Ursachenforschung Experte zu Carolabrücke: Sanierung hätte viele Jahre eher kommen müssen
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11. Oktober 2024, 17:56 Uhr
Akribisch sucht Baufachmann Steffen Marx nach der Ursache für den Einsturz eines Teils der Carolabrücke. Die Untersuchungen kommen voran. Eine späte Wartung und eindringendes Wasser mit Streusalz-Rückständen haben wohl mit zum Einsturz eines Brückenzuges geführt. Nach Einschätzung des Experten war die Sanierung des eingestürzten Brückenteils viele Jahre zu spät angesetzt.
Die Sanierungsmaßnahmen der Carolabrücke seien viel zu spät begonnen worden. Das sagt Prof. Steffen Marx von der TU Dresden, der sich seit dem Einsturz der Carolabrücke mit der Ursachenforschung befasst. "Im Nachhinein ist man immer schlauer. Dennoch muss man sagen, dass die Sanierung eher hätte ausgeführt werden müssen - viele Jahre eher", sagte Marx auf Anfrage von MDR SACHSEN.
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Dennoch muss man sagen, dass die Sanierung eher hätte ausgeführt werden müssen - viele Jahre eher.
Kosmetik laut Experten nicht ausreichend
Zuerst die Brücken-Züge A und B zu sanieren, sei jedoch richtig gewesen, da diese vom äußeren Zustand schlechter gewesen seien, als der eingestürzte Zug C, sagte Marx. Jedoch sei eigentlich eine Änderung der Tragstruktur bei der Sanierung nötig gewesen, sagte Marx mit Blick auf die beiden bestehenden Überbauten.
Die hätten nur einen neuen Anstrich bekommen, so der Brücken-Experte. Das sei so, als würde man lange Zeit die Farbe für den Anstrich des Gartenzauns sparen wollen und ihn dann anstreichen, wenn der innerlich vergammelt ist.
Die Erneuerung von Abdichtung, Entwässerung, Kappen und Fahrbahnbelägen sei eine wichtige und richtige Maßnahme, um Schäden an der Brücke - zum Beispiel Korrosion - zu stoppen. Dadurch werde die Tragkonstruktion der Brücke jedoch nicht besser. Ist der Stahl im Inneren der Brücke beschädigt, könne dieser nicht ausgetauscht oder repariert werden.
Schäden an Brücken nach 30 Jahren auffällig
Man müsse Brücken regelmäßig abdichten, reinigen und den Korrosionsschutz erneuern, so Marx. Ansonsten müsse nach spätestens 30 Jahren mit Schäden gerechnet werden, deren Behebung teurer werde, als eine regelmäßige Wartung. Dass der Stahl im Innern der Brücke teilweise rostete, führt Marx auf eine Chlorid-Reaktion zurück - etwa durch eindringende Streusalzlösung. Untersuchungen ergaben ferner, dass etwa 30 bis 40 Prozent des Stahls bereits beim Einbau mutmaßlich Schäden aufwies - etwa kleinere und kaum sichtbare Anrisse.
Mittlerer Brückenzug wohl nicht zu halten
Der mittlere Brückenzug B der Carolabrücke wird Marx zufolge nicht zu halten sein. Der Zug B sei während des Einsturzes des Brückenzuges C außergewöhnlicher Belastung ausgesetzt gewesen, da die Brückenteile miteinander verbunden waren.
Marx forscht mit seinem Team seit dem Tag des Einsturzes nach den Gründen und hat sofort nach dem Einsturz Beweise gesichert, wie etwa abgerissene Stahlteile mit und ohne Rostspuren. Zum Zustand des Brückenzugs A wollte sich Marx noch nicht festlegen und verwies auf weitere Untersuchungen. Eine zeitnahe Freigabe schließt er aber aus.
Über Abriss der gesamten Carolabrücke nicht leichtfertig entscheiden
Marx verweist darauf, dass der Neubau der drei Brückenzüge mit schätzungsweise insgesamt 90 Millionen Euro zu Buche schlagen würde. Deshalb werde nicht leichtfertig über einen Abriss entschieden. Mit magnetischen Prüfverfahren wollen die Wissenschaftler den nicht zugänglichen Stahl in den noch stehenden Brückenteilen untersuchen, um dessen Zustand und eventuelle Schädigungen zu beurteilen. Anfang Dezember könnten erste Ergebnisse vorliegen, hieß es.
Brücke mit Straßenbahngleisen höher belastet
Grundsätzlich sei die bisherige Belastung des eingestürzten Brückenzuges mit den Straßenbahngleisen höher gewesen als die der beiden Straßenbrücken, erläuterte Marx. Die Straßenbahnschienen waren direkt mit dem Spannbeton der Brücke verbunden, sodass sich die Kräfte von fahrenden Bahnen direkt auf die Brücke auswirkten. Auf ein Schotterbett war auf der Brücke verzichtet worden. Die Asphaltschicht der Straßenbrücken habe hingegen den Beton geschützt.
Debatte in Berlin angekommen
Die sächsischen Bundestagsabgeordneten Paula Piechotta (Bündnis 90/Die Grünen), Kathrin Michel (SPD) und Torsten Herbst (FDP) haben für den Mittwoch, 9. Oktober, mittags zu einem fraktionsübergreifenden Austausch Bundestagsabgeordnete eingeladen, bei dem Experte Marx über seine Erkenntnisse sprechen wird. Auch Dresdens Baubürgermeister Stephan Kühn (Grüne) will über den Sachstand berichten.
Zentrale Fragen sollen sein, ob und wie Prüfmethoden angepasst werden müssen, um den Sanierungsbedarf und die Einsturzgefahr von (Spannbeton-)Brücken frühzeitig zu erkennen. Und welche Folgen hat der unerwartete Einsturz der Brücke in Dresden für Verantwortungsträger auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene?
Brücken aus den 1960er- bis 1980er-Jahren zeigen keine Risse
Brückenbaufachmann Marx verweist auf die Bauweise von Stahlbetonbrücken in den 1960er- bis 1980er-Jahren, die sich in der DDR und in der BRD geähnelt hätten. Man habe seinerzeit beim Brückenbau auf Stahl mit besonderer Festigkeit als Haupteigenschaft gesetzt. Darunter leide die Dehnungsfähigkeit bei steigender Empfindlichkeit gegen äußere Einwirkungen. Fachleute sprechen von "Spannungsrisskorrosionsgefahr". Marx zieht hierbei den Vergleich zwischen einem sensiblen Rennpferd und einem robusten Ackergaul.
Heutige Betonbrücken seien zudem so konstruiert, dass etwaige Schäden frühzeitig durch Risse sichtbar werden. Bei älteren Brücken sei das nicht der Fall, weshalb die Carolabrücke plötzlich und ohne Vorwarnung kollabieren konnte. Er selbst habe trotz dieses Fachwissens zunächst an eine Falschmeldung geglaubt und selbst als er wenige Stunden später auf den Brückenresten stand kaum fassen können, dass Brückenzug C tatsächlich eingestürzt war.
MDR (lam/phb)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Dresden | 08. Oktober 2024 | 05:30 Uhr