Altenberg "Mutti muss nicht umziehen" - Große Erleichterung nach kurzfristiger Kündigung des Pflegedienstes
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03. Juni 2024, 06:00 Uhr
Christiane Weickert ist eine taffe Frau, die so leicht nichts aus der Bahn wirft. Doch als vor sechs Wochen der Pflegedienst den Betreuungsvertrag für die Demenz-WG ihrer 93 Jahre alten Mutter kündigte, war das ein riesen Schock. Auch allen anderen von Advita betreuten Pflegebedürftigen in Altenberg bekamen die Kündigung. Für Weickert war klar: Eine Lösung muss her. Nun übernimmt ein Mann aus Altenberg den Pflegedienst im Ort.
- Schnell wich der Schock über die Kündigung Tatendrang und der Suche nach Lösungen.
- Ein Altenberger übernimmt den Pflegedienst in seinem Heimatort.
- Christiane Weickert will anderen in ähnlichen Situation Mut machen.
"Meine Mutti ist einfach nur zum Liebhaben, die beste Mutter der Welt", erzählt Christiane Weickert und streicht der alten Dame neben ihr liebevoll über die runzlige Wange. Fast täglich besucht sie ihre an Demenz erkrankte Mutter in der Demenz-WG. Die zierliche 93-Jährige sortiert konzentriert bunte Plastik-Puzzleteile nach Farben. Gelegentlich blickt sie auf und lächelt.
Sie ist schwer hörgeschädigt, spricht nicht, kann aber ihrer Tochter von den Lippen ablesen. Von der Aufregung der vergangenen Woche scheint sie nicht viel mitbekommen zu haben. Auch nicht, wie sehr ihre Tochter für sie und all die anderen Pflegebedürftigen in Altenberg nach Lösungen gesucht hat, denen überraschend die Pflegeverträge gekündigt wurden.
Sechs Wochen Zeit für Suche nach Alternativen
Vor anderthalb Monaten kündigte der deutschlandweit tätige Pflegedienstleister Advita die Verträge für Pflegebedürftige in Altenberger Demenz-Wohngemeinschaften mit einer Frist von sechs Wochen. Betroffen waren auch Menschen im betreuten Wohnen und Patientinnen, die in ihren eigenen Wohnungen ambulant von Advita versorgt wurden. Christiane Weickert ging das unter die Haut.
Demente Menschen versetzt man nicht einfach so um. Das ist wie mit einem alten Baum.
Die Inhaberin des Altenberger Museumscafés erzählt, dass der Pflegedienst Advita vorgeschlagen habe, ihre Mutter in einer Einrichtung in Kreischa unterzubringen. Für sie stand sofort fest: "Das ist keine Option. Mutti muss bleiben!" Christiane Weickert findet: "Demente Menschen versetzt man nicht einfach so um. Das ist wie mit einem alten Baum." Erst vor vier Jahren hatte die 51-Jährige ihre demenzkranke Mutter aus einem Pflegeheim bei Kreischa nach Altenberg geholt, damit sie sich besser um sie kümmern kann.
Auf Nachfrage von MDR SACHSEN wollte sich Advita nicht zu den Gründen und näheren Umständen äußern. In einem Brief an eine Pflegebedürftige, der MDR SACHSEN vorliegt, schreibt die Leitung: "Trotz größter Bemühungen ist es uns nicht gelungen, die personellen Vorgaben des Gesetzgebers zur Betreuung des Ambulanten Pflegedienstes in Altenberg perspektivisch zu erfüllen."
Schock weicht Tatendrang
Binnen weniger Stunden nach der Kündigung wich der Schock einem ungeheuren Tatendrang. Christiane Weickert kontaktierte die lokale Zeitung und startete dort sowie über soziale Netzwerke einen Hilferuf für die Demenz-WG und alle anderen von Advita betreuten Pflegebedürftigen in Altenberg. Der Beitrag sei in den sozialen Netzwerken "fleißig geteilt" worden. Auch weitere Angehörige hätten nach Lösungen gesucht, erinnert sie sich. "Eines Tages stand dann der Mirko hier bei mir im Café."
Der 47-Jährige hatte in den sozialen Netzwerken von der kurzfristigen Kündigung der Pflegeverträge mitbekommen. Er lebt seit fünf Jahren in Altenberg und betreibt selbst einen Pflegedienst in Dresden sowie die Betreuung einer Wohngruppe in Radebeul. Seit 1993 ist Mirko Junge in der Branche tätig. Schnell war klar, dass er den Pflegebedürftigen in Altenberg und deren Angehörigen mit seiner Expertise helfen kann.
