Hans erkunden 2015 zusammen Manhatten. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

Ausgekämpft

Im November 2019 half aller Beistand nicht mehr. Die Angst, keine Luft zu bekommen, war übermächtig geworden. Mitte November lieferte Christian Lühmann seinen Sohn im Helios Klinikum ein. Die Sicherheit der medizinischen Überwachung linderte die Angst ein wenig. Die Ärzte hatten zunächst nur einen leichten Lungeninfekt festgestellt, trotzdem blieb Hans mehrere Tage im Krankenhaus. Das Zimmer teilte er sich mit seinen Assistenten, die auch nachts im Krankenhaus blieben. Vater Christian, der selbst als Pfleger im Helios Klinikum arbeitet, schaute jeden Tag vorbei, brachte Kaffee und war stets zur Stelle, wenn es an etwas fehlte. Hans schaute Filme, lachte mit seinen Assistenten und zwischendurch schaute mal ein Arzt vorbei. Alles schien zum Normalzustand zurückzufinden.

Ein junger Mann mit einer Beatmungsmaske.
Seit 2001 nutzte Hans immer wieder eine Beamtungsmaske um besser Luft zu bekommen. Zunächst nur nachts, dann auch tagsüber. Schließlich wurde sie 2014 durch eine Trachealkanüle ersetzt. Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

Doch dann, am Tag als Hans eigentlich entlassen werden sollte, kam die Hiobsbotschaft. Die Ärzte hatten doch etwas gefunden: Ein Pilz hatte Lunge und Blut befallen. Mindestens zwei Wochen Infusionstherapie hieß es plötzlich. Mit dieser Nachricht kehrte Hans' Angst zurück, stärker und mächtiger als je zuvor. Sein Herz raste, der Schweiß brach aus. Alles gute Zureden von Christian, Rosi und Anton war vergebens. Die Ärzte verabreichten Hans ein Beruhigungsmittel, doch aus der Angst war längst ein Todeskampf geworden. Sediert von den Medikamenten schlief Hans zwar ein, doch sein Herz schlug weiter, kämpfte wie wild, bis es – geschwächt nach 32 Jahren Duchenne-Muskeldystrophie - kollabierte.

Hans Lühmann ist am Donnerstag, den 21. November 2019 im Beisein seiner Eltern verstorben. Wenige Tage später wurde er im Familiengrab in Neuermark in Sachsen-Anhalt beigesetzt. Sechs seiner Assistenten erwiesen ihm die letzte Ehre und trugen seinen Sarg zu Grabe.

Ein schwerer Neuanfang

"Hans war für mich einer der wichtigsten Menschen", sagt Anton mit erstickter Stimme. Kurz hält er inne, dann spricht er langsam weiter: "Wir Assistenten haben damals nicht nur unseren Arbeitgeber verloren. Ich habe meinen besten Freund verloren."

Anton Hudakov brauchte lange, um über den Tod seines Freundes hinwegzukommen. Monate der Trauer vergingen, in denen er sich auch mit seiner eigenen Zukunft auseinandersetzen musste. Lange dachte er darüber nach, ob er noch einmal in der Pflege arbeiten könnte. Optionen hatte er genug, denn von 2015 bis 2018 absolvierte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Die schlimmsten Jahre seines Lebens, wie er sagt: "Im Krankenhaus ist Pflege Akkordarbeit. Es fehlt die Zeit für menschliche Nähe, die gute Pflege aber ausmacht." Heute arbeitet Anton wieder als Pflegeassistent - bei Vincent Menz. Vincent ist 19 Jahre alt, lebt in Erfurt und hat ebenfalls Muskeldystrophie Typ Duchenne.

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Vincent Menz hat Duchenne-Muskeldystrophie eine seltene muskuläre Erbkrankheit. Dank des persönlichen Budgets kann er trotzdem ein selbstbestimmtes Leben führen. Dabei helfen ihn seine Pflegeassistenten.

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Es geht auch mit weniger

"Was ich aus dem Leben meines Sohnes gelernt habe? Dass jedes Leben es wert ist, gelebt zu werden", sagt Christian Lühmann. "Wenn ich heute all die Selbstoptimierer sehe, dann kann ich nur sagen, es geht auch mit weniger, viel weniger."

Christian Lühmann hilft seit dem Tod seines Sohnes auch anderen Familien bei der Beantragung des Persönlichen Budgets. Unter anderem half er auch der Familie von Vincent. "Es gibt für Menschen wie Vincent und Hans drei Möglichkeiten: Heim, Pflegedienst oder Budget", sagt Christian. "Das Budget geht mit viel Bürokratie einher, das darf man nicht unterschätzen, aber es ist die beste dieser Möglichkeiten und es ist großartig, dass es so etwas in Deutschland gibt."

Ein junger Mann im Rollstuhl mit Beatmungsmaske im Stadtverkehr. Im Vordergrund ein Auto, ringsum Passanten.
Bildrechte: Privat/Familie Lühmann

Hinweis zur Transparenz: Der Autor dieses Textes arbeitete von 2014 bis November 2019 als Pflegeassistent bei Hans Lühmann. Auch er hat damals einen guten Freund verloren.

Quelle: MDR THÜRINGEN/ask

Dieses Thema im Programm: 21. November 2021 | 05:00 Uhr

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