Premiere in Dresden "Wonderful World": Semperoper-Ballett eröffnet neue Spielzeit unter tosendem Applaus
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18. Oktober 2024, 14:32 Uhr
Die neue Spielzeit des Semperoper-Balletts beginnt unter neuer Leitung, Kinsun Chan ist nun Ballettdirektor in Dresden und sucht für das Ensemble nach künstlerischen Herausforderungen. Mit dem Tanztheaterstück "Wonderful World" über eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht, das am Donnerstag Premiere hatte, ist das hervorragend gelungen, findet unser Kritiker.
- Am Donnerstag hat mit "Wonderful World" die neue Spielzeit des Balletts der Semperoper begonnen.
- Darin wird die instabile Bühne zum Symbol für eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht.
- Die Inszenierung zeigt ein Bild voller Hoffnung auf eine bessere Welt und erntete bei der Premiere begeisterten Applaus.
Wenn ein Mann sagt, dass er das Ballett der Semperoper für eins der besten der Welt hält und in einem Gespräch erklärt, die Tänzerinnen und Tänzer dieser Companie durch neue künstlerische Herausforderungen aufblühen und sich entwickeln lassen zu wollen, dann will er Zeichen setzen. Und genau das tut Kinsun Chan, der neue Ballettdirektor der Semperoper mit seinem Einstand.
Ich würde sogar sagen, er setzt ein Ausrufezeichen. Nicht im ehrwürdigen Stammhaus in der Dresdner Altstadt. Sondern gewissermaßen am anderen Ufer, im kleinen Haus des Staatsschauspiels in der Neustadt, wo der Puls des jungen Dresdens schlägt. Und eine alte Hexe, die aus dem Semperoper-Märchenbuch entsprungen scheint, den Abend eröffnet. Als Einlasserin eines Höllenschlunds.
Tanztheater am Puls der Zeit
Die Szene ist eine Diskothek voller exaltierter Nachtgestalten, die laut Programmheft auf Namen wie Chloe, Coco, Ding Dong, Flexy Lexy, Foxxy oder Adelheid die Geile hören und sich auch genauso benehmen. Das eingespielte DJ-Set stammt, wie der gesamte Soundtrack des Abends, von den Schweizer Musikern Hans-Peter Pfammatter und Daniel Steffen und gestattet uns zu erleben, was sich alles an überraschender Artistik von einem klassisch ausgebildeten Tänzerkörper performen lässt.
Spätesten hier muss ein zweiter Name genannt werden. Denn dieses Stück, das seine Uraufführung übrigens schon vor zwei Jahren in St. Gallen erlebte, hat Kinsun Chan zusammen mit Martin Zimmermann kreiert. Ein Choreograph, Bühnenbildner und Performer, der stark vom Zirkus beeinflusst dem Tanz einen speziellen Drive verleiht.
Ein Abend mit Fallhöhe
Doch jede Party findet mal ihr Ende, die richtig wilden meist im Katzenjammer. Und so kommt es auch hier. Respektive der Mann mit dem Hammer betritt die Bühne und schlägt die Pfosten der hydraulisch hochgefahrenen Tanzfläche weg. Die verwandelt sich daraufhin in eine riesige, instabile Scheibe, die in die riskantesten Schieflagen gebracht werden kann.
Die Disco-Gesellschaft rutscht peu à peu in den individuellen Abgrund. Nur eine wild italienisch ins Telefonino plappernde Schöne der Nacht bleibt übrig und wird von einer Horde schwarzer Hoodie-Träger, die nun diese ins Rutschen geratene Welt erobert, faktisch aufgesaugt.
Der Sound wird bedrohlich, der Tanz dystopisch. Da läuft was aus dem Ruder. Menschgetier robbt über den Boden. Ein schwarzer Block firmiert sich und marschiert. Die Anarchie schwenkt ihre Fahne.
Und die alte Hexe, die den Abend und sein jugendlich übermütiges Treiben bislang mit schulterzuckendem Wohlwollen begleitete, schaut aus einer Luke und schwenkt ein weißes Fähnchen. Holt sich später ein Mikrofon und singt mit schrillem Diskant "Wonderful World", diese große Hymne auf die Menschlichkeit, dieses Lied über eine Normalität, die wir uns alle wünschen.
Apokalypse mit Happy End
Doch auf der Bühne wird es erstmal noch schlimmer. Wir erleben einen Totentanz von Menschen und reglosen Puppen, die schließlich in einem großen Haufen lebloser Körper aufgetürmt zusammenliegen und wie in einer von Hieronymus Bosch entworfenen Apokalypse von der Bühne getragen werden. Die sich plötzlich in einen riesigen quadratischen Tisch verwandelt. Zu so einem, an dem die Mächtigen dieser Welt hoffentlich bald über das Ende des unsäglichen Kriegs der Russen in der Ukraine verhandeln werden. Doch das ist nur ein kurzer Moment und vielleicht ja auch nur meine Interpretation.
Auf der Tanzbühne klettern die in ihren schwarzen Hoodies vermummten Gestalten auf diesen Tisch. Erobern sich gleichsam ihre Welt zurück. Kommen zögerlich zueinander, ziehen sich die Kapuzen herunter. Entledigen sich der Hoodies und erkennen sich in ihrer Nacktheit wieder als Menschen. Tanzen so umarmt friedlich ins Bühnendunkel.
Das hätte eigentlich als Schlussbild gereicht, aber da wird's zur Freude der alten Hexe nochmal deutlicher. Ganz zart singt eine der Tänzerinnen im Juventus-Turin-Trainingsanzug jetzt den "Wonderful World"-Song. Eine Kollegin spielt dazu Ukulele und das gesamte Ensemble kommt in knallbunten Trainingsoutfits als die normalen jungen Menschen, die sie sind, zurück auf die Bühne. Und summt mit. Und das ist nach diesem tänzerischen Parforceritt durch unsere ins Wanken geratene Welt kein kitschiges Bild, sondern eins von großer Hoffnung. Dass das Premierenpublikum zum begeisterten Applaus aus den Sitzen riss – absolut zu Recht.
Informationen zur Inszenierung
"Wonderful World"
Tanztheater von Kinsun Chan und Martin Zimmermann
Staatsschauspiel, Kleines Haus 1
Premiere: 17. Oktober 2024
Weitere Vorstellungen (Auswahl):
18. Oktober, 19:30 Uhr
19. Oktober, 19:30 Uhr
9. Dezember, 19:30 Uhr
10. Dezember, 19:30 Uhr
11. Dezember, 19:30 Uhr
und weitere.
Redaktionelle Bearbeitung: hro
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 18. Oktober 2024 | 08:40 Uhr