Altenberger gründet neuen Pflegedienst
Innerhalb kürzester Zeit wurden Gespräche mit der zuständigen Pflegekasse geführt, mit Advita sowie den Pflegebedürftigen. Auch ein anderer Pflegedienst, der bereits im Ort aktiv ist, wurde einbezogen. Seit 1. Juni ist Mirko Junge in die Fußstapfen von Advita in Altenberg getreten - zumindest zum Teil. Für die verbliebenen drei Bewohnerinnen und Bewohner in der Demenz-WG und für die 38 Menschen in den altersgerechten Wohnungen ein nahtloser Übergang. Eigenen Angaben zufolge hat Mirko Junge zwölf Angestellte von Advita übernommen, zwei sind neu dazu gekommen.
Ich will Menschen helfen, die Hilfe brauchen.
Mirko Junge geht zunächst mit einer Sondergenehmigung an den Start. Um endgültig die Zulassung für den Standort in Altenberg zu erhalten, müsse er bis zum September in Altenberg einen neuen Pflegedienst gründen. Nicht ganz unkompliziert, aber er will die Herausforderung annehmen. Seine Motivation: "Ich will Menschen helfen, die Hilfe brauchen", sagt er MDR SACHSEN.
Die Pflegefälle, die in der Region ambulant von Advita im eigenen Zuhause betreut wurden, werden Mirko Junge zufolge nach einigen Gesprächen von einem anderen Pflegedienst aus der Region übernommen.
Wohnungen wurden nicht gekündigt
Die Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht in den Demenz-WGs untergebracht sind, leben in eigenen Wohnungen, die sie individuell nach eigenem Geschmack eingerichtet haben. Sie können zusätzlich einen gemeinschaftlichen Essensraum sowie einen Aufenthaltsraum in dem Gebäude nutzen. Die Mietverträge laufen nicht über Mirko Junge, sondern wie auch schon zuvor über eine auf altersgerechte Wohnungen spezialisierte Kapitalgesellschaft mit Sitz in Berlin.
Doch da die meisten auf Pflegedienstleistungen angewiesen sind, dachten viele nach der Advita-Kündigung über einen Auszug nach, einige sind auch ausgezogen. Christiane Weickert wollte den Pflegestandort in Altenberg unbedingt erhalten, nicht nur für ihre Mutter. "Für mich ist ganz wichtig, dass die alten Leute hier in Altenberg ein gutes Zuhause haben, ob nun im betreuten Wohnen oder in den Wohngemeinschaften." In die Suche nach einem Nachfolger hat sie viel Energie investiert, auch weil ihre Mutter sich dort sehr wohl fühle.
Geblieben ist auch Christine Franz. Die 86-Jährige schätzt die Unabhängigkeit der eigenen Wohnung und gleichzeitig die Sicherheit durch den Pflegedienst im Haus: "Es ist schon ein gutes Gefühl, das immer jemand hier ist und man trotzdem in einer eigenen Wohnung lebt."
Die altersgerechten Wohnungen und die Demenz-WGs befinden sich in einem hellen, freundlichen Haus mit Fahrstuhl ohne den typischen Geruch eines Seniorenheims. Die Flure des Hauses sind in modernen Farben gestrichen. Bunte Gemälde zieren die Wände. Gemütliche Sessel stehen vereinzelt in den breiten Gängen.
Neuer Betreiber, neues Konzept
Mit dem neuen Betreiber wird sich einiges ändern. "Ich möchte dieses Haus ambulant versorgen, mit dem Charme, dass meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr bei Wind und Wetter raus müssen, sondern im Gebäude bleiben können", erklärt er. Statt eigener Küche mit eigenem Küchenpersonal wird Essen auf Rädern bestellt. Leistungen wie Pflege am Körper, hauswirtschaftliche und soziale Versorgung können individuell dazugebucht werden. Inwiefern sich die Kosten ändern, wollte er nicht sagen: "Ich weiß ja nicht, was vorher gezahlt wurde", hält er sich bedeckt. Beschwerden habe es jedenfalls nicht gegeben.
Junge mietet nicht das ganze Objekt, sondern lediglich die Büroräume in dem Gebäude, um seinen Pflegedienst zu betreiben. "Ich bin dankbar, dass ich einiges für die Büroeinrichtung von Advita übernehmen darf", erzählt er MDR SACHSEN. Er hofft, dass die Menschen in der Region ihm eine Chance geben.
Anderen in ähnlichen Situationen Mut machen
Mit ihrer Geschichte möchte Christiane Weickert anderen Mut machen, die vielleicht in ähnlichen Situationen sind: "Es gibt immer eine Lösung. Man muss kämpfen, dran bleiben und sich trauen, auch mal an die Öffentlichkeit zu gehen." Sie wünsche sich, dass in das Haus mit dem neuen Betreiber ganz viel Freude einzieht.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalreport aus dem Studio Dresden | 03. Juni 2024 | 14:30 Uhr